Jalta oder Helsinki?

Ohne Solidarität mit der Ukraine gibt es keine europäische Sicherheit

„Die Teilnehmerstaaten werden gegenseitig ihre souveräne Gleichheit und Individualität sowie alle ihrer Souveränität innewohnenden und von ihr umschlossenen Rechte achten, einschließlich insbesondere des Rechtes eines jeden Staates auf rechtliche Gleichheit, auf territoriale Integrität sowie auf Freiheit und politische Unabhängigkeit. Sie werden ebenfalls das Recht jedes anderen Teilnehmerstaates achten, sein politisches, soziales, wirtschaftliches und kulturelles System frei zu wählen und zu entwickeln sowie sein Recht, seine Gesetze und Verordnungen zu bestimmen. (Auszug aus: Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – Schlussakte, Helsinki 1975)

Welchen historischen Rang bestimmte Ereignisse einnehmen, lässt sich oft erst hinterher bewerten. Zu den historisch besonders bedeutsamen Ereignissen der Vergangenheit wird man etwa die Schlacht von Waterloo 1814, die Schlacht um Stalingrad 1942, den D-Day 1944 oder den Mauerfall im November 1989 zählen. Aber auch die Schlussakte von Helsinki der KSZE (1994 in OSZE umbenannt) war ein historisches Ereignis, das den Epochenbruch von 1989/90 mitbewirkte.

Ob man den „Crash“ im Weißen Haus vom 28. Februar 2025 und das daraufhin vom britischen Premier Keir Starmer anberaumte Gipfeltreffen einer „Koalition der Willigen“ vom 2. März 2025 hier einreihen kann, werden wir sehen. Gewiss scheint, dass sie eine dramatische Bruchstelle versinnbildlichen: Die von den USA nach 1945 maßgeblich aufgebaute Weltordnung, die sich auf Regeln und Gesetz, auf das multilaterale Zusammenwirken der Nationen stützen sollte, ist mit der Machtübernahme Trumps aufgekündigt worden. Dies ist besonders bedeutend, weil die USA nach wie vor mit einem Weltordnungsanspruch auftreten und trotz beträchtlichem Bedeutungsverlust immer noch globale Gestaltungsmacht haben. Putin und Trump scheinen davon zu träumen, dass sich Großmächte wie seinerzeit im Februar 1945 in Jalta die Welt untereinander aufteilen könnten. Werden Trump und Putin ein Jalta 2.0 durchsetzen können oder gibt es eine Chance für ein Helsinki 2.0? Wäre dies vielleicht sogar eine Perspektive für die „Koalition der Willigen“?

Europas Stunde der Wahrheit?

Der Einwand, dass wir die Erosion der regelbasierten Weltordnung schon länger konstatieren müssen, und die USA dabei kräftig mitgewirkt haben, trifft zu. Er verkennt aber den qualitativen Schnitt, der darin liegt, dass man diesem Ordnungsrahmen keinerlei Bedeutung mehr beimisst. Die Schranken und Vorgaben des Völkerrechts mögen schwach gewesen sein und wurden in der Tat immer wieder ausgehebelt, aber sie entfalteten dennoch mäßigende Wirkung und erhöhten den Druck für kooperative Lösungen im Rahmen der Vereinten Nationen. Wie nach innen ersetzt die Machtclique um Donald Trump verbindliche Normen durch die Willkürherrschaft der Reichsten und Mächtigsten und pervertiert internationale Politik zu einer Art Business Making, bei dem die Profitgierigen und Skrupellosen gewinnen. Und wenn sie sich mit ihresgleichen verbünden, wird die Lage noch bedrohlicher.

Insofern hat der Crash im Weißen Haus die Dinge offengelegt. Die medial inszenierte Demütigung des ukrainischen Präsidenten durch die Trump-Führungsriege hatte offensichtlich das Ziel, jeglichen Widerstand der ukrainischen Führung gegen die Durchsetzung eines Friedensdeals à la Trump aus dem Weg zu räumen. Und selbst wer es nicht wahrhaben wollte, konnte sehen: Die neue US-Führung hat im ukrainisch-russischen Krieg die Seiten gewechselt. Der Verrat an der Ukraine nimmt seinen Lauf“ hatte die Neue Zürcher Zeitung bereits Tage zuvor einen Meinungsbeitrag von Andreas Rüesch vom 15. Februar 2025 überschrieben. Damit scheint auch die alte transatlantische Beziehung, die nunmehr fast ein Dreivierteljahrhundert währte, allen Beschwörungsformeln zum Trotz in die Brüche zu gehen. Auch mit dieser Zäsur wird man umgehen müssen.

Vor diesem Hintergrund könnte die Rede des britischen Premiers Keir Starmer vom 2. März 2025 als „Churchill Moment“ in die Geschichte eingehen. Starmer hat keine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede gehalten, hat nicht zu einem großen Kriegseinsatz aufgerufen, aber er hat verstanden, dass der Richtungswechsel der US-amerikanischen Politik eine prompte und starke Reaktion erfordert, wenn man nicht untergehen will. Der Schritt, eine große Koalition von Staaten zusammenzubringen, die sich der Solidarität mit der angegriffenen Ukraine vergewissert und die dies auch mit konsequentem Handeln verbindet, war folgerichtig. Eine innerlich zerrissene Europäische Union war dazu nicht imstande gewesen. Sie ist aber jetzt gefordert, mitzuziehen. Der britische Premier hat seine Ziele wie folgt präzisiert:

Drei Jahre nach der brutalen Invasion Russlands in die Ukraine stünde die Welt an einem Scheideweg. Es gelte jetzt alles zu tun, um die ukrainische Position in die bestmögliche Position für einen dauerhaften Frieden zu bringen. Dazu bräuchte es eine Coalition of the Willing“, die weit über die EU hinausreicht (Der Ausdruck erinnert an die unrühmliche Allianz, die 2003 völkerrechtswidrig im Irak einfiel. Besser wäre es von einer Allianz der Vernünftigen zu sprechen.) Um das Heft des Handelns in die eigene Hand zu bekommen, wollen Großbritannien, Frankreich, Italien, ggf. weitere Staaten mit der Ukraine zusammen einen Plan erarbeiten, der Grundlage für kommende Friedensverhandlungen bilden könnte. Ein sofortiger Waffenstillstand wird angeregt, der zur Eröffnung von Verhandlungen mit der Russischen Föderation genutzt werden sollte.

Großbritannien will ein neues Rüstungspaket im Umfang von zwei Milliarden Dollar schnüren, das auch die Lieferung von 5.000 Luftabwehrraketen beinhaltet, die in Belfast gebaut werden sollen. Bis wann dies geschehen soll, ist nicht klar. Dass Starmer zugleich eine kräftige Steigerung der britischen Rüstungsausgaben ankündigte, die dann auf die Höhe von 3% des Bruttoinlandsprodukts geschraubt würden, darf grundsätzlich kritisch gesehen werden. Die britischen Streitkräfte sollen Expertenberichten zufolge (die wiederum zu prüfen wären) in keiner guten Verfassung sein. Dennoch stellt sich die Frage, wofür eine pauschale Aufrüstung gut sein soll. Sie wird gewiss helfen, die Extraprofite der Rüstungswirtschaft exorbitant zu steigern. Was jedoch zur Abschreckung und Abwehrbereitschaft genau gebraucht wird, sollte sehr spezifisch und faktengetreu dargelegt werden. So viel kann vorab gesagt werden: Aus friedenspolitischer Sicht ist der allgegenwärtigen Fixierung auf drastische Aufrüstung zu widersprechen. Und es muss verlangt werden, dass Überlegungen und Vorschläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung auf den Tisch kommen.

Mit welchen Wendungen und Disruptionen wir es in der nächsten Zeit zu tun haben, ist nicht abschätzbar. Aber die Regentschaft des neuen US-Präsidenten macht jedem klar, dass hinter erratisch erscheinenden Handlungen Trump einer Grundlinie folgt, die wir bereits skizziert haben. Sein ausschließlich auf sich und die Macht der USA gerichteter Horizont, ist eine geopolitische Bedrohung für die Nachbarstaaten, für Lateinamerika, für Europa, ja, für „den Rest der Welt“. Es geht um weltwirtschaftliche Verwerfungen, um die Etablierung des Rechts des Stärkeren wie um fundamentale Bedrohungen freiheitlich-demokratischer Gesellschaftsordnungen gleichermaßen, so auch Jürgen Trittin in seinem Beitrag „Europas Stunde der Wahrheit“ in der Märzausgabe 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik.

Daher ist es zunächst einmal eine gute Nachricht, dass sich die Europäische Union neu aufstellen und sich diesen Entwicklungen entgegenstellen will. Auf dem EU-Gipfel am 4. März 2025 hat die Kommissionspräsidentin von der Leyen einen Plan vorgelegt, wie etwa 800 Milliarden Euro für die Aufrüstung des Bündnisses mobilisiert werden können. Eine Debatte darüber, was wirklich benötigt wird, wo doch allein die EU/NATO-Mitgliedsstaaten Russland und den russischen Streitkräften (noch) deutlich überlegen sind, hat jedoch nicht stattgefunden. Gab es Diskussionen darüber, wie man spezifischen Bedrohungen – Hyperschallflugzeuge und Marschflugkörper Russlands etwa – spezifisch begegnen will? Fehlanzeige. Beratungen darüber, wie die durch die Zersplitterung der Rüstungsindustrien tatsächlich gegebene Verschwendung von Rüstungsgeldern abgestellt werden kann, haben zwar begonnen, aber ein klares Konzept ist nicht erkennbar. Last not least müssen die notwendigen sicherheitspolitischen Aufwendungen immer wieder ins Verhältnis zu den unabdingbaren Kosten der ökologischen Transformation und der notwendigen Anhebung der Mittel für die Entwicklungspolitik gesetzt werden. Dass von der Leyen der Automobilwirtschaft schon Zugeständnisse zu Lasten der CO2- Reduktion gemacht hat, bedeutet nichts Gutes.

Was an den gegenwärtig geführten Debatten erschrickt, ist die Eindimensionalität, mit der sie geführt werden. Alles scheint sich nur noch um die Frage zu drehen, wie einer existentiellen militärischen Bedrohung begegnet werden kann, wie man Bösewichte abschreckt und so weiter und so fort. Die Rüstungsfragen haben die ebenso dringlichen umwelt- und entwicklungspolitischen Herausforderungen nahezu völlig überlagert. Aber es führt andererseits kein Weg daran vorbei, dass die Umbrüche der internationalen Konstellation auf eine Zeitenwende Teil Zwo hinauslaufen, auf die alle gesellschaftlichen Kräfte, nicht zuletzt aber die gesellschaftliche und politische Linke, eine Antwort noch finden müssen. Und vermutlich hat die nicht nur von mir gerne benutzte Redewendung Wir werden Widersprüche aushalten müssen neue Brisanz erlangt.

Es ist zu wünschen, dass die Waffen schweigen

Dass die Liaison zwischen Trump und Putin einen „Friedensdeal“ schaffen soll, der der angegriffenen Ukraine aufgezwungen werden soll, steht außer Zweifel. Dabei sollte für jeden aufgeklärt und humanistisch denkenden, demokratisch orientierten Menschen, auf der Hand liegen, dass ein Friedensschluss davon abhängig sein sollte, was die Ukraine bereit ist zu akzeptieren. Ob ein schlimmer Diktatfrieden durch die britisch geführte Allianz zu verhindern sein wird, können wir im Augenblick nicht wissen. Für nicht wenige Menschen steht daher die Frage im Raum, ob man sich einer Beendigung des mörderischen Krieges, die mit großer Ungerechtigkeit verbunden ist, überhaupt noch verschließen kann. Diese Überlegungen, verbunden mit der wachsenden Angst vor noch größeren militärischen Konfrontationen, laufen dann darauf hinaus, sich erst einmal mit diesen Entwicklungen zu arrangieren. Die Hoffnung auf bessere Zeiten wird in die fernere Zukunft zu projiziert. Solche Gedanken sind nicht ketzerisch und nicht illegitim. Wenn sich die Ukraine letztlich mit einem wie auch immer erzwungenen Friedensschluss arrangieren will, hätte niemand das Recht, dies zu verurteilen.

Und können wir es mit Blick auf einen jetzt nicht unmöglich erscheinenden Waffenstillstand nicht verallgemeinern? Was lässt sich gegen Gespräche zwischen Putin und Trump über eine Beendigung des Krieges und über die Aufnahme von Rüstungskontrollverhandlungen, die ja vage angekündigt wurden, einwenden? Nichts. Im überwiegenden Teil unserer Medien wird gerne die Feststellung bemüht, dass man mit Rüpeln, Kriminellen und Kriegsverbrechern, die nur die Sprache der Gewalt verstünden, nicht reden könne und auch nicht dürfe. Man wird aber schnell merken, dass man in der wirklichen Welt von heute damit nicht weit kommen wird. Der alte Grundsatz bleibt, dass man auch mit seinen Feinden reden muss. Dies gilt schon deshalb, weil man auf Dauer keinen Bewusstseinswandel erreichen wird, wenn man sich den „Bösewichten“ angleicht. Auf der anderen Seite ist zu bedenken, dass auch bloßes Wünschen nicht hilft. Einer Kriegspartei, die partout keinen Frieden will, kommt man durch Reden nicht bei.

Was bei den jetzigen Verhandlungen über eine Kriegsbeendigung in der Ukraine am Ende herauskommen wird, wissen wir nicht. Wenn auf diplomatischem Wege erreicht würde könnte, dass das Blutvergießen und die brutalen Zerstörungen beendet werden könnten, wäre das zumindest nicht schlecht. Man kann sich bei einer solchen Beurteilung von der pazifistischen Fundamentalkritik an exzessiver Gewalt, die radikal zu ächten sei, leiten lassen. Dazu hat sich Pascal Beucker in seinem Buch „Pazifismus ein Irrweg?“ (Stuttgart, Kohlhammer, 2024) differenziert geäußert. Nur wird man nicht umhinkommen, die Gesamtheit der Umstände unter denen die Waffen erst einmal schweigen, zu würdigen und die angemessenen Schlüsse für die künftige politische Praxis zu ziehen.

Den Preis eines Diktatfriedens klar benennen

Wir können schon heute einige Sachverhalte nüchtern durchdenken und dabei wird es nützlich sein, Erkenntnisse der Friedenswissenschaft, wie Kriege beendet werden können, einzubeziehen.

Trump ist seinem beliebten Muster gefolgt, internationale Beziehungen möglichst bilateral zu regeln. Das hat für eine Großmacht den Vorteil, dass sie die Gegenspieler auseinanderdividieren, gegeneinander ausspielen kann und qua machtpolitischer Dominanz den Anderen Bedingungen diktieren kann. In diesem Falle implizierte es, dass man Verbündete (NATO!) nicht mehr konsultiert, sondern vor vollendete Tatsachen stellen kann. Noch schwerer wiegt, dass man der überfallenen Ukraine ein echtes Mitspracherecht auf Augenhöhe über die Konditionen eines Friedensschlusses verweigert hat. Man werde sich von Volodymir Selenskyj nicht aufhalten lassen, hat Trump erklärt. Doch wie soll aus solchermaßen zustande gekommenen „Friedensschlüssen“ Gutes erwachsen, wie soll daraus ein auf Dauer tragfähiger Friede entstehen?

Was bedeutet ein Waffenstillstand, in dem die Ukraine auf elementare Forderungen verzichten muss, für die innere Entwicklung des Landes? Welche nationalistischen Revanchebestrebungen werden dadurch ausgelöst? Wie soll unter diesen Voraussetzungen ein Auseinanderbrechen des Landes verhindert werden? Was passiert mit den Menschen, die von der territorialen Neuordnung unmittelbar betroffen sind? Wie stabil wird ein solches Kriegsende sein, wenn es absehbar mit zwischenstaatlichen Spannungen und Rüstungsspiralen verbunden ist? Welche Konsequenzen zieht ein solcher abgepresster Friede, der das Völkerrecht völlig außer acht lässt, für die internationalen Beziehungen nach sich? Es ist zwar kaum vorstellbar, dass ein Weg zurück ins 19. Jahrhundert unter heutigen Bedingungen durchsetzbar sein soll. Aber mit welch extremen Risiken ist dieser Versuch angesichts der Waffenarsenale weltweit verknüpft?

Ich habe in einem vorherigen Essay dazu einige Antworten versucht. Im Ergebnis überwiegt eine grundlegende kritische, ja düstere Sicht auf die weiter reichenden Folgen eines solchen „Friedensschlusses“.

Aus friedenswissenschaftlicher Sicht weiß man, dass Verhandlungen über Frieden in aller Regel inklusive Prozesse sein sollten. Das heißt: Alle relevanten Akteure sind einzubeziehen, wenn man das Risiko des Scheiterns minimieren will. Dass Trump von diplomatischer Weisheit nichts versteht und nichts davon hält, hat er schon in seiner ersten Amtszeit im Fall Afghanistan unter Beweis gestellt. Es war ein strategischer Fehler, in Doha nur mit den Taliban zu verhandeln und die anderen afghanischen Akteure einschließlich der Regierung außen vor zu lassen. Da ging es ausschließlich darum, sich jeglicher Verantwortung für die Folgen der Invasion zu entledigen und die Lasten dieses ausweglosen Militäreinsatzes loszuwerden. Zugespitzt formuliert: Der Weg zum Gewaltputsch der Taliban und deren Alleinherrschaft war damit vorgezeichnet. Aber die Betroffenen seiner Entscheidungen interessieren Trump – damals wie heute – nicht.

Es ist auch nur schwer verständlich, wieso jemand der sich zu Gute hält, „Deals“ zu erreichen, indem er maximal pokert und größtmöglichen Druck aufbaut, bezogen auf die Ukraine schon Verhandlungsgegenstände zugunsten einer Seite vom Tisch nimmt. Das verlangt nach einer Erklärung. Ganz offensichtlich geht es Mr. Trump nicht um die Ukraine, das heißt auch nicht um die Ukrainerinnen und Ukrainer, sondern um eine gewinnträchtige Exit-Strategie. Aus nationalistischer Sicht geht es ihm darum, den Ballast des Krieges in der Ukraine so schnell wie möglich „loszuwerden“. Folgerichtig soll es auch keine US-Soldaten zur Umsetzung und Absicherung eines Abkommens geben. Hier könnte ein Grundmuster Trump`scher Politik aufscheinen: Er will nur Kriege führen, die unmittelbar und im Sinne des Wortes gewinnbringend sind.

„Weltmächte“ unter sich

Der Deal mit Russland verfolgt offenkundig auch den Zweck, dass sich die USA dann besser auf den hegemonialen Wettstreit mit China konzentrieren können. Wenn es dabei gelingen könnte, Russland aus der Liaison mit China herauszubrechen, wäre dies umso besser. Dass Trump aus dieser Wendung zu Putins Russland noch ein brutal lukratives Geschäft für die USA und die Großkonzerne, die ihn hofiert haben, machen will, ist als Gipfel an Zynismus zu werten. Die bereits geleisteten US-Waffenlieferungen sollen von der Ukraine durch den Ausverkauf wertvoller Rohstoffe (Lithium, Seltene Erden) bezahlt werden. Wie die britische Zeitung „The Telegraph“ enthüllte, sollte das vom US-Sondergesandten vorgelegte Wirtschaftsabkommen auch die US-Kontrolle über Häfen und die Energieinfrastruktur (Öl, Gas) umfassen – die Ukraine würde zu einer US-amerikanischen Wirtschaftskolonie degradiert werden. Präsident Selenskyj hat das zwar als unseriös bezeichnet. Es zeichnet sich dennoch ab, dass Selenskyj kaum eine andere Wahl hat als darauf einzugehen.

Es ist in der Öffentlichkeit bereits ausreichend beschrieben worden, dass ein Trump`scher Diktatfrieden, Gewinne und Verluste extrem ungleich verteilt würde. Dies beginnt damit, dass Russland und die USA gleichsam auf Augenhöhe und exklusiv verhandeln, während die Ukraine eher am Katzentisch Platz nimmt. In Moskau wurde dies mit größter Genugtuung registriert, entspricht es doch der über Jahrzehnte gepflegten Lieblingsidee, die beiden ehemaligen „Supermächte“ sollten gleichberechtigt am Tisch sitzen und Weltangelegenheiten regeln. Mit den mehrfach getätigten Aussagen, die Ukraine soll langfristig auf eine NATO-Mitgliedschaft und auf die besetzten Gebiete verzichten, sind der russischen Seite schon im Vorfeld zentrale Zugeständnisse gemacht hat, die kaum noch rückholbar scheinen.

Europa ist aus Sicht der USA zunächst keine Rolle zugedacht. Die europäischen Staaten sollen nach diesem Plan für den Wiederaufbau zuständig sein und gegebenenfalls eine Truppe aufstellen, die die „Rest-Ukraine“ schützen soll. Aber selbst diese Idee hat die US-Administration zwischenzeitlich einkassiert. Ob es also dazu kommt, ist – Stand Anfang April 2025 – ziemlich offen. Natürlich legt die Ukraine unter den veränderten Umständen Wert darauf, dass die EU mit am Verhandlungstisch sitzt! Auch China folgt eigenen Interessen und ist eher nicht damit einverstanden, dass Russland und die USA neue Grenzen in Europa ziehen und sich als die großen Macher einer neuen Ordnung aufspielen.

Die EU scheint in dieser Situation auch aufgrund ihrer inneren Differenzen und der Stärke des Pro-Putin-Lagers in zahlreichen Mitgliedsstaaten überfordert. Daher ist es noch offen, was diese Entwicklung für die EU und ihre politische Statik bedeutet. Wie soll mit der offenkundig antieuropäischen Politik Viktor Orbáns umgegangen werden? Wie kann der Einfluss anderer rechtsgerichteter Staaten und Bewegungen in den Ländern des Alten Kontinents, die sich gegen die Ukraine-Solidarität stellen, eingeschränkt werden? Muss das gesamte Regelwerk der Union auf den Prüfstand gestellt werden? Und last not least, wie soll der Aufbau einer Militärunion kostengünstig und effektiv gestaltet werden, wie soll er bezahlt werden? Und was ist dabei unerlässlich, was vollkommen überflüssig?

Eine wirkliche Debatte über die angemessene sicherheitspolitische Strategie der EU kann offenkundig nur von links kommen, da sich die anderen Akteure auf einen Konsens zubewegen, der nur die Parole rabiater Aufrüstung zu kennen scheint.

Neo-Imperialismen – neue strategische Fragen für Europa

Für das Putin-Regime ist die jetzt angebahnte Entwicklung ein Glücksfall. Erstmals wieder nach langer Zeit sieht es so aus. dass hier zwei Supermächte „auf Augenhöhe“ zusammenkommen und Felder gemeinsamen Interesses abstecken. Dass man Moskau auch in den Kernanliegen seiner Aggression, der Legitimierung der Annexionen, einem Vetorecht zur ukrainischen Außenpolitik und wohl auch der Absetzung des ukrainischen Präsidenten entgegengekommen wird, kann im Kreml nur als Erfolg auf der ganzen Linie gewertet werden. Es wäre gefährlich, die Augen davor zu verschließen, dass damit die Gefahr wächst, dass ein gestärktes Russland, das sein Territorium gewaltsam ausgedehnt hat, das über neue Ressourcen verfügt, sich in seinem Macht- und Expansionsbestreben ermuntert sieht. Einen Preis dafür müsste auch die russische Bevölkerung bezahlen, deren Belange nach mehr Wohlstand und mehr Freiheit auf der Strecke bleiben würden Aber könnte es nicht sein, dass Russland nach einem „Siegfrieden“ saturiert ist, wieder auf friedliche Koexistenz setzt und sich für eine europäische Friedensordnung offen zeigt? Ist das nicht nur ein frommer Wunsch? Warum sollte das Putin-Regime nach dem Triumph seine großmachtchauvinistischen Ambitionen einkassieren und die Orientierung der osteuropäischen Länder „gen Westen“ vollständig akzeptieren? Eine solche Wendung wird nur durch innergesellschaftlichen Wandel zu erreichen sein. Diesen sollte man durch an die Bevölkerung gerichtete Angebote zur sukzessiven Aufhebung der Sanktionen und einer umfassenden Zusammenarbeit „danach“ befördern.

Ein weiterer Schluss lautet: Die USA unter Trump und seiner offensichtlich bis zur Selbstverleugnung loyalen Gefolgschaft sind kein zuverlässiger Partner mehr, wenn es um die Abwehr des russischen Großmachtchauvinismus geht. Im Gegenteil: Die neuen Imperialismen pushen sich wechselseitig. Für die künftige Gestaltung einer multilateralen, regelbasierten Weltordnung bedeutet dies Alarmstufe Rot. Damit wächst die Gefahr, dass weitere Weltregionen im Chaos versinken – man denke nur an Gaza, Kongo, Sudan – dass sich das Recht des Stärkeren vollends etabliert, was zu weiteren Raubzügen einladen wird (Baltikum, Polen, Finnland, Taiwan, Grönland, Panama oder gar Kanada).

Damit sind für die Europäische Union zugleich strategische Fragen aufgerufen, die rasch beantwortet werden müssen:

Wie kann die Europäische Union in die Lage versetzt werden, sich zu einem Gegenpol zu entwickeln, der sich um die internationale Sicherheit kümmert, ohne alles auf die Aufrüstungskarte zu setzen?! Kann es gelingen, dass sich die EU als eine Allianz anderer Art an den Normen einer Weltrechtsordnung, multilateraler Zusammenarbeit orientiert und sich für die konsequente Verfolgung der Ziele nachhaltiger Entwicklung engagiert und sich dabei für die Stärkung der an den Rand gedrängten UNO verwendet? Frank Hoffer, ehemaliger Mitarbeiter der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und kluger Publizist, hat es treffend auf den Satz gebracht: „Es bedarf der öffentlichen Mobilisierung für Europa als Bastion der Freiheit, des Friedens, der sozialen Sicherheit und des demokratischen Miteinanders.“

Sollte sich die Europäische Union als selbstständiger Faktor etablieren, der die transatlantische Zusammenarbeit dennoch nicht ein für allemal abschreibt? Die alte Formel Egon Bahrs „Emanzipieren ohne abzukoppeln“ ist offenkundig neu durchzubuchstabieren: Wie liegen gemeinsame Interessen, wie könnten sie gemeinsam verfolgt werden? Hier gilt es auf Basis neu gewonnener Eigenständigkeit Angebote zu machen. Tobias Fella sprach von einem „serious decoupling“. Mit der Formel der „transatlantischen Partnerschaft“ wurden allzu lange Verhältnisse der Abhängigkeit und der Subordination verklärt, die jetzt anhand nüchterner Betrachtung auf eine neue Grundlage gestellt werden müssen.

Wie können dem imperialen Großmachtstreben Russlands Grenzen gesetzt und zugleich ein Szenario vermieden werden, das nur noch von Imperativen der Hochrüstung und der globalen Konfrontation bestimmt ist?

Die jüngsten Abstimmungen im Weltsicherheitsrat und der UN-Generalversammlung haben nicht nur offenbart, dass die Trump-Regierung auch bereit ist, mit Russland, Nordkorea und dem Iran zusammenzustimmen. Bedenklich ist, dass die Überzeugung, der Ukraine in der Abwehr einer völkerrechtswidrigen Aggression beistehen zu müssen, unter den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nachzulassen scheint. Es ist gut nachvollziehbar, dass viele Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas diesen Krieg, der ihnen nur Probleme bereitet und der das Augenmerk der Weltöffentlichkeit von den Zielen nachhaltiger Entwicklung weglenkt, einfach beendet sehen wollen. Damit ist Europa herausgefordert, eine neue Nord- Südpolitik zu entwickeln, mit der das weitere Auseinanderdriften verhindert und eine gedeihliche, gleichberechtigte Zusammenarbeit vorangebracht werden kann. Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat dazu im April 2025 im ipg-Journal kluge Gedanken geäußert. Nur wo sind die praktischen Konsequenzen? Und wie entgeht man der Falle einer Neuaufteilung der Welt in imperiale Einflusssphären, die zu immer neuen Stellvertreterkriegen führen würde?

Was kommt nach dem Krieg? Die territoriale Frage

Ob die jetzt angebahnte Gegenwehr einer Unterstützungsallianz für die Ukraine wirksam genug sein wird, um die imperialen Rechnungen Putins zu durchkreuzen, wissen wir (noch) nicht.

Der Sondergipfel von London, der auf Einladung des britischen Premiers Starmer dem Eklat im Weißen Haus folgte, lässt zumindest hoffen, dass die Weichen für eine Verhandlungslösung gestellt werden, die dem russischen Imperialismus Grenzen setzt und die Unabhängigkeit einer kleiner gewordenen Ukraine bewahrt.

Aus heutiger Sicht sind zwei Eckpunkte eines „Friedensabkommens“ a priori festgelegt:

  • Eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wird es auf längere Sicht nicht geben.
  • Die Ukraine wird auf den Teil des Landes, der von Russland rechtswidrig besetzt worden ist, weitgehend verzichten müssen. Ob sich angesichts der gezielten Russifizierung in diesen Gebieten künftig Möglichkeiten der friedlichen Revision dieses Unrechts ergeben, steht in den Sternen.

In der Friedensforschung spielte die Frage eine Rolle, ob die Ukraine ein für allemal auf die widerrechtlich annektierten Gebiete verzichten müsse oder nur der militärische Satus formal anerkannt und die endgültige politische Klärung in die Zukunft verschoben werden könnte. Dies galt auch für im Istanbuler Kommuniqué enthaltene Regelungen, in denen abschließende territoriale Festlegungen vertraglich ausgenommen werden sollten.

Wie könnte ein Einfrieren des Konflikts aussehen, bei dem zumindest die Rechtsansprüche der Ukraine bewahrt würden? Man hatte dabei den deutsch-deutschen Grundlagenvertrag vor Augen, der keine völkerrechtliche Anerkennung der DDR durch die damalige Bundesrepublik Deutschland bedeutete, sondern ein faktisches Eingeständnis, dass es eben zwei Staaten gibt. Auf dieser Grundlage konnten sodann konkrete Umgangsformen vereinbart und weiterentwickelt werden.

Im Friedensgutachten 2024 der führenden Forschungsinstitute wurde darüber hinaus auch die Idee ventiliert, man könne die von Russland besetzten Gebiete in UN-Treuhänderschaft übergeben und von einem im UN-Recht vorgesehenen Treuhandrat vorübergehend verwalten lassen.

All diese Überlegungen scheinen inzwischen Schall und Rauch zu sein. Der russische Außenminister Lawrow hat erklärt, dass man die annektierten Gebiete nicht abgeben werde und die USA haben ein solches Ende offensichtlich bereits eingepreist. Da wird der apodiktische Satz der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen beim Londoner Gipfel, dass es nicht sein dürfe, dass ein Angriffskrieg belohnt würde, wenig helfen. Damit rückt die Frage nach den Sicherheitsgarantien für den verbleibenden Teil der Ukraine immer mehr in den Mittelpunkt.

Sicherheitsgarantien

Als minimale Anforderung einer Waffenstillstandsvereinbarung sollte gelten, dass der Waffenstillstand nicht nur der Regeneration der Kräfte dient, sondern ein Zeitfenster schafft, in dem über einen länger andauernden Nicht-Kriegszustand verhandelt werden kann. Es geht grundsätzlich um die Frage, wie ein erneuter Angriff auf das Territorium der Ukraine verhindert werden kann. Idealerweise sollten dabei Regelungen vorgesehen sein, wie die sich unmittelbar gegenüberstehenden Streitkräfte auseinandergezogen, wie demilitarisierte Pufferzonen geschaffen werden können. Mit vertrauensbildenden Maßnahmen – Bildung von Kontroll- und Diskussionsforen, die Herstellung größerer Transparenz, Datenaustausch, wechselseitige Inspektionen – kann die Gefahr von Überraschungsangriffen minimiert und der Weg zu weiter reichenden Vereinbarungen geebnet werden. Noch besser wären Vereinbarungen, in denen beidseitig (!) und großräumig die (Nicht-) Stationierung von Raketensystemen und Obergrenzen für die Hauptwaffenarten fixiert würden. Von solchen Ideen hört man im Umfeld der jetzigen Gespräche zwischen den Hauptbeteiligten recht wenig bis nichts.

Interessanterweise vertritt die russische Regierung jetzt die Position, dass ein Abkommen nur zustande kommen könne, wenn sämtliche auswärtigen Waffenlieferungen und die Übermittlung geheimdienstlicher Daten an die Ukraine komplett eingestellt würden. Offenkundig beharrt Moskau auf den alten Formeln der „Entmilitarisierung und Entnazifizierung“ der Ukraine, die nicht schwer zu dechiffrieren sind. Bei der Forderung nach einseitiger Abrüstung der Ukraine und dem Versuch, die Selenskyj-Regierung durch eine neue, russlandfreundlichere Regierung zu ersetzen, geht es um das Kernanliegen Putins: Die Ukraine als eigenständiger Staat soll ausgelöscht, ein Vasallenregime etabliert werden. Wie man hört, sollen Abgeordnete der Trump-Regierung auch schon Kontakte zu potenziellen Selenskyj-Nachfolgern aufgenommen haben. Auch hier das scheint das Zusammenspiel von Putin und Trump zu funktionieren. (Am Rande sei erwähnt: Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett hatte im Frühjahr 2022 nach Verhandlungen in Moskau erklärt, Russland sei gegebenenfalls bereit, seine Truppen zurückzuziehen und die Ziele „Entnazifizierung/Entmilitarisierung“ würde man aufgeben. Nur der Westen hätte damals den möglichen Frieden vermasselt. Diese vollmundigen Behauptungen sollten im Lichte der neueren Geschichte kritisch geprüft werden.)

Die entscheidende Frage ist und bleibt, dass die territoriale Integrität, das heißt die Sicherheit der Ukraine durch Dritte garantiert werden muss. Präsident Selenskyj erachtet solche Sicherheitsgarantien inzwischen als „prioritär“. Die Ukraine wird sich dabei nicht mit allgemeinen Versprechungen zufriedengeben können, die schon im Budapester Memorandum vom Dezember 1994 gegeben worden sind, aber dann von der Russischen Föderation gebrochen wurden. Die Verteidigung der territorialen Integrität und nationaler Selbstbestimmung sollte aus ukrainischer Sicht auch materiell, sprich: militärisch untersetzt sein. Logische Folge wäre die Mitgliedschaft im Verteidigungsbündnis NATO. Unter dieser Voraussetzung wäre man zuletzt auch bereit, den russischen Landraub zu akzeptieren. Die gut begründete Annahme, dass Putin nichts mehr fürchtet als die direkte militärische Konfrontation mit der Nordatlantischen Allianz führte konsequenterweise dazu, eine NATO-Mitgliedschaft als die verlässliche Garantie für die künftige Sicherheit des Landes anzusehen. Dass sich Wladimir Putin damit arrangieren würde, konnte aber als unwahrscheinlich gelten. Diese Vorstellung kann als erledigt gelten. Damit bleibt die Frage, wer stattdessen dafür sorgen sollte, dass die Ukraine nicht wieder überfallen wird. Und welche Kräfte werden dafür benötigt?

Da in der europäischen aber auch der ukrainischen Öffentlichkeit jetzt intensiver über die Anschaffung neuer Atomwaffen zur Abschreckung geredet wird, sei es unmissverständlich gesagt: Solche nuklearen Optionen machen den Kontinent nicht sicherer, bewirken nur das Gegenteil und sollten kategorisch ausgeschlossen werden. Dass auf russischer Seite mehrfach mit Nuklearschlägen gedroht wurde, neue Einsatzrichtlinien beschlossen wurden, die die Einsatzschwelle gesenkt haben, darf nicht mit maßloser nuklearer Abschreckung auf der westlichen Seite beantwortet werden. Einen Atomkrieg kann niemand gewinnen, es droht stattdessen das Ende der menschlichen Zivilisation. Wenn Atomwaffen eingesetzt würden, ist die Chance, einen solchen Krieg zu stoppen, äußerst gering. Es ist höchste Zeit, dass daraus Schlüsse gezogen werden: Die Doktrinen nuklearer Abschreckung müssen überwunden werden und alle Anstrengungen sind darauf zu richten, den von der UN-Generalversammlung beschlossenen und inzwischen auch ratifizierten Vertrag über die Vernichtung aller Atomwaffen konsequent umzusetzen.

Doch zurück zur Frage der Sicherheitsgarantien für die Ukraine nach einem Friedensabkommen. In der Öffentlichkeit sind sehr verschiedene Optionen im Umlauf. Es wäre gut, dabei verschiedene Dinge – Truppen zur Grenzsicherung, zur Abschreckung, zur Aufklärung, Beobachtung, Krisenvermittlung – auseinanderzuhalten. Auch die sehr unterschiedlichen Zahlen, wieviel militärische Potenziale benötigt würden, sind auf deren Realitätsgehalt zu prüfen.

Stimmen aus dem Kieler Institut für Weltwirtschaft haben eine Zahl von 300.000 Soldat:innen genannt, die nötig sei, die gesamte Grenze der Ukraine zu schützen, die sich über knapp 2.300 km erstreckt. Die gemeinsame Grenze mit Belarus ist dabei konsequenterweise einbezogen. Ein solch umfassender „Grenzschutz“ ist reine Utopie. Andere Experten nennen Zahlen zwischen 50.000 und 200.000 Menschen, die als Kampftruppen direkt an der Demarkationslinie stationiert würden. Auch solche Kontingente erscheinen selbst bei Einbeziehung von Angehörigen der US-Streitkräfte nicht erreichbar. Zuletzt war aus britischen und französischen Regierungskreisen zu hören, dass ein 30.000 Menschen umfassendes Streitkräftekontingent disloziert werden könnte. Offen ist, wer sich daran beteiligen möchte, wie diese Truppengröße erreicht werden soll, wer sie führen soll. Dass die EU die dafür benötigten Fähigkeiten relativ kurzfristig bereitstellen könnte, darf bezweifelt werden. Das fängt mit dem benötigten Hauptquartier an und endet noch lange nicht bei den sogenannten C3I-Systemen – Command, Control, Communication – die von den heutigen High-Tech-Armeen gebraucht werden. Der britische Premier hat daher unmissverständlich klargemacht, dass auch ein solches Kontingent auf einen sogenannten „Backstop“ durch die US Army angewiesen wäre. Damit ist gemeint, dass im Ernstfall US-Kontingente der Schutztruppe zu Hilfe eilen sollten. Dies ist keine symbolische, sondern eine durchaus praktische Frage. Ohne bestimmte Führungs-, Aufklärungs- und Waffensysteme der USA kann die europäisch bestimmte Truppenformation ihren Auftrag kaum erfüllen. Diese Rückversicherung wiederum wird von der Trump-Regierung bis dato strikt abgelehnt. Inzwischen hat das Expertenteam unter dem britischen Premier die Überlegungen für eine solche internationale „Schutztruppe“, die vor allem der Abschreckung dienen soll, das heißt klarzumachen, dass man zur militärischen Gegenwehr im „schlimmsten Fall“ bereit ist, präzisiert.

Aber dieser Vorschlag setzt darauf, dass man eine Zustimmung Russlands erreichen könne. Ob diese Rechnung aufgeht, ist sehr zweifelhaft. Denn de facto wären damit auch Soldaten aus NATO-Staaten auf ukrainischem Boden, was Russland unter allen Umständen vermeiden wollte und will.

Hinzu kommt, dass Teile der meisten EU-NATO-Mitgliedsländer bisher aus gutem Grund alles darangesetzt haben, eine direkte militärische Konfrontation mit der Russischen Föderation unter allen Umständen vermeiden zu wollen, und sich daher eher reserviert geäußert haben. Dies dürfte auch für die etwas überraschende Zurückhaltung Polens, Armeeangehörige für diesen Einsatz bereit zu stellen, gelten.

Natürlich ist die Idee einer EUplus-Friedenstruppe auch machtpolitisch motiviert. Sie unterstreicht die Ambition, die Ukraine irgendwann in die EU aufzunehmen. Aber sie ist auch einer „Notlage“ geschuldet, in der die Vereinten Nationen immer stärker an den Rand gedrängt worden sind und nur arg begrenzte Einflussmöglichkeiten haben. Denn idealerweise wäre es richtig, wenn es eine Friedenstruppe gäbe, die unter UN-Regie, ausgestattet mit einem Mandat des Sicherheitsrates, in dieser Konfliktregion künftige Aggressionshandlungen ausschließen könnte. Eine solche Konstruktion erscheint völlig illusionär. Daher werden hilfsweise Vorschläge lanciert, dass eine breiter aufgestellte internationale Friedenstruppe aus eher neutralen Staaten für die Garantie eines Waffenstillstandes in der Ukraine stationiert werden könnte. Man denkt dabei nicht zuletzt an Soldat:innen aus den sogenannten BRICS-Staaten (ohne „R“). Auch dies müsste von den beiden Kriegsparteien akzeptiert werden können. Der Vorsitzende der Linken, Jan van Aken, hatte eine solche Truppe unter Einschluss Chinas vorgeschlagen, die der Idee folgt: „Russen würden nicht auf Chinesen schießen“. Das klingt plausibel, kann man aber auch umdrehen. Und China hat bisher vor allem die russische Aggression gedeckt und Putin den Rücken freigehalten. Das ukrainische Vertrauen gegenüber chinesischen Soldat:innen dürfte entsprechend gering sein. Dennoch würde man sich einer entsprechenden Initiative Pekings gegenüber offen zeigen müssen. Eine ernsthafte, breitere Debatte dazu gibt es jedoch nicht. Fakt ist jedenfalls, dass niemand außerhalb Europas „Hier“ gerufen hat und dass dies aller Wahrscheinlichkeit nach so bleiben wird. Indien, Brasilien und andere Staaten haben den Ukraine-Krieg als „europäischen Krieg“ charakterisiert und sie werden einen Teufel tun, sich dort militärisch zu beteiligen.

Auf einem anderen Blatt steht die Idee, ein militärisch und zivil zusammengesetztes Kontingent aufzubieten, das im grenznahen Bereich Waffenstillstandsüberwachungs- Kontrollfunktionen wahrnehmen soll und als Frühwarninstrument dienen soll. Eine solche Einheit mit begrenztem Auftrag an der Demarkationslinie, die unter dem Dach der UN oder der OSZE auch Vermittlungsaufgaben wahrnehmen könnte, wäre nicht falsch. Dazu müsste es ein Mandat des UN-Sicherheitsrates geben oder eine Verständigung innerhalb der OSZE (siehe Minsk-Abkommen) Ob sich Russland dazu bereitfindet, ist kaum vorstellbar.

Die Präsidenten Trump und Putin haben sich zu diesen Überlegungen einer internationalen Sicherheitsgarantie für die Ukraine äußerst zurückhaltend (Trump) bis dezidiert ablehnend (Putin) geäußert. Der „Dealmaker“ Trump hat ganz eigene Vorstellungen formuliert. Die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen der Ukraine und den USA soll als eine Art Faustpfand der Sicherheit dienen. Dahinter steht auch die Idee der gemeinschaftlich aufgeteilten Ausbeutung der ukrainischen Ressourcen, die mit der politischen Unterordnung der Ukraine einhergeht. Dass sich die Ukraine mit dieser Idee einer Sicherheit, mit der ihre Freiheit zu Grabe getragen würde, abfinden würden, ist eigentlich auszuschließen.

Wir können uns die möglichen Szenarien einer Kriegsbeendigung ansehen:

  • Russland obsiegt militärisch, was unwahrscheinlich aber nicht auszuschließen ist. Es wäre der Worst Case, der vielfältige Nebenwirkungen produzieren würde. Eine dramatische Belastungsgrenze würde für die EU und andere Staaten allein durch eine abzusehende riesige Fluchtbewegung erreicht (dazu Nataliya Gumenyuk in „Foreign affairs“). Reden wir Klartext: Dieser Fall darf einfach nicht eintreten. Ein Unterfall dieser Variante, wäre der eben skizzierte Diktatfrieden, der sich auf einen US/RUS-Deal stützt, der gegen den Willen der Ukraine durchgesetzt würde.
  • Es gelingt ein Abkommen zu schließen, dass weitreichende Zugeständnisse an Russland enthält, aber die eigenständige Existenz des ukrainischen Staates sichert. Es ginge um einen tragfähigen politischen Kompromiss, der als Gesichtswahrung von beiden Seiten interpretiert werden kann. Dieses Abkommen sollte wiederum durch eine Staaten-Allianz politisch und militärisch garantiert werden.
  • Der Abnutzungskrieg dauert noch länger an und geht irgendwann in einen Frozen Conflict über, der von beiden Seiten förmlich besiegelt würde. Es ist zu erwarten, dass ein solches „Ende“ einen permanenten Alarmzustand nach sich ziehen würde.

Die erste Variante muss unter allen Umständen ausgeschlossen bleiben. Ob es zur zweiten Variante kommt, ist nicht sehr wahrscheinlich, aber immer noch anzustreben. Die dritte Variante sollte zwar vermieden werden; es könnte aber sein, dass nur ein solcher Ausgang möglich ist Dann käme es darauf an, diesen Abnutzungskrieg möglichst abzukürzen und einen Zustand zu erreichen, der nicht den Konflikt auf lange Sicht einfriert (Koexistenz), sondern Wege zur Ablösung des Gegeneinanders durch Dialog, Vertrauensbildung und Kooperation zum gegenseitigen Vorteil öffnet.

Wie man es dreht und wendet: Ein halbwegs positives Ende des Krieges wird nur zu erreichen sein, wenn klar ist, dass sich die Ukraine mit Hilfe demokratischer Staaten auf Dauer verteidigen kann. Daher hat der britische Premier Starmer völlig recht, dass es darauf ankomme, die Ukraine in eine stärkere Position zu bringen – um so schnell als möglich eine Vereinbarung zu erreichen, mit der die Ukraine leben kann. Aber ist dies nach dem Wegbrechen der USA als Unterstützer überhaupt zu erreichen? Die Erschöpfungen der Ukrainer:innen sind dabei ebenso in Rechnung zu stellen, wie die Mängel der Luftverteidigung und die strikt seitens der Ukraine und ihrer Unterstützer zu beachtenden Beschränkungen der Kampfhandlungen, wenn man nicht die totale Mobilmachung Russlands riskieren will. Hier ist in der Tat eine gewisse Skepsis angesagt.

Könnte sich die Ukraine selber verteidigen?

Aber eine andere Rechnung sagt auch: Die bisherigen Kriegserfahrungen zeigen, dass sich die Ukraine militärisch behaupten kann (dazu Emma Ashford in „Foreign Affairs“). Das wird nur gehen, wenn die Ukraine, die dabei auf Hilfe angewiesen ist, diese Unterstützung auch bekommt.

Es fällt auf, dass die Gegenposition vor allem von denjenigen formuliert wird, die a priori davon ausgegangen sind, dass es nur einen militärischen Triumph der Russischen Föderation geben könne, der eben jetzt bevorstehe. Man möchte sich bestätigt sehen. Behauptet wird, die ukrainische Bevölkerung wäre ermattet, der Westen gespalten und unfähig und Russland hätte die Wirtschaftssanktionen glänzend überstanden. Die Deckungsgleichheit mit den Darstellungen der russischen Propaganda ist nicht zu übersehen. Bleiben wir bei den Tatsachen. Es verdichten sich die Hinweise, dass die Schwierigkeiten in der Russischen Föderation im gleichen Tempo und Umfang für den Krieg mobilisieren zu können, zunehmen. Die Zeit arbeitet für uns“, so werden Stimmen aus Russland gerne zitiert. Aber die zuletzt massiv intensivierten Luftangriffe, die Versuche am Boden unter Inkaufnahme extrem hoher Verluste voranzukommen, die nordkoreanische Schützenhilfe sind eher Indizien dafür, dass man eine rasche Entscheidung sucht, letztlich ein Zeichen für Schwäche. Dies mag genau damit zu tun haben, dass die neueren Wirtschaftsdaten Hinweise geben, dass die kriegswirtschaftliche Mobilisierung, die eben temporär auch Wachstum generiert hat, an Grenzen zu stoßen scheint.

Bei nüchterner Betrachtung wird man konstatieren: Dass die Ukraine den russischen Angriff auf Kyiv im Frühjahr 2022 zurückschlagen konnte, hat niemand erwartet. Dass sie im Herbst 2022 erfolgreich Gegenangriffe im Osten des Landes starten konnte, wurde nicht für möglich gehalten. Mit Blick auf die immensen militärischen Kräfte, die Russland ohne Rücksicht auf Verluste aufgeboten und seine Rüstung kriegswirtschaftlich mobilisiert hat, ist es fast ein Wunder, dass die Ukraine jetzt drei Jahre standgehalten hat. Die teilweise Vertreibung der russischen Kriegsflotte von der Krim war ebenso wenig zu erwarten wie der einige Zeit haltende militärische Vorstoß bei Kursk. Die Geländegewinne Moskaus, die mit einem horrenden Blutzoll verbunden sind, sind insgesamt gesehen eher begrenzt; ein entscheidender Durchbruch auf dem Marsch nach Kyiv ist nicht in Sicht. Dies konnte nur erreicht werden durch den aufopferungsvollen Kampf der ukrainischen Soldat:innen, den Aufbau einer relativ modernen Rüstungsproduktion. Mehr als ein Drittel der zulaufenden Waffen kommt inzwischen aus eigenen Beständen – durch rüstungstechnologische Fortschritte des Landes (Drohnen!) und nicht zu vergessen durch einen Rückhalt der Zivilgesellschaft, der nicht nur die nötige Logistik unterstützte, sondern auch das alltägliche Überleben sicherstellte.

Wie gesagt: Der in den letzten Wochen intensivierte Krieg Russlands hat die Vorstellung genährt, dass der Kreml den endgültigen Zusammenbruch der ukrainischen Front erreichen könne. Realistisch ist dies nicht. Es ist unverkennbar zutreffend, dass die Ukraine große Schwierigkeiten bei der Mobilisierung von Reserven hat und das vorhandene Kriegsgerät nicht ausreichend ist. Dadurch ist sie zuletzt in immer stärkere Bedrängnis geraten. Ein russischer Durchbruch ist dennoch ausgeblieben.

Man wird in diesem Kontext nüchtern konstatieren müssen, dass die bisher ausgereichte Militärhilfe des „Westens“ ungenügend war, zu spät geliefert wurde und nicht ausreichend durchdacht gewesen ist. Kann daraus nur der Schluss gezogen werden, dass diese Hilfe besser geplant und gesteigert werden müsste? Interessanterweise hat die britische Initiative einen wichtigen Punkt gesetzt: Die Ukraine braucht in erster Linie Abwehrwaffen. Ob sie unbedingt Kampfjets der fünften Generation braucht, ob sie wirklich U-Boote braucht, ob der Taurus ein Game Changer ist, dies alles sind sekundäre Fragen. Emma Ashford spricht in diesem Zusammenhang von low-cost-systems, die vorrangig geliefert werden sollten. Die Ukraine braucht das nötige Gerät, um standhalten zu können.

Schärfer formuliert: Die waffenfixierten Ideen führen a) in die Irre, weil immer wieder an dem Kriegsziel „Sieg“ ausgerichtet und b) weil sie Überlegungen blockieren, dass man auch mittels Diplomatie an einem stabilen politischen Rahmen arbeiten muss, der die russische Kriegsfortsetzung delegitimiert und die Sorgen der russischen Gesellschaft aufgreift.

Aus militärischer Sicht sollten sich die Vorstellungen darauf konzentrieren, wie eine wirkungsvollere Verteidigung zu Luft, Land und See organisiert werden könnte (dazu auch Lutz Unterseher, Vertrauensbildende Verteidigung für die Ukraine – Grundlagen und Programm, Berlin, LIT Verlag, 2023). Dass Defensive und Offensive nicht streng voneinander geschieden werden können, zumal mit Blick auf die modernen Waffensysteme, wird damit nicht in Frage gestellt.

Diplomatisch gilt es jetzt, „am Ball zu bleiben“ und einen Friedensplan der Unterstützer-Koalition zu erarbeiten und vorzulegen.

Generell gilt: Ein „Jetzt erst recht“ wird wenig helfen, ein „sich ins Unvermeidliche fügen“ ebenso wenig. Ja, man wird sagen müssen, dass es nur noch um die Realisierung eines „Kompromissfriedens“ gehen kann. Auch dieser kann nur erreicht werden, wenn die Ukraine stark genug ist, um ihre jetzigen Stellungen zu halten und die russische Seite die Aussichtslosigkeit weiterer Angriffe erkennt. Die für die Ukraine schwieriger gewordene Lage hat dazu geführt, dass die Bevölkerung inzwischen zu weitreichenden Zugeständnissen bereit ist, was lange Zeit nicht der Fall war. Die Zahl der zu Zugeständnissen bereiten Ukrainer:innen hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Mehr als 32% sind dafür, 58% sind strikt dagegen. Vor einem Jahr waren das noch 80%. Das Gallup-Institut hat noch ganz andere Zahlen. Danach sind 52% für einen „Kompromissfrieden“, 38% dagegen, so eine aktuelle Untersuchung des Kyiv International Institute of Sociology. Wichtig ist die Tendenz. Diese Bereitschaft zu einem halbwegs verträglichen Ende des Krieges, der besser ist als die faktische Kapitulation, ist eine wichtige Voraussetzung, um zu einem Friedensschluss zu kommen, den gerade die besonders leidtragenden Ukrainer:innen akzeptieren können.

Nicht bereit sind die Menschen in der Ukraine zur Selbstaufgabe. Eine Mehrheit ist trotz der Rekrutierungsprobleme immer noch bereit, weiterzukämpfen. Die hohen Opfer, die man dabei schon erbracht hat, bestärken zumindest einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung darin, dass man sich jetzt nicht bedingungslos unterwerfen dürfe.

Natürlich ist die Lage nach dem Frontwechsel der Trump-Regierung, und der drohenden Einstellung US-amerikanischer Lieferungen neu zu bewerten. Die Gefahr einer dramatischen Schwächung des ukrainischen Widerstandes ist real. Daher können auch die Überlegungen, die Ukraine-Solidarität fortzusetzen, nur darauf gerichtet sein, die Verhandlungsposition der Ukraine so zu stärken, dass zumindest ein Einfrieren des Krieges und eine Stabilisierung durch Sicherheitsgarantien erreicht werden kann.

Appeasement oder Containment?

Vieles hängt davon ab, ob die ins Leben gerufene „Unterstützungsallianz“ zusammenbleibt und die nötigen Schritte veranlassen kann. Auch für die EU ist die Stunde der Wahrheit gekommen: „Appeasement oder Containment“ lautet nach wie vor die Frage. Soll Russland durch die ukrainische Unterwerfung beschwichtigt werden oder soll Widerstand gegen ein zunehmend totalitäres System, das Frieden und internationale Sicherheit bedroht, geleistet werden?

Aber hat die Koalition der Willigen überhaupt die Kraft und die Fähigkeit, der Ukraine dabei zu helfen, eigenständig widerstehen zu können? Und lässt sich der wegfallende US-amerikanische Beitrag überhaupt kompensieren? Was die 800 Milliarden Euro betrifft, die Frau von der Leyen für die „Wiederbewaffnung“ Europas in Aussicht gestellt hat, so bleiben noch viele Fragen offen. Entscheidend ist, welche überfälligen Umstrukturierungen vorgenommen werden, damit der Aufbau einer Militärunion damit verbunden ist, alle möglichen Einsparpotenziale auch zu realisieren.

Aber wie soll sich die Linke zu diesen Rüstungsprogrammen verhalten? Andris Šuvajevs, progressiver lettischer Parlamentsabgeordneter, hat in wenigen Sätzen die Dilemmata beschrieben, in denen sich Linke befinden, wenn sie sich angesichts hochkomplexer Sicherheitslagen eindeutig positionieren sollten und dabei Rüstungssteigerungen in Kauf nehmen müssen: „Die Verteidigungsfinanzierung ist kein Thema, mit dem die politische Linke vertraut ist, und es ist auch keins, dass sie bequem findet. Historisch gesehen wurde der Ausbau der Militärindustrien als Gefahr und als unerwünschte Entwicklung der Gesellschaft angesehen. Die geopolitische Landschaft verschiebt sich jedoch. Russland stellt eine echte Sicherheitsbedrohung für die gesamte Europäische Union dar. Infolge dessen müssen die Progressiven die Führung bei der Lösung der Frage der Verteidigungsausgaben übernehmen – andernfalls werden die Rechtsextremen die Lücke füllen und dies mit wenig Rücksicht auf soziale Bedenken tun.“ (Andris Šuvajevs, Wie die europäische Verteidigung finanzieren? in: Social Europe 21. Februar 2025)

Wenn wir uns den Umfang der bisherigen Waffenhilfe anschauen, der ja zumindest in die Zukunft verlängert werden müsste, so sehen wir: Zwischen 2022 und 2024 haben die europäischen Staaten rund 138 Milliarden Dollar für die Ukraine-Hilfe aufgewandt haben, die USA 115 Milliarden Dollar (alle Zahlen nach statista.com). Bei den USA-Ausgaben handelt es sich fast ausschließlich um militärische Hilfe. Ein nicht ganz kleiner Teil ist dabei in die Förderung der Waffenproduktion in den USA geflossen und somit US-Arbeitnehmer:innen und Steuerzahler:innen zugutegekommen. Die EU leistet den größten Beitrag für die Wirtschaftsentwicklung, für die Haushaltsstabilisierung, für die Aufrechterhaltung der Infrastruktur in der Ukraine. Der Anteil der Militärhilfe an den EU-Mitteln beträgt gleichwohl etwa 70 Prozent.

Damit haben wir zumindest Hinweise zur Größenordnung künftiger Hilfe. Nehmen wir an, dass für einen Zeitraum von drei Jahren US-Ausgaben von etwa 120 Milliarden Dollar zu kompensieren wären. Das hieße eine Summe von 40 Milliarden Dollar müsste zusätzlich per annum erbracht werden, die auf die Unterstützerstaaten aufzuteilen wäre. Falls diese Rechnung stimmt (die Trump-Regierung ist ja davon ausgegangen, dass die verschiedenen Hilfspakete mindestens 250 Milliarden Dollar umfasst haben; von den rein fiktiven 500 Milliarden Dollar an verlangten Rückzahlungen ganz abgesehen), kann man zu dem Schluss kommen, dass solche Zusatzausgaben sehr schmerzlich, aber durchaus finanzierbar wären. Sie machen es aber unausweichlich, dass die bisher aufgebrachten Mittel für die Rüstung in der EU einem rigorosen Rationalisierungs- und Effektivierungszwang unterzogen werden müssen. Der bisherige Rüstungsprozess ist durch ein hohes Maß an Doppelarbeit, bürokratischer Verschwendung, und überflüssiger Produktvielfalt gekennzeichnet. Dies verweist wiederum auf große Einsparmöglichkeiten. Nur müssen diese Potenziale jetzt ohne Rücksicht auf nationale Champions und bornierte nationale Interessen erschlossen werden.

Unter dem Strich ist eine große Kraftanstrengung denkbar, die nicht zu Lasten der Umwelt- und Sozialpolitik gehen darf. Leider ist zu befürchten, dass genau dies geschieht: Einschränkungen beim Umweltschutz und verschärfter Sozialabbau sind vielerorten schon angekündigt. Auf diesem Weg kann man den Kampf gegen die neuen Imperialismen nur verlieren. Es ist an der Linken, mit Gewerkschaften, Sozialverbänden, Ökologie-Initiativen zusammen diese fatale Entwicklung zu verhindern.

Und ein Weiteres gilt besonders: Die Notwendigkeit, sich gegen ultrarechte Aggressions- und demokratiefeindliche Politiken zur Wehr zu setzen, darf nicht bedeuten, dass wir uns in einen Abgrund schierer Hochrüstungs- und Konfrontationspolitiken führen lassen. Die Mobilisierung auf „Kriegstüchtigkeit“ hin wird unsere Gesellschaften so weit verändern, dass nicht mehr klar sein wird, für welche Werte wir überhaupt stehen und wie wir uns eine bessere Welt vorstellen. Sich mit akuten Bedrohungsszenarien auseinanderzusetzen und die Sorgen der Menschen um ihre Sicherheit ernst zu nehmen, heißt immer auch, deutlich zu machen, dass die größtmögliche Sicherheit durch Diplomatie, Rüstungskontrolle und Abrüstung zu erreichen ist. Die schematische Vorstellung, dass eine Wende zu einer friedlicheren Welt erst nach einer neuen und lange dauernden Konfrontationsära zu erreichen ist, ist abwegig. Das globale Überleben verlangt globale Kooperation. Wir müssen dabei mithelfen, dass dieser grundlegende Imperativ endlich konsequent beachtet wird.

Die beste Perspektive: Helsinki 2.0

Es ist nicht so, dass es keine Vorschläge für Rüstungskontrolle, Abrüstung und Vertrauensbildung gäbe. Wir müssen sie publik machen. Mögliche Ansätze, die Dinge zu wenden, sollten aufgegriffen werden. Donald Trump hat von einer Halbierung von Rüstungslasten gesprochen und dem Abbau der „Over-Kill-Atomwaffen“. Wir sollten fordern, dass darüber nicht nur fabuliert, sondern in der Sache verhandelt wird. Russland hat bisher einseitige Maßnahmen zur „Entmilitarisierung der Ukraine“ vorgebracht, also auch Regelungen zur Stationierung von Raketensystemen und zur Begrenzung von Reichweiten vorgeschlagen. Was spricht dagegen, dies aufzugreifen, und in ein breiteres Regionalkonzept einzubinden? Es ginge demnach um eine Pufferzone, die zumindest kurzfristige Angriffshandlungen ausschließt. Und noch idealer wäre es, wenn Vereinbarungen über eine solchermaßen begrenzte Rüstungskontrolle der Beginn eines Neustarts von Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung im OSZE-Raum wären. Vereinbarungen über eine Begrenzung konventioneller Streitkräfte (KSE 2.0) wären dringend geboten. Das könnte Raum schaffen für eine Neuauflage des KSZE-Prozesses, der zur Charta von Helsinki 1975 führte und Kooperationen in verschiedenen Politikfeldern ermöglichte.

Warum wird nur über das Aufspannen eines französisch gesteuerten atomaren Schutzschirms geredet, während der von einer großen Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten angenommene, völkerrechtlich ratifizierte Vertrag über das Verbot von Nuklearwaffen ins Abseits geschoben wird?

Rüstungskontrolle und Abrüstung wären dringend geboten, um dem drohenden, immer gefährlicher werdenden Wettrüsten Einhalt zu gebieten. Und über die Grundrisse künftiger Friedenspolitik muss schon heute gesprochen werden. Insofern ist EU-Sicherheitsberatern energisch zu widersprechen, die für die vorhersehbare Zukunft nichts als Abschreckung, militärische Verteidigung, Machtpolitik und transatlantische Kooperation zu kennen scheinen (wie zum Beispiel Thomas Graham, From the Ucraine Conflict to a Secure Europa, Council on Foreign Relations, Brüssel, September 2024). Putin und Trump denken offenbar an eine Art Jalta 2.0. Für Europa jedoch gilt: Über Helsinki 2.0. nachzudenken ist nicht zu früh, wenn man nicht völlig den Kompass für eine vernünftige Zukunft verlieren will.

Paul Schäfer, Köln

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2025, Internetzugriffe zuletzt am 8. April 2025. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli. Rechte bei der Künstlerin.)