Ins Bockshorn gejagt
Lützerath, Cancel Culture und andere Fehlgriffe in der politischen Debatte
Streit in der Bundesregierung? Die einigen sich nicht? Und in den Parteien streiten sie auch? Die einen loben einen Kompromiss zum Stopp des Abbaus von Braunkohle, andere demonstrieren sehr aufwändig und mediengeeignet dagegen. Manchen Medien gefällt solcher Streit. Denn Einigkeit ist keine Nachricht. Streit schon. Und vor allem der Streit, wovor man sich mehr fürchten sollte. Thea Dorn brachte es am 9. Februar 2023 in einem Interview mit Kerstin Decker für den Berliner Tagesspiegel auf den Punkt: „Kaum etwas spaltet eine Gesellschaft mehr, als wenn eine Angstgruppe zur anderen sagt: Unsere Angst zählt, aber ihr mit eurer Angst spinnt doch!“ Ähnlich spaltet der Streit, ob überhaupt und wenn ja wer wem etwas verbieten darf
Ein solcher Diskurs über Politik reproduziert den aristotelischen Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Wo A gilt, kann niemals B gelten. Die einen loben die geschlechtsgerechte Sprache, die anderen halten sie für den Untergang des Abendlandes. Die einen machen Politik für Fahrradwege, die anderen für Autobahnen. Impfen oder nicht impfen? Aber kann es nicht beides geben oder etwas dazwischen? Ein Kompromiss? Kompromisse haben einen schlechten Ruf, der Elefant im Raum ist der „faule Kompromiss“. In taz FUTURZWEI schrieb Udo Knapp am 21. Januar 2023: „Nach Lützerath wird klar: Grüne Realpolitik und ökologischer Aktivismus sind nicht mehr zwei Seiten einer gemeinsamen Sache.“ Entweder das eine oder das andere – liebe Grüne, entscheidet euch! So werden grüne Politiker*innen ständig gefragt, auf welcher Seite sie stünden, und dies in einer Penetranz, die Nachfragende bei anderen Themen vermissen lassen. Hat jemand jemals die FDP gefragt, wie sie zu gewaltaffinen Protesten gegen die Impfpflicht stand?
Irgendwie wirken die genannten sehr deutschen Debatten doch provinziell. Nicht nur im Hinblick auf die Lage in der Ukraine oder im Iran, der zurzeit langsam aus den Nachrichten zu verschwinden scheint. Weder in Lützerath noch auf deutschen Fahrradwegen wird über die Zukunft der freiheitlichen Demokratien entschieden. In einem Land, in dem gestritten wird, ob man sich impfen lassen müsse, fehlt die Debatte darüber, was in Ländern geschieht, in denen die große Mehrheit der Bevölkerung – abgesehen von einigen Eliten – sich nicht einmal impfen lassen kann. Vielleicht lohnt sich der Blick in andere Länder, wie Klimakrise, Gesundheitsvorsorge, Grundversorgung der Bevölkerung dort diskutiert werden, in Pakistan, in Tunesien, in Argentinien und – ja auch dort – in den USA. Die üblichen Alltagsmedien wagen diesen Blick über den deutschen Tellerrand so gut wie nie. Lützerath nahm in der Presse einen Raum ein, der in keinem Verhältnis zu dem Raum steht, den Übergriffe rechter Gruppen erhalten. Und die Grünen waren wieder einmal in der Defensive.
Thorsten Mense überschrieb seinen Leitartikel der Jungle World vom 9. Februar 2023 mit der Warnung „Die Pogrome von morgen“: „Im mecklenburgischen Grevesmühlen versuchte vor zwei Wochen ein Mob von rund 700 Leuten, darunter bekannte Rechtsextreme, den Kreistag zu stürmen, um die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft für 400 Menschen im Nachbardorf Upahl zu verhindern. Vergangene Woche gab es im niederbayrischen Marklhofen innerhalb von 24 Stunden gleich zwei Brandanschläge auf ein noch unbewohntes Zelt für Flüchtlinge in der Ukraine.“ Keine Einzelfälle. Thorsten Mense sieht zwar noch nicht die Dimension der Proteste von 2015 und 2016 erreicht, wohl aber die hohe Eskalationsgefahr sowie das erhebliche Gewaltpotenzial in den Reihen der Protestler*innen, „befeuert von einer rassistischen Notstandspropaganda über angeblich nicht mehr zu bewältigende Flüchtlingszahlen, die bis weit in die bürgerliche Mitte reicht.“ In der CDU warnte Sepp Müller seine Partei davor, auf die nationale Karte zu setzen. Das hätten vielleicht auch andere CDU-Politiker*innen getan, aber offenbar fragte sie niemand. Nur einmal eine geschätzte Zahl: in Lützerath spielten gewalttätige Demonstrant*innen ebenso wie übereifrige Polizist*innen nur eine kleine Rolle, aber in der Presse erschien es so, als wären die Gewalttätigen auf beiden Seiten in der Mehrzahl. Bei Berichten über Demonstrationen gegen Ein- und Zuwanderung verhält es sich umgekehrt.
Mir kam der Gedanke, ob die Aufregung über die Aktivist*innen von Lützerath nicht einer anderen medialen Aufregung vergleichbar wäre, den Debatten um die sogenannte „Cancel Culture“, was auch immer das sein mag. Adrian Daub, 1980 in Köln geboren (Achtung: Millenial!), Hochschullehrer für vergleichende Literaturwissenschaft an der Standford University, hat in seinem Buch „Cancel Culture Transfer – Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“ (Berlin, edition suhrkamp, 2022) schon im Titel den Kern des Problems benannt: „Transfer“! Wie kann es gelingen, dass lokale Ereignisse zu weltpolitischen Bedrohungen aufgebauscht oder sagen wir hochgehypt werden? Es geht – so Adrian Daub – letztlich um „Aufmerksamkeitsökonomie“: „An einem winzigen College in den USA ist schier Unglaubliches passiert. Nun lesen wir davon im Spiegel. Wie gelangte eine Anekdote aus einer Mensa in Massachusetts auf die Seiten des Spiegel? Fast kein Text der Cancel-Culture-Panik macht sich die Mühe, das auszubuchstabieren.“
Manche werden mit Recht fragen, was uns interessiert, was an einem „winzigen College in den USA“ interessiert, wenn dort der berühmte Sack Reis umfällt, aber nicht, was in afrikanischen, asiatischen, südamerikanischen Ländern geschieht. Unsere „Aufmerksamkeitsökonomie“ ist schon sehr wählerisch. Aber eben dies ist das Erfolgsmodell rechtspopulistischer Parteien. Nach der Nacht vom 31. Dezember 2022 auf den 1. Januar 2023 ist es ihnen – und ähnlich denkenden Aktivist*innen anderer Parteien (Stichwort: „Paschas“) nicht gelungen, die Debatte zu migrantisieren. Dennoch funktioniert das Modell, denn sonst wären die aktuellen Umfragewerte der AfD nicht erklärbar. Gideon Botsch äußerte sich im Gespräch mit der taz anlässlich des zehnjährigen Bestehens dieser Partei: „Die AfD hat von einem wahnsinnigen medialen Zuspruch profitiert – denken Sie an die ganze Bereitschaft, die AfD in Talkshows zu lassen. Hinzu kommt, dass die AfD mit echten Medienprofis arbeitet. Viele, die mit der AfD und ihrem Umfeld zu tun haben, haben Meinungsmache von der Pike auf gelernt: (…). Als die AfD und ihr Umfeld gegen ‚unbegleitete minderjährige Geflüchtete‘ agitierten und diese pauschal verdächtigten, ihr Alter zu fälschen, konstatierte die Opferperspektive Brandenburg eine Zunahme der Gewalt gegen Minderjährige. Wir können den kausalen Zusammenhang nicht beweisen, aber die zeitliche Koinzidenz halte ich für keinen Zufall.“
Adrian Daub beschreibt, wie die US-amerikanische Rechte seit mehr als 40 Jahren versucht, jede Politik, die Minderheiten zu Sichtbarkeit und Recht verhilft, zu diffamieren und für sich eine Meinungsfreiheit postuliert, die sie aber den von ihnen kritisierten Liberalen und Linken auf keinen Fall zugestehen will. Das hat schon fast religiös-fundamentalistische Züge: „In Wahrheit sind die Kulturkampf-Anekdoten, die seit einem halben Jahrhundert um amerikanische Campus schwirren, allesamt Produkte eines auf ihre Auffindung und Verwertung ausgelegten Systems.“ Genauso funktioniert der Kampf der Rechten gegen wirksamen Klimaschutz. Und leider halten auch demokratische Parteien die Verhinderung eines Tempolimits für einen Freiheitskampf.
Slavoj Žižek brachte es am 9. Februar 2023 in der Süddeutschen Zeitung auf den Punkt: die Linke ließe sich ins Bockshorn jagen, indem sie nur noch über „Identitätspolitik“ spreche, die Linke kämpfe die falschen Kämpfe. Und er nennt gleich ein weiteres Thema, den „Pazifismus“, der für manche Linke zur DNA ihres Denkens gehört, wie gesagt, wo A ist, könne niemals B sein: „Wissen Sie, was das Ironische am Pazifismus ist? Dass er im falschen Moment die Gefahr des Krieges nur erhöht. Was passiert denn, wenn wir die Ukraine Russland überlassen? Schauen Sie sich an, was passiert ist, als sich Amerika aus Afghanistan, als es sich aus Syrien zurückzog. Die einzige Möglichkeit, wie wir den Frieden bewahren können, ist, wenn wir deutlich machen, dass wir auch für ihn kämpfen, wenn es nötig ist.“ Der Linken gibt er folgenden Rat: „Sie muss vor allem aufhören, andere auszuschließen. Cancel Culture und Identitätspolitik sind doch in Wahrheit Exklusionsmechanismen. Wir müssen wieder zu den großen, inklusiven Visionen zurückkehren. Ganz schlicht gesagt, zu Versprechen von der Art, wir sorgen dafür, dass es allen gut geht und alle glücklich werden können.“
Klimaschutz, Identitätspolitik, Pazifismus – alle drei Themen sind hoch komplex und haben ihre Berechtigung. Diese Komplexität sollten sich auch Liberale und Linke bewusst machen. Zu dieser Komplexität gehört eben auch, dass sie nicht das Spiel der Rechten spielen sollten. Genau davor warnen Autor*innen wie Thea Dorn, Adrian Daub oder Slavoy Žižek. Noch einmal zurück zu Lützerath: die Grünen tun sich einen Tort an, wenn sie sich eine Debatte darüber aufzwingen lassen, was sie von der Performance radikaler Demonstrant*innen halten. Aber dazu ist es jetzt wieder einmal zu spät. Wieder einmal ist es Gegner*innen des Klimaschutzes und den Verharmloser*innen der Klimakrise gelungen, den Klimaschutz an sich zu desavouieren. Die Protestierenden gegen die Unterbringung von Geflüchteten können sich getrost hinter diesem Streit verstecken. Und der Streit um das Gendersternchen geht weiter, auch hier mit der Agenda der Rechten, denen es dort wo sie an der Macht sind spielend gelingt, Menschen vorzuschreiben, was sie lesen und denken sollen und was nicht.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 12. Februar 2023, Titelbild: Hans Peter Schaefer.)