Iranian Lives Matter

Ein Gespräch mit der Autorin und Journalistin Fahimeh Farsaie

„Als freie Frau? Ja, man hat mich vor die Wahl gestellt, entweder den Vorschriften zu genügen oder gefeuert zu werden. Ich habe mich gegen die Vorschriften entschieden, deshalb bin jetzt eine freie Frau. Und nun? Fragte ich, als wäre ich nicht selbst in exakt derselben Situation. Ich weiß nicht. Sie zuckte die Achseln. Wahrscheinlich nähe ich jetzt wieder mehr oder backe Kuchen.“ (Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran).

Erleben wir zurzeit im Iran eine feministische Revolution? Eine Revolution, die dafür sorgt, dass Freiheit und Vorschriften kein Widerspruch mehr sind? Wie werden die Proteste im Iran in Deutschland wahrgenommen, heute und in der Vergangenheit, denn wir erleben nicht das erste Mal Proteste und Demonstrationen. In der Vergangenheit setzte sich das Regime jeweils durch. Wie sind die heutigen Erfolgsperspektiven? Über diese und Fragen hat Norbert Reichel am 18. Januar 2023 mit der Autorin und Journalistin Fahimeh Farsaie unterhalten. In dem Gespräch haben wir ausgewählte Texte ihrer Bücher angesprochen und zitiert. Die Texte ließen sich – ebenso wie der eingangs zitierte Text aus Azar Nafisis Buch „Lolita lesen in Teheran“ – durchaus unter dem Leitmotiv der derzeitigen Proteste, „Frau – Leben – Freiheit“, zusammenfassen.

Foto: privat

Fahimeh Farsaie lebt seit 1983 in Deutschland. Sie wurde 1952 in Teheran als Tochter eines Kaufmanns geboren, bestand 1970 ihr Abitur und erhielt im selben Jahr den iranischen Fernsehpreis für junge Autoren. 1971 nahm sie ein Jurastudium auf und studierte im Nebenfach Kunstgeschichte. Sie arbeitete für die Wochenzeitung Tamasch. Es war die Zeit der sogenannten „Terroristenprozesse“, die sie in einer Erzählung literarisch bearbeitet und thematisiert hat. Sie wurde verhaftet und 18 Monate im Gassrs-Gefängnis gefangen gehalten. 1973 durfte sie ihr Jurastudium fortsetzen. Sie bestand 1976 ihre Abschlussprüfung.

Publikationen waren nach der Haft nur noch unter Pseudonym möglich. Sie wählte das Pseudonym „Behjart Omid“: „Freude Hoffnung“. Sie arbeitete als Kulturredakteurin für die Tageszeitung Kayan, für die sie 1978 ein Jahr in London verbrachte. 1979, im Jahr der Revolution, kehrte Fahimeh Farsaie zurück nach Teheran, wurde aber unter den neuen politischen Bedingungen entlassen. Sie hatte noch Glück, andere Kolleg*innen wurden verhaftet, gefoltert, ermordet. Die Flucht gelang ihr 1983, sie entging einer neuerlichen Verhaftung, diesmal unter dem Regime Khomeinis. Sie kam über Pakistan nach West-Berlin. Zwei Jahre später wurde sie als Asylberechtigte anerkannt und zog nach West-Deutschland. Seit dieser Zeit lebt Fahimeh Farsaie in Köln.

Eine feministische Revolution?

Norbert Reichel: Ein Schlüsseljahr für den Iran war das Jahr 1979, das Jahr der Revolution. Der Shah verließ das Land, Ajatollah Khomeini kehrte aus dem Exil in Neauphle-le-Château bei Paris zurück. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen dem Jahr 1979 und der Zeit seit September 2022?

Fahimeh Farsaie: Es gibt viele Gemeinsamkeiten, vor allem, dass das Volk nicht mehr mit der Politik der Regierung einverstanden ist. Auch damals gab es einen großen Aufstand. Insofern kann ich sagen, dass auch jetzt die Protestierenden, die Menschen im Widerstand mit der Politik der Regierung nicht einverstanden sind: die Wirtschaft ist in Talfahrt, die Löhne sinken, die Preise steigen. Das Regime hat dem Volk nichts anzubieten. Dies sind die Gemeinsamkeiten der damaligen und heutigen Proteste.

Die Unterschiede liegen in den Parolen und Slogans. Einige wurden aktualisiert, andere neu aufgenommen. Damals gab es die Parole „Brot, Freiheit, Befreiung der politischen Gefangenen“, jetzt steht im Vordergrund die Parole „Frau, Leben, Freiheit“. Damals gab es keine geschlechtsspezifische Parole, das ist heute anders. Heute zeigen sich die Frauen in der ersten Reihe der Proteste.

Norbert Reichel: Wie verhält sich dies zu der großen Demonstration vom 8. März 1979, die auch schon maßgeblich von Frauen organisiert worden ist?

Fahimeh Farsaie: Das war kurz nach der Revolution. Das war der erste Protest, der leider von der Gesellschaft und der Öffentlichkeit nicht unterstützt wurde. Deshalb ist er gescheitert. Die Forderungen, die damals aktuell waren, sind heute immer noch aktuell. Die Frauen gingen damals auf die Straße, weil sie ein selbstbestimmtes Leben führen und vor allem keinen Hijab mehr tragen wollten. Das war eine Aktion gegen die Kleidungsvorschriften der damaligen revolutionären Regierung, die als eine der ersten Maßnahmen Frauen verpflichtete, ein Kopftuch zu tragen. Das Heiratsalter für Mädchen wurde auf neun Jahre heruntergesetzt, die Stimme einer Frau galt vor Gericht nur noch halb so viel wie die Stimme eines Mannes. Dies ist 40 Jahre später immer noch aktuell.

Foto aus dem Iran Journal

Demonstrationen gegen die Verschleierungspflicht sind nichts Neues. Es gab seit einiger Zeit eine neue Frauenbewegung, die sich „Töchter der Revolutionsstraße“ nannte. Junge Frauen hängten ihre Kopftücher an Ästen auf, stiegen protestierend auf Stromkästen und blieben solange dort stehen, bis die Polizei sie festnahm. Für diese Protestaktionen sind aber inzwischen Haftstrafe zwischen zwei und zehn Jahren vorgesehen. Ich habe diesen 40jährigen Kampf für Frauenrechte am 2. Oktober 2022 in einem Essay mit dem Titel „Women’s lives matter“ ausführlich dargestellt. Er wurde im Iranjournal veröffentlicht.

Der Auslöser der aktuellen Unruhen war dann der Mord an der jungen säkularen Kurdin Mahsa (Jina) Amini am 16. September 2022. Sie soll gegen ein Gesetz verstoßen haben, das Irans Präsident Ebrahim Raissi kurz zuvor verschärft hatte. Das ist ein Unterschied zu 1979: eine säkulare junge Frau wurde ermordet. Dies löste landesweite Proteste von Frauen aus. Und das untermauert die feministische Seite der Bewegung. Das liegt auch daran, dass Frauen nicht nur die Hälfte der Gesellschaft ausmachen, sondern die Hauptopfer der anti-feministischen Politik der Mullahs sind.

Norbert Reichel: Das Kopftuch war unter dem Shah eigentlich kein Thema.

Fahimeh Farsaie: Unter dem Shah durften Frauen selbst entscheiden, ob sie einen Hijab in der Öffentlichkeit tragen wollten oder nicht. Der Vater des Shah hatte sogar verboten, Kopftücher zu tragen. Das war ein eklatantes Beispiel dafür, dass die Diktaturen je nach ihrer Ideologie dem Volk etwas aufzwingen wollten.

Norbert Reichel: Es ist in beiden Fällen Zwang. Unter dem Vater des Shah der Zwang, das Kopftuch auszuziehen, unter Khomeini der Zwang es zu tragen.

Fahimeh Farsaie: Auf jeden Fall. Mit Gewalt versucht man, Frauen zu erniedrigen und ihnen eine bestimmte Kleidung zu zwingen.

Norbert Reichel: Die Kleidung war immer wieder und ist auch heute ein wichtiges Symbol in den Protesten. Oder ist sie mehr als ein Symbol?

Fahimeh Farsaie: Es ist mehr als ein wichtiges Symbol. Dahinter versteckt ist die Idee, die Forderung, selbstbestimmt zu leben. Mit den Protesten gegen das Kopftuch zeigen die Frauen, dass sie die Vorgaben der Regierung für den Lebensstil der Menschen nicht akzeptieren.

Norbert Reichel: Nach meinen Informationen sind zwei Drittel der Studierenden im Iran Frauen. Diese Zahl hat mich sehr verwundert als ich sie las.

Foto aus dem Iran Journal

Fahimeh Farsaie: Das stimmt. Die Frauen sind zielstrebig, wollen in der Gesellschaft weiterkommen, obwohl die Politik der Regierung Frauen mehr als Mutter, als Ehefrau, als fromme Muslimin sehen will. Sie sollen keine selbstständige Unternehmerin, Akademikerin, keine Arbeiterin sein. Es ist ihnen lieber, dass die Frauen sich mit dem Haushalt und nicht mit Technologie, Wirtschaft oder Wissenschaft beschäftigen.

Norbert Reichel: Frauen können studieren, aber sie dürfen die Berufe, für die sie studiert haben, nicht ausüben?

Fahimeh Farsaie: Ich habe Jura studiert und wollte Richterin werden. Das war noch unter dem Shah-Regime. Mein Ziel war, etwas mehr Gerechtigkeit in die Welt zu bringen. Es wurde mir klar, dass das schwierig ist. Es war eine Illusion, dieses Ziel über das Jura-Studium zu erreichen. Als ich mit dem Referendariat angefangen habe, merkte ich, dass es nicht möglich ist, meine Ideale umzusetzen, weil die Gesetze einfach ungerecht waren. Abgesehen davon, damals gab es keine Einschränkung. Ich hätte als Richterin oder Anwältin arbeiten können. Es war damals meine persönliche Entscheidung, dass ich nicht als Richterin oder Anwältin arbeitete. Ich habe mich bemüht, als Journalistin Fuß zu fassen, um meine Ziele zu erreichen. Das ist mir auch gelungen.

Unter Khomeini durfte man zunächst auch noch als Richterin arbeiten, aber man durfte als Frau nur noch ausgewählte Familienangelegenheiten bearbeiten. Bei einem Mord beispielsweise durfte eine Frau nicht als Richterin fungieren. Die Politik dahinter war, dass eine Frau nur die Hälfte eines Mannes wert ist. In einem Gerichtsverfahren ist das Zeugnis einer Frau im Vergleich zum Zeugnis eines Mannes nur die Hälfte wert. Wo ein Mann als Zeuge reicht, müssen zwei Frauen auftreten und Zeugnis geben. Sie sind nur die Hälfte wert, in jedem rechtlichen Zusammenhang. Daher konnte man als Frau nicht Richterin werden.

Erfolgsaussichten der Proteste

Norbert Reichel: Würden Sie der These zustimmen, dass wir im Iran zurzeit eine feministische Revolution erleben?

Fahimeh Farsaie: Wir müssen erst einmal darüber sprechen, ob es überhaupt eine Revolution ist oder nur eine Reihe von Protesten. Die Kriterien, nach denen man eine Bewegung eine Revolution nennen könnte, sind meiner Meinung nicht vorhanden. Ich würde von einer feministischen Protestwelle sprechen.

Norbert Reichel: Bei der Erörterung der Frage, ob wir eine Revolution erleben, sollten wir auch über die Rolle der Männer sprechen. Sind Männer solidarisch mit den protestierenden Frauen? Sie sagten, dass die Gesellschaft, ich nehme an vor allem die Männer, sich 1979 nicht mit den Frauen solidarisiert hatten. Das scheint heute ja anders zu sein.

Demonstration vom 8. März 1979. Foto aus dem Iran Journal.

Fahimeh Farsaie: Das ist wahr und macht auch einen Unterschied zwischen den damaligen und den heutigen Protesten aus. Eine Revolution braucht viel Unterstützung aus verschiedenen Schichten der Gesellschaft, meiner Meinung nach auch entsprechende Strukturen, sie braucht eine Partei, eine Organisation, die die Forderungen der Protestierenden umsetzen kann. Wir erleben spontane, dezentralisierte Proteste. Es gibt im Iran keine Presse, die darüber berichtet. Es fehlt meiner Meinung nach an einer Organisation, an Anführer*innen, an Einheit, an den Instrumenten, mit denen man das, was geschieht, als eine Revolution mit Beteiligung der Masse der Bevölkerung bezeichnen könnte. Für eine Revolution fehlen all diese Elemente, die Strukturen.  

Norbert Reichel: Das hört sich nicht sehr optimistisch an.

Fahimeh Farsaie: Ich bin pessimistisch oder ich sage: realistisch. In den letzten 40 Jahren gab es viele Proteste, Rebellionen, aber sie führten absolut nicht zu einer Änderung. Im Jahr 2009 gab es diese Grüne Bewegung, die sogar einen Anführer mit Hossein Mussawi hatte, es gab eine Partei, eine Struktur und eine Organisation, trotzdem wurde dies brutal niedergeschlagen. Das haben wir auch 2019 wieder erlebt, als die Benzinpreise angestiegen waren und Menschen auf die Straße gegangen sind. Insofern kann ich keine positive Diagnose für die heutige Entwicklung geben.

Norbert Reichel: Es besteht die Gefahr, dass das Regime mit seinen repressiven Maßnahmen noch einmal davonkommt?

Fahimeh Farsaie: Meiner Meinung nach ja. Man sieht auch, dass die Proteste abgenommen haben. Nach der Hinrichtung von sechs Demonstranten, die alle junge Männer waren, die nur ein normales Leben führen wollten, haben die Proteste, die Streiks abgenommen. Heute bekommt man nur ab und zu eine Nachricht über Proteste in dem ein oder anderen Viertel. Durch die Repressalien sind inzwischen etwa 500 Menschen ermordet worden, etwa 18.000 Demonstrant*innen festgenommen worden. Alle Schichten der Gesellschaft, vor allem Journalist*innen, sind unter Druck. 29 Journalist*innen sind in Haft, viele Sportler*innen, Musiker*innen, Schriftsteller*innen, Regisseur*innen und Filmemacher*innen.

Willkommen in Deutschland?

Norbert Reichel: Wie bewerten Sie die aktuellen Unterstützungsmöglichkeiten in Deutschland?

Fahimeh Farsaie: Ich finde die politische Unterstützung gut. Frau Baerbock hat angekündigt, dass sie sich auf EU-Ebene dafür einsetzt, die Organisation der Pasdaran auf die Liste der Terrorgruppen aufzunehmen. Das wäre hilfreich. Solidarität von der europäischen Seite, aus Deutschland, ist wichtig, weil die Demonstrierenden und die Menschen in Haft feststellen, dass sie nicht alleine sind. Dazu gehören auch die politischen Patenschaften, die Politiker*innen aus vielen westlichen Ländern, auch aus Deutschland, mit Gefangenen im Iran ins Leben gerufen haben. Die Patenschaften helfen sehr, mit Briefen, die die Pat*innen an die iranischen Behörden schreiben, auch mit der Forderung nach anwaltlichem Beistand. Die Solidarität ist hilfreich, es sind mehr als 250 Politiker*innen, die sich bereiterklärt haben, solche Patenschaften mit Gefangenen zu übernehmen.

Die Kraft der Frauen/Volksbühne Basel. Foto aus dem Iran Journal, Fotograf: Matthias Wäckerlin.

Norbert Reichel: In Ihren Büchern lese ich eine durchaus kritische Sicht gegenüber der sogenannten „Willkommenskultur“ in Deutschland. Ich zitiere aus Ihrem Roman „Die gläserne Heimat“ eine der Szenen, in denen die Protagonistin des Romans, Azar, die in Deutschland Asyl beantragt hat, und Frau Grünberg, die zuständige Sachbearbeiterin, einander begegnen:

„Azar dachte sich, dass Frau Grünberg vor ihr Angst hatte und deshalb ihren Asylantrag ablehnen wollte. Sie fürchtete sich vor ihr. Sie hatte Angst. Obwohl sie alleine war, hatte Frau Grünberg Angst vor ihr. Sie hatte Angst vor ihrer ganzen Existenz, vor ihrem ganzen Dasein. Sie hatte Angst vor einem Leben an ihrer Seite. Sie hatte Angst vor der Kultur, die sie mitbrachte, vor ihren Sitten und Gebräuchen, vor dem Geruch der Gewürze, mit denen sie ihr Essen zubereitete. Sie hatte Angst vor dem Menschen, der mit all seinen Sehnsüchten und Träumen, seiner Intelligenz und seinem Scharfsinn und selbst mit seiner Einsamkeit und Schwäche in ihr lebte. Azar schämte sich, dass sie Frau Grünberg diese Angst bereitete, und hatte Mitleid mit ihr.“

In dem Roman folgt eine Straßenszene in Teheran, die die Angst Azars zeigt, durch die Pasdaran verhaftet zu werden. Die Verhaftung misslingt, weil Azar nicht zu Hause ist.

Fahimeh Farsaie: So ist das. So habe ich das selbst erlebt. Es ist aber noch viel schlimmer. In den 1980er Jahren war es eine Weile so, dass die deutschen Beamt*innen oder Richter*innen, die über ein Asylverfahren zu entscheiden hatten, sich auf den Koran und auf Aussagen hochrangiger Politiker und Geistlicher im Iran bezogen, beispielsweise auf Khomeini oder Montazeri, die gesagt hatten, die Verfolgten dürfen zurückkommen, wenn sie Reue bekunden. Das war ein zentrales Argument der deutschen Verantwortlichen im Asylverfahren, den Betroffenen die Anerkennung zu verweigern!

Norbert Reichel: Das heißt nichts anderes als: Halte dich ruhig, protestiere nicht, passe dich an, dann geschieht dir nichts. Im „Die gläserne Heimat“ gibt es eine längere Szene, in der die Beamtin Frau Grünberg Azar genau dieses vorschlägt, ihr im Grunde vorschlägt, auf Protest und Widerstand, auf ihre Forderung nach Freiheit zu verzichten:

„Frau Grünberg fragte: ‚Ist es nicht so? Warum bekennen Sie sich nicht reumütig und kehren in Ihre Heimat zurück? Bekennen Sie sich zur Reue!“

In „Eines Dienstags beschloss meine Mutter, Deutsche zu werden“ beschreiben Sie eine Szene, wie sie auch heute in Schulklassen immer wieder geschieht. Engagierte Lehrer*innen bitten alle Schüler*innen mit Vornamen aus anderen Ländern, etwas aus „ihrer Kultur“ vorzustellen, im guten Glauben, damit Solidarität zu praktizieren:

„Jedes Mal, wenn Rechtsradikale da und dort Häuser von ‚Ausländern‘ in Brand setzten oder wenn sie Nicht-Deutsche auf der Straße mit dem Baseballschläger traktierten, dass diese nach ein paar Tagen im Krankenhaus starben, planten die Lehrer Aktionen, durch die sie den ‚ausländischen‘ Minderheiten ihre Unterstützung zeigen und zur ‚Multikulturalisierung‘ der deutschen Gesellschaft beitragen wollten. Dann wurden wir, das heißt Fatma, Mirel, ich und noch einige Schüler aus der Türkei, Griechenland oder Spanien beauftragt, den anderen unsere Kultur zu präsentieren.“

Ich weiß gar nicht, ob ich das Verhalten dieser subjektiv sicherlich wohlmeinenden Lehrer*innen naiv, fahrlässig oder ignorant nennen soll.  

Fahimeh Farsaie: Wahrscheinlich von allem etwas. Diese Szenen habe ich ganz bewusst und mit Absicht kritisch so dargestellt, mir Ironie und drastischen Bildern, damit sich die Leser*innen gut vorstellen können, was da geschieht.

Norbert Reichel: Sie haben literarische Texte geschrieben, mit autobiographischem Hintergrund, fiktive und reale Situationen miteinander verknüpft und verarbeitet, um so zu zeigen, dass es sich bei Ihren Schilderungen nicht um Einzelfälle handelt, sondern um typische Beispiele für die gesamte Situation in der Diktatur, die im Iran herrscht. Sie zeigen ebenso, wie sich die deutsche Bürokratie, die deutsche Justiz, die deutschen Schulen gegenüber der Realität in Diktaturen verschließen. Während die Lehrer*innen wohlwollend das Thema verfehlen, machen sich die Behörden sogar zu Erfüllungsgehilfen einer Diktatur.

Die Geschichte von „Eines Dienstags beschloss meine Mutter, Deutsche zu werden“ arbeitet mit den Mitteln der Satire. Sima Khanoom, die Hauptperson und Mutter der Familie, ist es einfach leid, dass sie ohne deutschen Pass immer wieder auf Probleme trifft, die sie mit Pass glaubt lösen zu können. Abbas Agha, der Vater, lehnt in seinem nationalen Selbstbewusstsein den Wunsch seiner Frau ab, verändert sich aber auch, wird nachher vom Anhänger von Marx und Lenin zum Sufi und zum Derwisch, während die Mutter auf dem Wege zum Deutsch-Werden anfängt, deutsche Gerichte zu kochen, deutsches Fernsehen zu konsumieren, Fußball zu schauen und sogar einige Ansichten äußert, die manche Deutsche gegenüber Menschen so im Alltag aus anderen Ländern so äußern. Roya, die Tochter und Erzählerin, sagt an einer Stelle:

Die politischen Spitzenfunktionäre Deutschlands hielten unsere Wohnung besetzt.“

Das ist die eine Seite. Die andere zeigt, wie absurd sich gerade auch die Deutschen verhalten. Wir erleben Deutsche, die sich von ihrem Deutsch-Sein distanzieren und Sima Khanoom in ihrem – so würde man heute sagen – „woken“ Verhältnis zur Welt dringend raten, „ihre eigene Identität zu bewahren.“ Das macht Sima wütend:

Sima Khanoom verwandelte sich, wenn sie mit den Deutschen über das Thema ‚Iran‘ sprach, jedes Mal in eine Nationalistin à la Abbas Agha.“

Eigentlich verstehen die Deutschen gar nichts, sogar die wohlmeinenden. Niemand bemüht sich, sich in die Lage eines Menschen, der vor Verfolgung, Folter, Haft und möglicherweise sogar Ermordung seine Heimat verlassen musste, hineinzuversetzen. Eine deutsche feministische Aktivistin hält ein Halstuch für ein abgenommenes Kopftuch, fragt die Mutter, ob ihr Mann wisse, dass sie in der Öffentlichkeit das Kopftuch abnehme und ob sie sich wirklich sicher wäre, dass ihr Mann nicht doch noch eine Frau im Iran habe. Sie gibt ihr die Telefonnummer einer Frauenselbsthilfegruppe.

In den Roman haben Sie im Grunde alles hineingepackt, was in einer Familie geschieht, die aus politischen Gründen nicht in ihre Heimat zurückkehren kann, die gerne in Deutschland leben möchte, dabei aber immer wieder auf Unverständnis, Missverständnisse und Ablehnung stößt.

© Tala Hariri

Fahimeh Farsaie: Es ist die Geschichte einer Familie, die seit Jahren mehr oder weniger friedlich in Deutschland lebt, bis zu diesem Tag, an dem die Mutter erklärt, dass sie Deutsche werden möchte. Es geht darum, was diese Absicht in der Familie auslöst. Das ist der Inhalt des Buches. Es gibt mit der Tochter und dem Sohn zwei Protagonist*innen, die zur zweiten Generation der aus dem Iran emigrierten Community gehören, sowie die beiden Eltern, die Mutter und der Vater als Vertreter*innen der ersten Generation. Der Vater ist von Anfang an gegen den Wunsch seiner Frau, Deutsche werden zu wollen und ihre Identität als Iranerin abzugeben. Die Hauptfigur in dem Roman, die Ich-Erzählerin, Roya, ist die Stimme der zweiten Generation. Ich wollte es nicht aus der Sicht meiner Generation, der ersten Generation der in Deutschland eingewanderten Iraner*innen erzählen. Aus der Sicht der ersten Generation könnte die Geschichte auch gar nicht erzählt werden, weil ich den Abstand zur Situation nicht halten kann.

Roya versucht, in den Auseinandersetzungen in der Familie die Rolle einer Vermittlerin zu übernehmen. Der Bruder, der so etwa 17 oder 18 Jahre alt ist, hier in Deutschland geboren, will mit der persischen Kultur gar nichts zu tun haben. Er definiert sich als deutscher Junge, aber die Gesellschaft akzeptiert dies nicht. Er bleibt immer der Iraner, der Nicht-Deutsche, der Ausländer. Daraus ergeben sich dann weitere Konflikte. Auch Royas deutscher Freund Peter verhält sich auffällig. Er verwechselt Arabisch und Farsi und verlangt von Roya in seinen erotischen Fantasien, sich wie eine Schahrzad zu verhalten.

Norbert Reichel: Er stellt sich den Iran als eine Erzählung aus 1001 Nacht vor. Das ist im Grunde „Orientalismus“ pur, so wie Edward Saïd es beschrieben hatte. Ich verstehe die beiden Romane als zwei Seiten einer Medaille. In „Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden“ beschreiben Sie die Widersprüche, wie sie sich nach der Ankunft in Deutschland ergeben und die sich für die vier Mitglieder der Familie unterschiedlich auswirken und das mit einer Langzeitwirkung. In „Die gläserne Heimat“ ist Azar die Hauptperson, die den Weg und die Zeit ihrer Flucht ausführlich beschreibt, auch die Situation im türkischen Gefängnis, einer Etappe dieser Flucht, die sexuelle Erpressung durch den türkischen Aufseher im Gefängnis, der droht, sie an die Pasdaran auszuliefern, wenn sie ihm nicht zu Willen ist. In „Die gläserne Heimat“ haben Sie die Geschichte der Emigration aus dem Iran in der Rückschau der Protagonistin erzählt, es ist die Geschichte der ersten Generation. Azar hat keine Familie in Deutschland, sie hält sich in ihrer Wohnung einen fiktiven Freund Klaus, weil sie so einsam ist. Dieser Roman ist in der dritten Person geschrieben, in erlebter Rede, sodass die individuelle Sicht Azars schon sehr deutlich erscheint, aber es ist schon eine andere Distanz drin als in einer Ich-Erzählung.

Fahimeh Farsaie: Das hat mit meiner Einstellung zum Leben zu tun. Als ich dieses Buch geschrieben habe, war ich in einer sehr kritischen Situation. Es gab gerade diese Hinrichtungswelle im Iran. Ich wollte erst einmal mit diesem iranischen Erbe nichts mehr zu tun haben und wollte die deutsche Gesellschaft kennenlernen. Ich bin jedoch sozusagen in einer Wohnung gefangen gehalten gewesen, hatte keinen Anlass, aus dieser Wohnung herauszukommen. Darunter leidet auch Azar. Azar ist die Vertreterin meiner Generation. Ihr Leben zeigt, wie schwer es ist, in einer Gesellschaft anzukommen, die mit denen, die in ihrem Land verfolgt werden, nicht solidarisch umgeht. Vielleicht wird in folgendem Text aus „Die gläserne Heimat“ deutlich, wie schwer es ist:

„Jede Sekunde, beim Wachen und Schlafen, im Traum und Alptraum, in den Augenblicken der Trauer und Schwermut, wenn sie ihre Flucht aus dem Iran bereute und wenn sie sich letztlich doch freute, den Krallen der Pasdaran entronnen zu sein, dachte sie immer an ihre erneut bevorstehende Flucht.“

Norbert Reichel: Rosemarie Inge Prüfer schreibt im Nachwort zu „Die gläserne Heimat“ meines Erachtens treffend, die Geflüchteten „finden sich plötzlich in einem luftleeren Raum wieder“. Auch in dem Roman, an dem Sie zurzeit arbeiten, geht es um Flucht und die sich auf den Etappen der Flucht wirkenden und entstehenden Widersprüche und Ambivalenzen.

Fahimeh Farsaie: Ich arbeite zurzeit an meinem siebten Roman. Er hat mit der Flucht, der Haltung der deutschen Gesellschaft gegenüber zwei Mädchen zu tun. Diese beiden Mädchen lernen sich in der Türkei kennen und kommen mit Hilfe eines Menschenschiebers nach Deutschland. Das Buch zeigt, wie sie sich mit der Gesellschaft auseinandersetzen, was sie empfinden.

Norbert Reichel: Haben Sie schon einen Titel? Und wann erscheint der Roman?

Fahimeh Farsaie: Nein, der Titel kommt am Schluss. Das Buch erscheint wieder im Dittrich-Verlag, ein kleiner Verlag mit einem sehr guten Programm. Voraussichtlich wird es Ende 2023 erscheinen.

Schreiben in einer fremden Sprache

Norbert Reichel: Ich werde das Buch gerne im Demokratischen Salon vorstellen und bin schon ganz gespannt. Sie schreiben Ihre Romane nicht in Ihrer Muttersprache. Daher würde ich gerne mit Ihnen über die Bedeutung der Sprache im Exil sprechen. Thomas Mann hatte das Problem ja nicht, weil er weiterhin ein deutschsprachiges Publikum hatte. Er soll im Exil in Pacific Palisades gesagt haben, dass da, wo er sei, auch die deutsche Kultur zu Hause sei. Andere Autoren sahen das anders. Ich denke an Vladimir Nabokov, der über seine englischsprachigen Romane sagte, in der russischen Sprache hätte er viel besser schreiben können, obwohl diese Romane in englischer Sprache eine schon höchst komplexe Sprache aufweisen. Joseph Brodsky, der vor allem Lyriker und Essayist war, schrieb seine Essays auf Englisch, so auch den Essay „The Condition We Call Exile“, seine Lyrik weiterhin in russischer Sprache. Wie erlebten Sie den Übergang von Farsi zu Deutsch?

Fahimeh Farsaie: Ich hatte ein kritisches Verhältnis zur deutschen Sprache. Den Klang der deutschen Sprache kannte ich im Iran nur aus amerikanischen und russischen Filmen. Es waren immer kurze deutsche Worte. Es waren Worte wie „Halt“, „Ich schieße“. Meine erste Begegnung mit der deutschen Sprache kam aus Filmen, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg befassten. Da kamen eben Militär und Nazis vor, die benutzten nur kurze Wörter, die ich auch verstanden habe, weil es sich aus der jeweiligen Szene ergab. So entwickelte ich eine Abneigung gegen die deutsche Sprache und wollte als junge Studentin, die auch eine Fremdsprache lernen wollte, auf keinen Fall Deutsch lernen. Die deutsche Sprache war für mich eine Sprache, die auf keinen Fall human war. Mit dieser Sprache konnte man nicht human umgehen.

Als ich dann nach Deutschland gekommen bin und feststellte, dass ich hier leben und weiterarbeiten muss, dachte ich, das Erste ist für mich die Sprache. Ich muss irgendwie meine Abneigung gegenüber dieser Sprache überwinden und habe angefangen, Deutsch zu lernen. Ich dachte schon, ohne Sprache komme ich in diesem Land nicht weiter, wenn ich meinen gesellschaftlichen Status als Schriftstellerin und Journalistin fortsetzen möchte. Je mehr ich mich mit der Sprache auseinandergesetzt habe, umso mehr habe ich gemerkt, was für eine schöne Sprache das ist, welche vielfältigen Möglichkeiten sie bietet, welche unterschiedlichen Begriffe in dieser Sprache zum Ausdruck gebracht werden können. Jetzt bin ich sehr froh, dass ich diese Sprache gelernt habe. Das öffnet eine andere Dimension in meinem Leben.

Norbert Reichel: Wenn ich es mal so sagen darf: Sie pflegen in Ihren Büchern eine sehr schöne Sprache, auch sehr differenziert.

Fahimeh Farsaie: Danke schön. Nachdem ich mich mit der Sprache versöhnt habe, habe ich ja versucht, diese Sprache auch stilistisch zu beherrschen.

Norbert Reichel: Es gibt Autor*innen, bei denen reden alle Personen so wie die Autor*innen. Bei ihnen entstehen mit ihrer Sprache unterschiedliche Menschen, die sehr individuell reden. So kann man sich sehr gut vorstellen, wer sie sind und warum Sie sie so beschreiben. Und dazwischen dann die sehr klar formulierten beschreibenden Szenen.

Fahimeh Farsaie: Sie sind unterschiedliche Charaktere. Die Persönlichkeiten müssen auch durch die Sprache vermittelt werden. Ich freue mich, dass Ihnen das gefällt.

Norbert Reichel: Und ich bin neugierig auf den siebten Roman.

Romane und Erzählungen von Fahimeh Farsaie

Lieferbar sind die im Dittrich-Verlag erschienenen Bücher

  • Die gläserne Heimat.
  • Eines Dienstags beschloss meine Mutter Deutsche zu werden.
  • Nassrins ost-westliche Nacht.

Antiquarisch erhältlich sind:

  • Hüte dich vor den Männern mein Sohn.
  • Die Flucht und andere Erzählungen.
  • Vergiftete Zeit – Der Fall des Doktor Danesh.

Auf der Internetseite von Fahimeh Farsaie finden sich Leseproben der Romane, eine Übersicht ihrer Essays, Leseproben ihres Theaterstücks „Das giftige Grün des Herzens“ und des Hörspiels „Das Warten“ sowie Links zu ausgewählten Rezensionen. Sie veröffentlicht auch auf der Internetseite des Iran Journals, so am 2. Oktober 2022 den bereits im Gespräch zitierten Appell „Women’s Lives Matter“.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2023, Internetzugriffe zuletzt am 22. Januar 2023. Für die Bereitstellung der Bilder aus dem Iran und von der Volksbühne Basel danke ich dem IranJournal, für das Titelbild („Beauty“) Corinna Heumann. Reproduktion nur zulässig mit Erlaubnis der Rechteinhaber*innen. Die kurze Zusammenfassung der Biographie von Fahimeh Farsaie zu Beginn dieser Dokumentation des Gesprächs orientiert sich an Rosemarie Inge Prüfers Nachwort zu dem Roman „Die gläserne Heimat“. Literaturangabe zum Motto: Azar Nafisi, Lolita lesen in Teheran, München, DVA, 2005, englische Originalausgabe: Reading Lolita in Teheran, New York, Random House, 2003, Übersetzung von Maja Ueberle-Pfaff.)