Isolation

Stanislav Aseyev über das Konzentrationslager am Hellen Weg im Donbass

„Der Punkt ist, dass die Isolation nicht vom Krieg handelt. Sie handelt vom Menschen. (…) sie ist die Linie, nach deren Überschreiten sich ein Mensch wie Gott fühlt, er aber wie der Teufel handelt.“ (Stanislav Aseyev: Heller Weg: Geschichte eines Konzentrationslagers im Donbass 2017 – 2019, Ukrainian Voices Vol. 17, hg. von Andreas Umland, Hannover, Ibidem Verlag, 2022)

Wer Erlebnisberichte von Folteropfern gelesen hat, erkennt schnell, dass sich diese Berichte auf unheimliche Weise ähneln: sie sind Zeugnisse von Räumen vollkommener Gewaltenthemmung, die durch die vollständige Abwesenheit von Recht eröffnet werden. Räume, die aus Opfern wie Tätern andere Menschen machen. Eigentlich gar keine Menschen mehr. Sie sind Räume unvorstellbarer Entmenschlichung. Wir verdanken Stanislav Aseyev ein äußerst scharfsinnig geschriebenes Zeugnis seiner 28 Monate dauernden Haft in einem solchen Raum: einem Foltergefängnis der sogenannten „Donezker Volksrepublik“.

Stanislav Aseyev ist ukrainischer Journalist und ehemaliger Philosophie- und Theologiestudent, was sehr wahrscheinlich zu seiner außerordentlich scharfen und tiefgehenden Analyse der unmenschlichen Brutalität seines Gefängnisses beigetragen hat. 1989 in Donezk geboren, blieb er nach dem Ausbruch des Krieges im Donbass und berichtete unter dem Pseudonym Stanislaw Wasin für ukrainische Medien, unter anderem für die ukrainischsprachige Sektion von Radio Free Europe, über die Situation in der „Donezker Volksrepublik“. Damit ist auch schon der Anlass für seine Verhaftung genannt. Fünf Jahre seiner Gefangenschaft sollte er wegen einfacher Anführungszeichen in seinen Reportagen verbüßen: „Anführungszeichen, die ich um das Wort ‚Donezker Volksrepublik‘ gesetzt hatte und damit ihre Nichtanerkennung durch die Internationale Gemeinschaft und sogar Russland meinte. Diese Anführungszeichen ziehen sofort ihre Unterschrift auf einem Papier nach sich, das stolz das Fassen eines Verbrechers verkündet, der ‚die staatliche Souveränität der DVR negiert‘.

Adresse: „Heller Weg“

Die Gründe für eine Inhaftierung in der Isolation sind jedoch so divers wie banal: es genügt jegliche Art der Sympathiebekundung mit ukrainischer Staatlichkeit und Identität – von der Veröffentlichung entsprechender Texte über einfache Beiträge in Sozialen Medien bis hin zu einem falschen Wort in einem Gespräch mit falschen Personen. Es ist, als sei die „Isolation“ eine Anstalt zur Austreibung der Existenz der Ukraine mit allen Mitteln der Gewalt.

Letztlich lässt sich die Existenz der Isolation genau als solches verstehen: als Versuch, die Staatlichkeit der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ durch die Etablierung eines Systems totaler Gewalt in der Ukraine Wirklichkeit werden zu lassen. Es gehört zwar auch zur Realität der Isolation, dass ihre Gewalt nicht vor den eigenen Reihen Halt macht. Auch ehemalige Soldaten der „eigenen“ Seite fristen neben gewöhnlichen Kriminellen ihr Dasein in der Isolation und das ohne Aussicht, irgendwann im Rahmen eines Gefangenenaustauschs freiverhandelt zu werden. Dennoch ist „Die Isolation“ vor allem ein Ort der „Absonderung“ für jene gedacht, die wie Aseyev die „Donezker Volksrepublik“ ablehnen.

Der Name ihres Ortes entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie: das „Donezker Dachau“ – wie es auch im lokalen Jargon heißt – wurde in einer ehemaligen Fabrik für Isolationsmaterialien errichtet. Nach Sowjetzeiten wurde die verlassene Fabrik als Kunstraum genutzt und verlieh ihren Namen in diesem Zusammenhang auch der dort angesiedelten Kunststiftung „Isolazija“. Nach der Annexion der Krim und des Beginns des Krieges im Donbass wurde die „Isolation“, wie Aseyev sie durchgängig nennt, ein Foltergefängnis des Regimes der „Donezker Volksrepublik“. Zynisch ist nicht nur ihr Name, sondern auch ihre Adresse: Heller Weg 3. Lenins Vision des revolutionären Weges in eine glänzende Zukunft verkehrt sich hier in sein genaues Gegenteil: „Mit der Ankunft der Russischen Welt und des FSB in Donezk haben Lenin und sein ‚Heller Weg‘ gesiegt. Der Weg in ein kommunistisches Paradies hat sich zum wiederholten Male in Keller und Hölle verwandelt.“

Foto: Hans Peter Schaefer

Der Name der Isolation ist so grausam wie treffend, denn in ihrem Kern – so erfahren wir es aus Aseyevs Schilderungen – ist sie genau das: eine vollkommene Abschirmung von allem, was Menschlichkeit ausmacht. Diese Abschirmung begegnet uns bereits in den ersten Kapiteln, in denen Aseyev das surreale Gefühl schildert, kurz nach seiner Verhaftung durch das Fenster das normale Verkehrsgeschehen auf der Straße zu hören, während er gefoltert wird. Dort draußen „existiert eine ganz andere Welt“, deren Regeln im Raum der Isolation vollkommen außer Kraft gesetzt sind.

Ein System totaler Gewalt

Die „Abschirmung“ begegnet uns auch in der kreativen Energie der Täter, immer elaboriertere Maßnahmen zu erfinden, die Insassen ihrer Menschlichkeit und Würde zu berauben. Die Insassen sind der Befriedigung sadistischer Triebe ihrer Peiniger vollkommen ausgeliefert. Was ihnen genau blüht, „hing von der Menge des getrunkenen Vodkas und der Phantasie derer, die foltern wollten, ab“. Jeder Akt der Folter wird gefilmt und auf Bildschirme ins Büro des Gefängnisleiters übertragen. Manchmal werden die Insassen aus Spaß unter die Pritsche geprügelt, wenn sie nicht schnell genug die obligatorische Plastiktüte über den Kopf gezogen hatten. Frauen wie Männer werden regelmäßig Opfer sexueller Gewalt, ihre Genitalien mit Stromstößen traktiert, Vergewaltigungen aller Art sind an der Tagesordnung. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass „jemand hinter diesen Wänden gefoltert und nachts als halbtoter Körper zurückgebracht wurde, mit tiefen Brandwunden an Händen und Füßen.“

Einige Schilderungen der perfide elaborierten Methoden der Folterer sind kaum zu ertragen. Etwa die des Schicksals eines Vaters, der gemeinsam mit seinem Sohn gefoltert wurde und nach einem anschließenden Selbstmordversuch in der Gemeinschaftszelle desorientiert und im Delirium nach seinem Sohn schreit. Auch jene Schilderungen, aus denen hervorgeht, dass die sexuelle Gewalt in der Isolation organisierte Züge zu tragen beginnt. Aseyev schildert die Entstehung eines regelrechten „Bordells“, in dem weibliche Insassinnen ihren Peinigern gegen Hafterleichterungen sexuelle Dienste anbieten. Dass dies alles andere als Prostitution ist, sondern schlicht und ergreifend sexuelle Ausbeutung verzweifelter Frauen, liegt auf der Hand. Es ist das System totaler Gewalt, dass die letzten Spuren menschlicher Würde ausradiert. Es gehört zu Aseyevs größtem journalistischen Verdienst, dass seine Schilderungen an keiner Stelle irgendeinen Voyeurismus bedienen und mit einer derartigen Nüchternheit daherkommen, dass sie den Opfern ein Stück, ein kleines, aber so wichtiges Stück Würde zurückzuverleihen scheinen.

Schöpfer der Angst – die Verrohung

Nüchtern und schonungslos schildert Aseyev die Abschirmung von allem Menschlichen jedoch auch bei sich selbst, in der eigenen Verrohung: „Eine weitere Form der Psychohygiene in der Isolation war die absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der anderen Gefangenen, die auch mich selbst zwischendurch erfasst. Einmal, als mein Zellengenosse und ich Haferflockenbrei zubereiteten, begannen sie in der Nachbarzelle jemanden zu foltern. Es wurden elektrische Stromstöße eingesetzt, was am charakteristischen Stampfen der Beine zu erkennen war. Und obwohl mein Zellengenosse bleich wurde und keinen einzigen Löffel essen konnte, wartete ich selbst lediglich zwanzig Minuten, bis ich mit dem Mittagessen begann und dies damit rechtfertigte, dass die Folter sowieso nicht aufhören würde, der Brei aber abkühlen und zu einem einzigen kalten Klumpen werden würde. (…) Ich erinnere mich, dass sich mein Pritschennachbar, der erst etwa einen Monat saß, große Sorgen machte und die ganze Zeit wiederholte: ‚Wie ergeht es Sergej dort?‘ Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich schon anderthalb Jahre in der Isolation und der unendliche Strom solcher ‚Sergejs‘ hatte mir nicht nur das letzte Körnchen Mitgefühl ausgeschwemmt – er begann mich zu nerven.“

Foto: Hans Peter Schaefer

Den Grund für diese emotionale Verrohung diagnostiziert Aseyev in einer vollständigen normativen Umkehr: die konstante Todesangst und der Schrecken der Folter werden externalisiert, rationalisiert und damit selbst zur Normalität. In diesem Sinne funktioniert die Isolation auch als eine totale Abschirmung von eigentlicher menschlicher Normalität: „Das Normverständnis war direkt proportional zu den Geschehnissen, da es unmöglich war, die tägliche Folter und Erniedrigung ohne Folgen für die Psyche ernst zu nehmen. Die Unfähigkeit der Psyche, mit der Situation zurechtzukommen, zwingt sie dazu, sie mittels einer Rationalisierung anzunehmen: Es ist so schrecklich, dass man anerkennen muss, dass es normal ist, um selbst nicht verrückt zu werden. So wird der Schrecken zur Norm. Daher rühren auch die Gleichgültigkeit und sogar Ironie gegenüber fremden Leid“.

Der Kern des Systems totaler Gewalt basiert nicht zuletzt in der Fähigkeit seiner Herrscher, die Herstellung von Isolation und Nähe als psychische Manipulation für ihre Zwecke einzusetzen. Selbst im brutalen Haftalltag scheinen immer wieder menschliche Zuwendungen der etwas weniger brutal erscheinenden Gefängniswärter durch, die in den Häftlingen oft eine Art Stockholm-Syndrom hervorriefen. Über die Haft zu erzählen, das werde auch heißen, über den Wärter zu erzählen „der uns einen Guten Morgen gewünscht hatte – statt der üblichen Prügel und Flüche“. Auch das „Spiel“ mit den brutalen Haftbedingungen konnte die Balance zwischen Isolation und Nähe beeinflussen. Etwa durch die obligatorische Plastiktüte, die die Insassen jederzeit tragen mussten: Zum Teil wurde das zur Einschüchterung gemacht; zum Teil, damit man einen Gefangenen ‚besonders‘ begünstigen konnte, wenn man ihm erlaubte, ohne Tüte umherzugehen, wodurch man eine psychologische Nähe schaffte“.

Die Folter besteht also nicht nur aus der Zufügung physischer Schmerzen. Sie ist gleichermaßen physische wie auch psychische Unterwerfung, da sie neben der körperlichen Zerstörung und Entwürdigung auch die Gefühlswelt der Gefolterten gegen sie selbst richtet. Es ist einer dieser meisterhaft formulierten Sätze Aseveys, der es auf den Punkt bringt: „Sie sind die Schöpfer der Angst, das einzige Produkt, das diese einstige Fabrik jetzt herstellt.“

Politik der Folter

Eine der vielen eindrucksvollen Aspekte dieses Buches ist die Deutlichkeit, mit der Aseyev illustriert, wie wenig das System totaler Gewalt der Isolation doch im engeren Sinne mit Politik zu tun hat. Ideologisch ist das System tatsächlich blutleer, obwohl es etwa zu den täglichen Ritualen der Erniedrigung gehört, die Insassen sowjetische patriotische Lieder singen zu lassen, während in der Nebenzelle gefoltert wird. Der gefürchtete, als pathologischer Sadist und Alkoholiker beschriebene Gefängnisleiter „Palytch“ ist das eindrücklichste Beispiel für diese ideologische Blutleere: „Ja, er hielt uns für schuldig, aber nicht wegen der uns vorgeworfenen Taten oder unserer Ansichten – Politik war ihm völlig egal. ‚Das Neutralitätchen muss gewahrt bleiben‘, so sagte er mir immer, sobald die Rede auf Derartiges kam. Nein, er hasste uns dafür, dass er selbst hier gefangen war. (…) So lebte er im ersten Stock, über uns, und wiederholte von Zeit zu Zeit: ‚Nicht ihr sitzt mit mir, ich bin es, der mit euch sitzt.‘

Insofern ist die Isolation am Ende des Tages genau das – ein selbsterhaltendes und in sich geschlossenes System totaler Gewalt, das sich jenseits aller rationalen Begründungen von Politik bewegt. Der „Helle Weg“ ist folglich auch kein politisches Buch im engeren Sinne, Aseyev vermeidet es klugerweise durchweg, den Leser*innen konkrete politische Regieanweisungen des Denkens vorzugeben. Seine Schilderungen sind nüchtern-sezierend und erlauben es den Leser*innen so, ein eigenes Urteil zu bilden.

Die Wortgewalt, mit der Aseyev dieses System dokumentiert, lässt jedoch eigentlich nur den Schluss zu, dass ein Regime, das solche Gräuel zulässt, nichts anderes sein kann als selbst ein System totaler Gewalt. Durch Aseyevs Schilderungen erfahren wir, dass ihr Mittel zum Zweck die vollkommene Unterwerfung derer ist, die sich für die Freiheit der Ukraine einsetzen. Ein politischer Blick auf die Isolation ist insofern ein gleichermaßen tiefer Einblick in das Herrschaftsverständnis der sogenannten „Volksrepubliken“: sie sind das eigentliche System totaler Gewalt und die Isolation – wie auch andere „Foltergefängnisse“ in den besetzten Gebieten – ihr brutalster Arm. Wie es Aseyev im Eingangszitat formuliert handelt die Isolation nicht vom Krieg, sondern vom Menschen. Sie wirft ein Licht auf das Grenzland zwischen „Gott“ und dem „Teufel“, zwischen Menschlichkeit und dem „absoluten Bösen“, wie es Aseyev nennt.

Dennoch: ein Monument menschlicher Resilienz

Vor allem ist der „Helle Weg“ jedoch ein Monument menschlicher Resilienz unter widrigsten Bedingungen. Stanislav Aseyev kam 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei und begann danach, seine Geschichte aufzuschreiben. Die Aufgabe, seine Geschichte niederzuschreiben, bezeichnet Aseyev als eigentlichen Grund für sein Überleben; viele suizidale Gedanken in der Isolation konnte er so bewältigen.

Foto: Hans Peter Schaefer

Das Buch wurde in deutscher Sprache bereits 2021 veröffentlicht, leider jedoch ohne große Resonanz in den Feuilletons und im politischen Diskurs. Womöglich lag dies daran, dass der Krieg im Donbass nach sieben Jahren im Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit bereits kaum noch stattfand. Dass das Buch in einem Wissenschaftsverlag erschien, mag dabei sicherlich auch eine Rolle gespielt haben. Man kann diesem Buch jedoch nur wünschen, dass ihm mit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und den (zumindest bis jetzt bekannt gewordenen) dort verübten Gräueltaten, die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird.

Denn obgleich am Ende des Buches keine explizite politische Aussage steht, ließe sich der „Helle Weg“ ohne Übertreibung als eines der gegenwärtig wichtigsten politischen Bücher verstehen. Nicht nur erfahren wir aus dem Buch, gegen welche Bedrohung die Ukrainer*innen in Wirklichkeit kämpfen: eine auf vollkommener Rechtsfreiheit basierende Gewaltherrschaft. Das Zeugnis des Stanislav Aseyev illustriert für uns in messerscharfer Auflösung, welche maßlose Gewaltenthemmung und Entmenschlichung in Räumen entsteht, in denen das Recht nichts gilt.

Ursula Stark Urrestarazu, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Februar 2023. Titelbild: Arina Nâbereshneva, Submissive Chain Swallowing Artist.)