Interessierte Jugend

Was wir aus der neuen MEMO-Studie lernen können

Die Zuordnung von Menschen zu einer bestimmten Generation hat etwas despektierlich Vereinfachendes. Da ist die Rede von den Baby-Boomern, den Millennials oder der Generation Z, auch für die ab 2010 Geborenen gibt es schon einen Begriff, die Generation Alpha. Wahrscheinlich wurden all diese Zuschreibungen von jemand Findigem aus der Marktforschung erfunden. Gerade heutzutage erleben wir jedoch innerhalb jeder einzelnen Generation eine große Vielfalt, weil sich die Persönlichkeit jedes einzelnen Menschen nun einmal aus einer Fülle von Einflüssen zusammenfügt, bei denen die einen mehr, andere weniger deutlich zum Vorschein kommen. Und solche Einflüsse gibt es in unserer Gesellschaft eine ganze Menge.

Gleichwohl ist es legitim, sich einer bestimmten „Kohorte“ – so nennt das die Sozialforschung in einer militärisch anmutenden Diktion – forschend zu nähern. Dann werden Menschen befragt, die sich den Zeitraum ihrer Geburt teilen, es werden Untergruppen gebildet, je nach sozialem oder kulturellem Umfeld, nach Bildungsstand oder wie auch immer. Methodisch dürfte nach wie vor Pierre Bourdieus Standardwerk „La distinction“ (deutsch: „Die feinen Unterschiede“) all diese Studien mit ihren Clusterbildungen beeinflussen, unter denen die SINUS-Milieus vielleicht zu den interessantesten gehören dürften.

Ich schlage vor, dass wir uns einer solchen Reflexion über die fünfte Ausgabe des Multidimensionalen Erinnerungsmonitors, kurz MEMO-Studie nähern, die am 21. Februar 2023 im Berliner Anne-Frank-Zentrum der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Die MEMO-Studien werden von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) finanziert und herausgegeben. Durchgeführt wurden sie vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Gegenstand der Studien war und ist die Erinnerungskultur in Deutschland. Im Unterschied zu den bisherigen vier MEMO-Studien – die erste erschien im Jahr 2018 – handelt es sich um eine Jugendstudie. Diese ist vorerst die letzte MEMO-Studie, sie ist die einzige, die eine bestimmte Alterskohorte untersuchte.

Ergebnis: die jungen Menschen der sogenannten „Generation Z“ sind besser als ihr von älteren Generationen verbreiteter Ruf. Sie ärgern sich über die herablassende Art, in der über sie gesprochen wird. Sie interessieren sich für die NS-Zeit, für die Shoah, sind aber enttäuscht, dass die Gesellschaft, in der sie leben, dies nicht unterstützt. Über 80 Prozent beschäftigen sich mit auch privat dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg. Sie wollen wissen, was die Deutschen in der NS-Zeit über das wussten, was geschah, wie sie dies zulassen konnten. Sie wollen mehr über den Alltag der Zeit wissen, sie wollen mehr Faktenwissen. Wichtig ist ihnen der Bezug zur Gegenwart. Ihre Lernbereitschaft ist hoch, ihre Informationen haben sie zu einem hohen Anteil aus den sozialen Medien.

Gleichwohl gibt es große und systematische Wissenslücken. Etwa die Hälfte der Befragten konnten den Zeitraum der NS-Zeit nicht korrekt benennen. Häufig wird die Schuld am Nationalsozialismus bestimmten Personen, allen voran Hitler, zugeschrieben. Etwa ein Viertel bis ein Drittel konnten nicht sagen, ob ihre Familie zu den Opfern oder zu den Täter*innen gehörte. Die vorangegangenen MEMO-Studien verzeichneten steigende Zahlen der Deutschen, die sich zu den Opfern zählten und behaupteten, dass ihre Vorfahren Jüdinnen und Juden gerettet hätten. Die Einstellungen der befragten jungen Menschen dürfen daher durchaus als Folge der praktizierten Verdrängung älterer Generationen interpretiert werden. Etwa drei Viertel der jungen Menschen widersprechen der Forderung nach einem „Schlussstrich“. Zum Vergleich: in der Allgemeinbevölkerung widersprachen nur etwa 57 Prozent dieser Forderung.

Hohe Bedeutung hat für die jungen Menschen das Lernen am historischen Ort. Sie erleben in Gedenkstätten durchaus so etwas wie Empathieförderung. Der Transfer der durch den Besuch und die Beschäftigung mit Gedenkorten gewonnenen Erkenntnisse in gegenwärtige Zusammenhänge fällt allerdings schwer. Diskriminierung und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werden reflektiert, es fällt ihnen jedoch schwer, die historischen Ereignisse mit den aktuellen Ereignissen in der Ukraine fällt in Zusammenhang zu bringen. Hier fehlen einfach historische Kenntnisse sowie die Fähigkeit, solche Kenntnisse zu kontextualisieren und die spezifische historische Verantwortung Deutschlands zu formulieren.

Die fehlenden Kenntnisse wurden besonders bei einer Frage deutlich. Die jungen Menschen wurden aufgefordert, ihnen bekannte Konzentrationslager zu benennen. Sie benannten Lager in Polen und in Deutschland, in Österreich Mauthausen, aber kein einziges in den ost- und ostmitteleuropäischen Staaten, nicht im Baltikum, nicht in Polen, nicht in Belarus, nicht in der Ukraine, auch nicht in den südosteuropäischen Staaten wie Ungarn, Rumänien und Bulgarien oder im ehemaligen Jugoslawien. Fast drei Viertel kennen Auschwitz, etwa ein Drittel kennt Dachau, etwas weniger Buchenwald, etwa 10 Prozent nennen Bergen-Belsen. Alle anderen Werte liegen deutlich unter zehn, die meisten sogar unter ein Prozent. Die Gewaltgeschichte in Osteuropa, der deutsche Vernichtungskrieg im Osten sind weitgehend unbekannt, Russland und die Sowjetunion werden miteinander verwechselt. Nur etwa ein Prozent kennt die Ukraine als selbstständiges Land. Nur eine Minderheit nahm den russischen Überfall auf die Ukraine zum Anlass, sich intensiver mit der Geschichte der Ukraine beziehungsweise ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg zu befassen.

Diese fehlende Kontextualisierung ist ein Ergebnis der Ignoranz – anders kann ich das nicht nennen – der älteren Generationen, nicht zuletzt der Schulen mit ihrem archaischen Geschichtsunterricht. Lehrpläne, Prüfungsanforderungen für die Abiturprüfung gehen nach wie vor chronologisch vor, sodass bei Zeitmangel die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts, geschweige denn des 21. Jahrhunderts ausreichend Platz findet. Aber es ist ja leider nicht nur der Geschichtsunterricht. Der Sprach- und Literaturunterricht böte auch die eine oder andere Möglichkeit, sich mit der Vergangenheit von Autor*innen und dem Setting von Romanfiguren zu befassen. Und was geschieht in der Fachdidaktik? Es fehlt an jeder systematischen epochen- und raumübergreifenden Aufarbeitung von Themen wie Menschenrechte, Antisemitismus, Rassismus, Völkermord, Klassismus, Nationalismus, Migration, Bedingungen von Friedensschlüssen, Geschichte der Beziehung der Geschlechter, Klimageschichte, der Ernährung, der Art, sich zu kleiden. Stattdessen werden die Epochen nach altem Muster stur abgearbeitet.

Die jungen Menschen mögen ihren Geschichtsunterricht, etwa drei Viertel sagen dies, viele beschäftigen sich mit historischen Themen in der Freizeit, doch spiegelt diese Wertschätzung vor allem ihr Interesse, nicht jedoch das, was ihnen die für die Lehrpläne und den Unterricht zuständigen Erwachsenen bieten. Wenn junge Menschen etwas nicht wissen, ist dies nicht ihre Schuld. Bezeichnend ist, dass viele auf die sozialen Medien angewiesen sind, um sich Informationen zu beschaffen, mit großem Abstand YouTube (insbesondere „MrWissen2go“) und Instagram (insbesondere „ichbinsophiescholl“). Etwas mehr als 40 Prozent schauen Dokumentationen, Spielfilme und Serien, den Schulunterricht nennen nur etwas mehr als 20 Prozent als einen Faktor, der ihnen persönlich weitergeholfen habe. Eine pädagogische Begleitung findet in den genannten informellen Bildungsprozessen natürlich nicht statt, Fehlinformationen und falschen Kontextualisierungen ist Tür und Tor geöffnet.

Etwa zwei Drittel der Befragten sind für die politischen Anliegen unserer Zeit sensibilisiert, für sie ist nach dem Klimawandel Diskriminierung zentrales politisches und gesellschaftliches Anliegen. Etwa ein Drittel der Befragten nennt Diskriminierungserfahrungen, insbesondere Klassismus und Rassismus. Der Bildungshintergrund ist wichtiger als der sogenannte „Migrationshintergrund“. Jonas Rees vom IKG, der die Studie in Berlin vorstellte, wies darauf hin, dass die Frage nach dem Migrationshintergrund mehr über die Gesellschaft aussage als über die Folgen von Migration selbst. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus führt bei einigen auch zu gesellschaftlichem Engagement, immerhin bei einem Fünftel der Befragten.

Es gäbe Hoffnung, wenn diejenigen, die Lehrpläne schreiben, Fortbildung organisieren, dafür sorgten, dass historische und politische Bildung im Kontext gesehen werden, auch im Zusammenhang mit kulturellen Inhalten, beispielsweise in der Literatur, der Sprachwissenschaft (Stichwort: Framing) oder mit der Entwicklung von Religionen. Damit dies jedoch geschieht, müssten sie erst einmal das tun, was sie bisher nicht tun: einschlägige Beschlüsse der KMK (zum Beispiel zum Antisemitismus, zur jüdischen Geschichte, Religion und Kultur, zur Erinnerungskultur, zur Demokratie, zu den Menschenrechten, zu Sinti und Roma) mit ihren zum Teil weitreichenden, aber leider unverbindlichen Empfehlungen ernst nehmen. Diese KMK-Beschlüsse bieten eine Fülle von Anregungen, doch leider werden sie in Lehrplänen, in Abituraufgaben oder in Aus- und Fortbildung weitgehend ignoriert. Zum Gesamtbild der KMK-Beschlüsse gehört leider auch, dass sie in vielen Punkten von anderen Beschlüssen, insbesondere den Einheitlichen Prüfungsanforderungen zur Abiturprüfung (nicht zuletzt zum Fach Geschichte) konterkariert werden. Es hängt an einzelnen engagierten Lehrkräften, für ihre Schüler*innen ein anderes Bild zu zeichnen.

Fazit: Wir erhalten das Bild einer interessierten, geschichts- und politiksensiblen Generation. Sie sind diversitäts- und diskriminierungssensibler als die Allgemeinbevölkerung, auch unabhängig von eigener Diskriminierungserfahrung. Die älteren Generationen tun so gut wie nichts, um diesem Interesse entgegen zu kommen. Anders gesagt: diejenigen, die für die formelle Bildung junger Menschen verantwortlich sind, versagen – auf ganzer Linie.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2023, Internetzugriffe zuletzt am 13. März 2023.)