Jenseits der Fußnoten
Die wahre Tragödie Mitteleuropas
Als sich die russischen Truppen in den ersten Tagen des März 2022 den Außenbezirken von Kyiv näherten und sich internationale Medien vor allem auf die ukrainischen Frontlinien konzentrierten, zog die Informelle Tagung der EU-Staats- und Regierungschefs vom 11. und 12. März 2022 in Versailles bei den Journalisten wenig Aufmerksamkeit auf sich noch wurde das von ihnen beschlossene Dokument sorgfältig ausgewertet. Die trockene Sprache der Erklärung von Versailles unterschied sich nicht sehr von vorherigen EU-Statements über die Ukraine. Sie beschränkte sich in der Essenz auf eine unverbindliche Anerkennung der „europäischen Bestrebungen der Ukraine und der Entscheidung für Europa“ der Ukraine und vage Versprechungen, „unverzüglich unsere Beziehungen weiter (zu) stärken und unsere Partnerschaft (zu) vertiefen, um die Ukraine auf ihrem europäischen Weg zu unterstützen.“ Dieses Mal wurde jedoch diesen rituellen Gesten ein kurzer Satz hinzugefügt, der einen wahrhaften Durchbruch in den langen und vieldeutigen Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine bedeutete. So einfach und gewöhnlich er klingt, wäre er einige Wochen zuvor noch völlig undenkbar gewesen: „Die Ukraine ist Teil unserer europäischen Familie.“
Es mag zu offensichtlich sein, sogar trivial, müssten wir uns nicht daran erinnern, dass über die vergangenen Jahrzehnte hinweg die offizielle Sprache der EU sorgfältig jede Wendung vermied, die auf den europäischen Charakter der Ukraine hingewiesen hätte. Denn ein solcher Hinweis – dies glaubten die Offiziellen der EU, hätte zumindest theoretisch die Möglichkeit einer Mitgliedschaft der Ukraine in der EU impliziert. Und dies war ein wahrer Albtraum für die EU wie mir ein französischer Diplomat einmal sagte, vergleichbar nur dem möglichen Beitritt der Türkei. Aus diesem Grund hatte bisher kein einziges EU-Dokument sich jemals auf die Ukraine als „europäischen Staat“ bezogen, sondern verwendete stattdessen trickreiche Euphemismen wie „Partnerland“ oder „Nachbarland“ und brachte es auf die geistigen Landkarten in einer sicheren Distanz, in einen einer Art nebulösen Raum, den man „GUS (Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten)“, „Eurasien“ oder „NUS (Die Neuen Unabhängigen Staaten)“ nannte. So trafen alle Öffnung der Ukraine gegenüber der EU auf eine höfliche „Anerkennung“ ihrer „europäischen Bestrebungen“ – eine frustrierende Phrase, die so etwas meinte wie „gib mir deine Telefonnummer, ich rufe dich später an“.
Die wahre Bedeutung dieser Höflichkeit wurde in weniger formellen Erklärungen vieler EU-Offizieller deutlich. Es reicht die notorische Bemerkung von Romano Prodi zu erwähnen, dass „die Ukraine genau so viel Grund hat, EU-Mitglied zu werden wie Neuseeland“ (weil Neuseeländer nach seinen Worten ebenfalls eine europäische Identität haben), oder das so vielsagende Bonmot von Günter Verheughen, dass jeder, der denke, die Ukraine solle in die EU aufgenommen werden, vielleicht mit dem Argument daherkommen könne, dass Mexiko in die USA aufgenommen werden sollte. Für viele Ukrainer, die, unter allen ihren Regierungen, überschwänglich einen Beitritt zur EU unterstützten, war das in der Tat eine kalte Dusche. Vor allem für diejenigen, die mit der blauen EU-Flagge 2014 auf dem Maidan unter den Schlagstöcken der Polizei und den Kugeln der Scharfschützen standen und die ihre „Zugehörigkeit zu Europa“ als ein Schlüsselelement ihrer ukrainischen Identität liebten und schätzten.
Zwei Zurückweisungen
Die hartnäckige westliche Zurückweisung der europäischen Identität der Ukraine ging Hand in Hand mit der russischen Zurückweisung der ukrainischen Existenz. Politisch wurden diese beiden Zurückweisungen unterschiedlich gerahmt und hatten unvergleichbar verschiedene Konsequenzen – rein institutionell im einen Fall und militärisch-genozidal im anderen. (Wie weit die erste Zurückweisung zur zweiten beitrug oder diese erleichterte, ist ein anderes Thema.) Epistomologisch gesehen kamen beide Zurückweisungen aus derselben Wurzel, die nach Michel Foucault und Edward Said und sicherlich nach Ewa Thompson als „imperiales Wissen“ („imperial knowledge“) bezeichnet werden kann – ein System von Narrativen, wie es jedes Imperium über sich selbst und die Kolonien entwickelt, um seine Hegemonie zu stärken und zu legitimieren. In beiden Fällen war es das russische imperiale Wissen, dass beide Sichtweisen prägte, den russischen und den westlichen Blick auf die Ukraine, auch wenn es im zweiten Fall natürlich mit einiger lokaler Erfahrung und ideologisch-ethisch verknüpften Einschränkungen verbunden war.
Die russische Zurückweisung der Ukraine hat viel tieferliegende ontologische Wurzeln. Sie ist eng mit der Art und Weise verbunden, in der die russische imperiale Identität aufgebaut war – durch Aneignung ukrainischer (und belarussischer) Geschichte, des Territoriums und der Identität und durch die Platzierung der Ukraine und Kyivs in das unmittelbare Zentrum des imperialen Ursprungsmythos. Eine unabhängige Ukraine unterminiert durch ihre bloße Existenz diese Mythologie und fordert die Gründungserzählung der russischen (imperialen) Identität heraus. Als souveräner Nationalstaat provoziert die Ukraine unter imperial gesinnten Russen ontologische Unsicherheit und Ängste. Putin, der eine unabhängige Ukraine „Anti-Russland“ nennt und sie als eine „existenzielle Bedrohung“ seines Landes definiert, ist in einer Art korrekt – mit zwei Vorbehalten: Die Ukraine ist in der Tat „Anti-Russland“, insofern als ihre nationale Identität mit der russischen imperialen Identität unvereinbar ist. Und sie ist in der Tat eine „existenzielle Bedrohung“ für Russland als Imperium, obwohl sie auch eine Chance für die Entstehung Russlands als Nation wäre – wie Zbigniew Brzezinski es vor langer Zeit scharfsinnig anmerkte.
Westliche Nationen, die seit dem 18. Jahrhundert das russische imperiale Wissen unkritisch akzeptierten und normalisierten, akzeptierten weitgehend auch die Zurückweisung der Ukraine als Teil dieses Wissens. Sie teilten dieses „Wissen“ über die 1990er Jahre hinaus und viele teilen es immer noch, aber ihre Zurückweisung der Ukraine wird nicht von irgendeiner ontologischen Unsicherheit und Angst getrieben. Sie spiegelt einfach die russische Mythologie, die perfekt zu ihrer eigenen zynischen aka „realistischen“ Politik gegenüber Russland und gegenüber der Ukraine passte. Als die Sowjetunion zusammenbrach, akzeptierten sie die Unabhängigkeit der Ukraine als ein fait accompli, gestützt eher durch rechtliche Normen und Verfahren als durch kulturelle und historische Argumente (die in einer perversen Form Putin und seinen Gehilfen so lieb sind).
Der Wunsch der Ukraine, „nach Europa zurückzukehren“, das heißt euro-atlantischen Institutionen beizutreten, war eine andere Geschichte. Man mag allgemeiner argumentieren, dass der Wunsch von Osteuropäern (und insbesondere der Ukraine), der EU und der NATO beizutreten, das etablierten Verständnis dessen herausforderte, was „europäisch“ bedeute („Europeanness“), und in gewisser Weise einige Art ontologischer Verwirrung stiftete. Während sich die Angst der Russen vom Gefühl ableitete, dass ihre imperiale Identität ohne die Ukraine unvollständig wäre, leitete sich die Angst der Europäer von dem entgegengesetzten Gefühl ab, dass ihre Identität (nicht nur ihr Wohlergehen) von einem zweifelhaften, fremdartigen Körper bedroht würde. Es war für sie nur natürlich, sich von der alten, epistemologisch induzierten Zurückweisung der Ukraine zu einer passenderen Zurückweisung der ukrainischen Identität und Zugehörigkeit zurückzubesinnen.
Um dieses neue grundsätzlich anti-ukrainische Narrativ zu stützen, wurden einige Elemente des russischen imperialen Wissens (das im Westen nie wirklich revidiert und aufgegeben worden war) wieder verwendet. Das vielleicht wichtigste war unter den neuen Bedingungen das verwelkte Narrativ von der ursprünglichen engen russisch-ukrainischen Verbindung, der Nähe, der Affinität, der Verbundenheit und virtuellen Unfähigkeit, der zufolge dass das eine oder das andere nicht existieren könnte. Dieses Argument war auch in praktischer Hinsicht hilfreich, da es eine zynische „Russia-First“-Politik auf Kosten seiner früheren Satelliten rechtfertigte und diese stillschweigend in den „legitimen russischen Einflussbereich“ aka den „russischen Hinterhof“ verwies.
So erklärte der ehemalige US-Botschafter in Moskau Jack F. Matlock Jr. den Lesern der angesehenen New York Review of Books, die Ukraine wäre eine „Nowhere Nation“, eine „Nirgendwo-Nation“, und ihre Sprache habe sich im 16. Jahrhundert aus der russischen entwickelt (sic!), die deutschen und französischen Außenministerien schlussfolgerten in einem gemeinsamen geheimen Bericht, dass die „Zulassung der Ukraine (zur EU) die Isolation Russlands impliziere“, sodass „es ausreicht, sich mit einer engen Kooperation mit Kiev (sic!) zu begnügen“, der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing argumentierte, dass „ein Teil der Ukraine einen europäischen Charakter“, während der andere Teil „einen russischen Charakter“ habe, sodass beide Teile „nicht zur Europäischen Union gehören können, so lange Russland nicht in die EU aufgenommen wurde“, und sein deutscher Kollege, der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt, versicherte laut einem Beitrag von Timothy Garton Ash den Lesern der New York Review of Books, dass „niemand im Westen, auch nicht 1990, daran zweifelte, dass die Ukraine Jahrhunderte lang zu Russland gehört. Seitdem wurde die Ukraine ein unabhängiger Staat, aber sie ist kein Nationalstaat.“ (Anhänger einer kritischen Diskursanalyse würden sicherlich diesen zutiefst manipulativen Schlenker schätzen, die rhetorische Verwandlung einer zweifelhaften allgemeinen Weisheit – „niemand zweifelte“ – in ein bewiesenes Faktum: „Ukraine ist (immer noch) kein Nationalstaat.“)
In einem kürzlich publizierten Artikel erinnert Timothy Garton Ash daran, wie er nach der spektakulären orangenen Revolution den Präsidenten der Europäischen Kommission José Manuel Barroso dringlich gebeten habe, öffentlich zu sagen dass die Europäische Union wünsche, die Ukraine würde eines Tages ihr Mitglied. Barroso antwortete: „Wenn ich das täte, würde ich sofort von zwei größeren Mitgliedstaaten (Frankreich und Deutschland) geprügelt.“ „Zuerst brauchen wir eine Debatte, ob das Land ein europäisches Land ist“, stellte eine Sprecherin des Vertreters der EU für Außen- und Sicherheitspolitik unmissverständlich klar.
Unerwiderte Liebe
Nur in diesem Kontext mag man die tektonische Veränderung in der EU-Haltung gegenüber der Ukraine richtig einschätzen, wie sie sich in dem kurzen Satz der oben zitierten Versailles-Erklärung zeigt. Der Satz kam jedoch zu spät und das zu einem zu hohen Preis. Weite Landstriche des ukrainischen Territoriums waren besetzt, Städte zerstört und Tausende von Bürgern getötet. Die Ukrainer mögen gute Gründe für anti-westliches Ressentiment haben, seit sie durchweg in ihrer Geschichte von den westlichen Gefährten eher betrogen und vernachlässigt wurden als anerkannt und unterstützt. Aber die einzige Alternative war Russland, ein bösartiger autokratischer Staat, darauf aus, die Ukrainer entweder zu assimilieren oder physisch zu zerstören. Die ukrainische nationale Identität war fundamental unvereinbar mit der russischen imperialen Identität.
Wer in welchen Farben auch immer die Ukraine als Nation aufbaute, verstand das perfekt und neigte sich dennoch nach Westen, obwohl diese verzweifelte Liebe unerwidert blieb. Die Ukrainer sahen dort zumindest eine Chance, so klein und unwahrscheinlich sie auch war, während auf der gegenüberliegenden Seite keine Chance blieb, welche auch immer. Die pro-westliche Orientierung der Ukraine war ihr modus vivendi, ihr sine qua non für das Überleben gegenüber einem feindlichen Nachbarn, der seine Zurückweisung der Ukraine zu einer imperialen Glaubenswahrheit machte. Man mag sagen, die Ukrainer wurden „westlich wegen des Fehlens einer Alternative“: sie hatten wenig Wahl, westliche Werte und Diskurse zu akzeptieren, auch wenn sie sich mit ihnen nicht immer wohl fühlten.
Wir mögen dies seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachverfolgen, als Taras Shevchenko und seine ukrainophilen Gefährten der Bruderschaft der Heiligen Cyril und Methodius die Reihen der imperialen Slavophilen mit subversiven Ideen von Föderalismus und Republikanismus aufbrachen; wir können dies in den offiziellen Dokumenten der kurzlebigen Ukrainischen Nationalen Republik (1918-1920) und programmatischen Artikeln ihres Kopfes Myhailo Hrushevsky finden, von denen einer den bemerkenswerten Titel trägt: „Unsere westliche Orientierung“. Wir können die gleichen Argumente und Imperative in den prowestlichen Positionen ukrainischer Dissidenten der 1960er und 1970er Jahre finden, auch in den dominierenden Einlassungen ukrainischer Politiker und weiter Teile der ukrainischen Bevölkerung seit der Unabhängigkeit.
Nicht mythische Nationalisten (oder „Nazis“ wie Putin sich ausdrückt), sondern der postkommunistische Präsident Leonid Kravchuk und das kommunistisch dominierte Parlament lehnten in den frühen 1990er Jahren Ukraines vollständige Mitgliedschaft in der russisch geführten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) ab und schützten sich gegen gegebenenfalls viele weitere von Moskau beförderte Integrationsinitiativen. Ein anderer postkommunistischer Präsident (der russisch sprach, wenn es jemanden interessiert, und aus der im Südosten gelegenen Stadt Dniepropetrovsk, ukrainisch Dnipro, kam), Leonid Kuchma, unterzeichnete im Jahr 1998 einen Erlass über die „erneute Bestätigung der Strategie der Integration der Ukraine in die Europäische Union“ und fünf Jahre später das Gesetz „Über die Grundlagen der Nationalen Sicherheit der Ukraine“. Artikel 6 dieses Gesetzes stellt unter anderem fest, dass die Ukraine „die Integration in den europäischen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Raum anstrebt, mit dem Ziel der Mitgliedschaft in der Europäischen Union, ebenso wie in den Euro-Atlantischen Sicherheitsraum, mit dem Ziel der Mitgliedschaft in der NATO“. Bemerkenswert ist, dass Kuchmas Premierminister zu dieser Zeit der ehemalige Gouverneur von Donetsk war, Viktor Yanukovych, der als Präsident über ein Assoziationsabkommen mit der Europäischen Union grübelte und diese Idee erst nach starkem Druck aus Moskau ad acta legte (was Massenproteste bewirkte und letztlich Yanukovichs Fall).
Im Gegensatz zu der im Allgemeinen medial verbreiteten westlichen Auffassung gab es in der ukrainischen Gesellschaft lange vor der „Euromaidan Revolution“ 2013/2014 einigen Konsens über die „Europäische Integration“ der Ukraine, auch wenn viele Menschen (reichlich naiv) hofften, die westliche Ausrichtung der Ukraine mit guten Beziehungen zu Russland zu verbinden. Sie unterstützten nicht den Versuch der Ukraine zu einer Mitgliedschaft in der NATO, im vollen Bewusstsein der Empfindlichkeit dieses Themas für Moskau, aber sie erwarteten zu dieser Zeit nicht, dass ein rein wirtschaftliches Abkommen mit der EU einen ähnlichen Zorn hervorriefe. Um Moskau zu beruhigen entschied sich Präsident Yanukovich im Jahr 2012 offiziell für den bündnisfreien Status der Ukraine und verlängerte die Überlassung der Marinebasis in Sevastopol an Russland für weitere 24 Jahre ohne Gegenleistung. Im Jahr 2014 besetzten russische Truppen die Krim und organisierten eine vorgetäuschte „Rebellion“ im Donbas.
Die russische Invasion änderte die Zuneigung zur EU kaum, da diese ohnehin immer positiv gewesen war, aber sie bewirkte eine radikal veränderte Haltung zur NATO – wie alle Meinungsumfragen seit 2014 bestätigen. Dies spiegelt zu einem gewissen Grad den Ausschluss eines substanziellen Bevölkerungsanteils in Krim und Donbas von der Erhebung (und von der Teilnahme an den nationalen Wahlen), aber zuerst und vor allem resultiert daraus die Radikalisierung des verbleibenden Teils der Bevölkerung. Moskau lehrte die Ukrainer brutal, dass ihnen weder der bündnisfreie Status noch der Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft gegenüber ihrem bösartigen Nachbarn Sicherheit schuf.
Kurze Zeit nach dem Euromaidan führte das Kyiv International Institute of Sociology eine nationweite Untersuchung durch, in der sie die Menschen fragte, welche Werte nach ihrer Meinung Ukrainer mit den Russen und welche sie mit den Europäern teilten. In beiden Fällen war es den Befragten erlaubt, drei der am besten zutreffenden Aussagen aus der Liste auszuwählen. Im Ergebnis zeigte sich, dass Ukrainer glaubten, sie teilten mit Russland „Geschichte und Traditionen“ (46 %), „Kultur“ (26 %), „Ethnie“ (18 %), „Religion“ (15 %) und „Sprache“ (12 %). Das war im Jahr 2015; heute würden sie sich wahrscheinlich verweigern, diese Frage überhaupt zu bedenken. Aber bemerkenswerterweise listeten sie damals eine fundamental verschiedene Liste von Werten, die sie mutmaßlich mit dem Westen teilten (oder vielleicht zu teilen wünschten): „Rechte und Freiheiten“ (28 %), „Demokratie“ (27 %), „Rechtsstaat“ (14 %), „Respekt für die Menschen“ (14 %), „wirtschaftliche Entwicklung“ (12 %). Alles in allem belegen die Ergebnisse klar, dass Ukrainer ihre reale oder mythische Enge zu den Russen als etwas wahrnehmen, das exklusiv durch die Vergangenheit bestimmt ist, während ihre Nähe zum Westen als wünschenswert für die Zukunft gesehen wird.
Kunderas Textbuch
Die Versailler Erklärung von 2022 hat endlich die Zugehörigkeit der Ukraine zu „unserer europäischen Familie“ anerkannt und eröffnete einen dornenreichen Weg zu einer eventuellen Mitgliedschaft in der EU. Sie brachte die ukrainischen „europäischen Träume“ der Ukraine so nahe an die Wirklichkeit heran wie niemals zuvor. Im selben Jahr jedoch wurden mit der umfassenden russischen Invasion die „Eurasischen Albträume“ der Ukraine ebenso wirklich wie nie zuvor. Dies setzt die Markierungen im aktuellen Kampf, indem es die Notwendigkeit der Mobilisierung aller Ressourcen einschließlich der symbolischen, höchst wichtigmacht.
Die öffentliche Meinung ist sicherlich eine solche Ressource, zu Hause wie international. Zu Hause ist es leichter diese Ressource auszubeuten, zumal die Ukrainer sich dessen sehr bewusst sein, worum es in dem Krieg geht und wofür sie kämpfen. In den wenigen vergangenen Jahren verloren sie jede Art von Ambivalenz gegenüber Russland, dem Westen oder nationaler Unabhängigkeit; sie wissen heute, dass dies ein Krieg um das nationale Überleben ist – ein existenzieller Krieg, und sie benutzen keine erhabenen Wörter, um ihre Gefühle auszudrücken – wie Freiheit, Würde, Souveränität; es ist eher das Geschäft der Intellektuellen, diese Dinge zu diskutieren, während die gewöhnlichen Menschen diesen Krieg in weltlichen Kategorien fassen wie „unser Land“, „Recht und Unrecht“, „richtig“ oder „falsch“, „wahr“ oder „unwahr“. Oder wie der Bürgermeister von Kryvyi Rih, Oleksandr Vilkul, (einer der vielen ukrainischen Politiker und Ukrainer im Allgemeinen, die als „prorussisch“ bezeichnet wurden, aber heute für die Ukraine kämpfen) seine Wahl ausdrückte: „Wir sind hier geboren. Die Gräber unserer Angehörigen sind hier. Wir haben keinen Ort, an den wir hingehen könnten.“
Ukrainer fühlen es einfach und sie brauchen nicht viele Worte, um überzeugt und mobilisiert zu werden. Aber die internationale Meinung ist eine andere Sache. Und Milan Kunderas fruchtbarer Essay „Der entführte Westen – Die Tragödie Mitteleuropas“ (1983) mag uns hier einige Lektionen vermitteln, welche rhetorischen Strategien verwendet werden können und welche eher nicht, welche Wirkungen erzielt könnten und welche Nebenwirkungen vermieden werden sollten.
Durchweg verfolgt Kundera in seinem Essay zwei klare Ziele: Zunächst will er westliche Leser überzeugen, dass das sogenannte „Mitteleuropa“ (im Grunde nur drei Nationen des ehemaligen Habsburger Reichs, die von der Sowjetunion besetzt wurden) eine gemeinsame Kultur und Geschichte mit dem Westen teilt, bis zu einem solchen Grad, dass Westeuropa (= Europa im Allgemeinen) ohne dies unvollständig, ontologisch unsicher bleibt. Zum zweiten will er die Menschen im Westen an ihre Schuld und ihre Sünden gegenüber „Mitteleuropa“ erinnern, in erster Linie Sünden der Vernachlässigung und des Betrugs, um ein Gefühl von Schuld und Empathie zu erzeugen und es in ein höheres öffentliches Bewusstsein und eine stärkere Unterstützung für seine „europäischen“, schließlich anti-sowjetischen / anti-kommunistischen Bestrebungen zu überführen.
Es gibt auch ein drittes ergänzendes Narrativ, das diese beiden Diskurslinien stützt, ein wiederkehrender Bezug auf Russland und / oder die Sowjetunion, der im Hinblick auf eine dunkle „asiatische“ Macht einen passenden Kontrast zum tadellosen europäischen Charakter („Europeanness“) der drei auserwählten Nationen Kunderas vermittelt und anderseits implizit an den Verrat von Yalta und an andere westliche Missetaten erinnert, die zu dem Spiel der gegenseitigen Vorwürfe und dem westlichen Schuldgefühl beitragen.
Es gibt jedoch keine klaren Belege, dass Kunderas Essay einen nennenswerten Einfluss auf westliche Leser jenseits des kleinen Kreises von Intellektuellen hatte, die in der Tat etwas wussten und sich ein wenig um die osteuropäischen Angelegenheiten sorgten. Einige eilten zur Verteidigung der heiligen Kuh, der sogenannten „Großen Russischen Kultur“, die Kundera angeblich unterminierte, einige verwiesen auf zahlreiche Übertreibungen, Fehler und Manipulationen in seinem Text, und einige entnahmen seinen Essay eine mutige Herausforderung an die Konventionen der Post-Yalta-Diskurse und des Status Quo im Kalten Krieg.
Timothy Garton Ash, einer der zugewandetesten und scharfsinnigsten Beobachter von Ost-Mitteleuropa, schätzte Kunderas Konzept als zeitgemäße Erinnerung an die Menschen im Westen, dass diese Region etwas mehr ist als „Fußnoten der Soviotologie“. Er schrieb (im Jahr 1986!): „Ost-Berlin, Prag und Budapest sind nicht in derselben Lage wie Kyiv oder Vladivostok“ und „Sibirien beginnt nicht am Checkpoint Charlie.“ (Ob Sibirien etwa in Kyiv beginnt und ob die Hauptstadt der Ukraine genau „in derselben Lage wie Vladivostok“ ist, wurde seinerzeit nicht diskutiert, mit einigen dramatischen heute offensichtlichen Konsequenzen).
In Osteuropa wurde Kunderas Essay illegal verbreitet, er spielte vermutlich eine dort mächtigere mobilisierende Rolle als zu dieser Zeit im Westen. Er wurde breit als ein Argument für die Zugehörigkeit der Region zu Europa und ein leidenschaftliches Plädoyer für die „Rückkehr nach Europa“ zu „Normalität“ und zur Befreiung von der sowjetischen Dominanz wahrgenommen. Ich erinnere mich daran, dass wir den Text in Polen üblicherweise in der polnischen Übersetzung lasen (die ukrainische Übersetzung war weniger verfügbar seit der Text in Canada in dem Diaspora-Journal „Dialog“ veröffentlicht wurde), und dass wir seinem exklusivistischen Charakter zu dieser Zeit nicht viel Aufmerksamkeit schenkten, wie gegebenenfalls viele Kritiker feststellten. Kundera schrieb die Ukraine aus der Geschichte heraus, als ein Beispiel für eine verschwindende Nation, und wertete sie zur Fußnote ab, aber wir hatten wenig harte Gefühle gegenüber dem Autor: Die Furcht vor einem völligen Verschwinden war ziemlich real. Wir feierten den Essay als ein Manifest der Freiheit, als Ruf für Befreiung, einen Plan Richtung Westen, weg von Moskau.
Die exklusivistische Essenz von Kunderas Konzept kam viel später zum Vorschein, in den 1990er Jahren, als der Begriff von den auserwählten mitteleuropäischen Nationen instrumentalisiert wurde, um ihren Weg in die Eliteclubs von EU und NATO durchzuboxen, an ihren weniger „zentralen“ und weniger „europäischen“ Mithäftlingen desselben sowjetischen Lagers vorbei. Wie der ukrainische Philosoph Volodymyr Yermolenko bitterlich beklagte: „Die Idee des ‚gestohlenen Westens‘ war womöglich befreiend für Mitteleuropa, aber für das weiter östlich liegende Europa war sie desaströs. Statt die Mauer zwischen Ost und West niederzureißen, verschob sie sie einfach nur weiter ostwärts. Die Idee hätte genutzt werden können, um Totalitarismus überall zu bekämpfen, aber stattdessen verortete es sie geographisch in den Territorien der ehemaligen UdSSR und sorgte damit für einen ständigen ‚Fluch‘ auf unseren osteuropäischen Ländern. Anstatt seinem eigenen Diktum treu zu bleiben und zu sehen wie sehr Diversität insgesamt auf dem europäischen Kontinent verbreitet ist, wählte (Kundera) sie in zwei Teile aufzuspalten, in Opposition zueinander – der humanistische Westen gegen den dämonischen Osten, der dem Westen den (mitteleuropäischen) Teil gestohlen hätte.“
Heute verwenden Ukrainer in ihren Botschaften an den Westen alle einst von Kundera verwendeten Narrative. Sie betonen ihren europäischen Charakter („Europeanness“), ihre kulturelle Affinität und ihre historische Verbindung. Sie erinnern die Menschen im Westen an ihre Fehler und Tölpelhaftigkeiten gegenüber der Ukraine und gegenüber Russland, ihr lange Zeit währendes Appeasement gegenüber einem bösartigen Regime, ihren Betrug des Budapester Memorandums und viele andere Fehltaten, im offensichtlichen Bestreben, bei ihren Gesprächspartnern Schulbewusstsein zu erzeugen. Sie konstruieren das Bild der Ukraine als grundlegend gegensätzlich zum dämonischen Russland und tragen vor, dass dieses heute doch nun eher ein Land von Lügnern und Mördern ist als von großen Komponisten und Schriftstellern, was zu viele gutgläubige Menschen im Westen nur zu gern glauben. Aud nicht zuletzt verwenden Ukrainer ein weiteres Argument, das Kundera nur einmal nannte, gleich zu Beginn seines Essays, als er sich auf die letzten Worte des ungarischen Radiosenders während des Aufstands in Budapest bezog: „Wir werden für Ungarn und für Europa streben.“ Diese Satz scheint für viele Ukrainer heute die Botschaft zu sein: „Wir sterben für eure Sicherheit, eure Freiheit, eure Werte. Wir sterben für internationale Ordnung, Prinzipien, Gerechtigkeit.“
Bei aller rhetorischen Ähnlichkeit gibt es auch einen tiefgehenden Unterschied. Ukrainer können sich heute auf Argumente beziehen, über die Kundera zu seiner Zeit nicht verfügte. Weil die Ordnung des Kalten Krieges auf den Vereinbarungen von Yalta beruhte, die durch die Vereinbarungen von Helsinki bestätigt wurden, bemerkte der polnische Literaturhistoriker Przemisław Czapliński treffend: „nienaruszalność granic, a więc – nienaruszalność narracji“ („Unverletztlichkeit der Grenzen und daher – Unverletztlichkeit der Erzählung“). Ukrainer können heute legale Argumente verwenden, die völlig auf ihrer, nicht auf Moskaus Seite sind. Die kulturellen und historischen, sogar moralischen Argumente (insbesondere in der Politik) sind bestreitbar, während geschriebene Regeln und Vereinbarungen viel klarer definiert sind. Was auch immer Putin über die „Künstlichkeit“ der Ukraine fantasieren mag oder über Russlands besondere Erwähltheit, dies zu zerstören, so gibt es die unbestreitbare Tatsache der Aggression gegen den souveränen Staat, eine schreiende Verletzung der UN-Charta und bilateraler und multilateraler Dokumente, ein offensichtliches Kriegsverbrechen und einen zunehmend offensichtlichen Völkermord. Dies macht historische, kulturelle und andere Argumente nicht irrelevant oder redundant, aber verweist sie unvermeidbar in eine zweitrangige, hilfsweise heranziehbare Rolle.
Ukrainer mögen die gleichen Illusionen über den Westen haben, die Kundera und seine Generation hatten, aber sie haben sicherlich mehr Selbstvertrauen, das sich aus der neu errungen historischen Situation herleitet. Dies wurde vom ukrainischen Präsidenten am ersten Tag des Krieges in seiner kolportierten Antwort an amerikanische Diplomaten ausgezeichnet ausgedrückt, als diese ihm die Evakuierung aus Kyiv zu einem sicheren Ort anboten: „Ich brauche Munition, keine Reise.“
Die wahre Tragödie des neuen ostwärts verschobenen „Mitteleuropas“ liegt darin, dass sie zu spät erkannt wurde und dies zu einem zu hohen Preis. Aber die Abrechnung ist noch nicht endgültig.
Mykola Riabchuk, Kyiv
Der Autor ist Schriftsteller und Publizist, Ehrenpräsident des PEN Ukraine, Mitbegründer der Zeitschrift „Krytyka“ und führender Wissenschaftler am Institut für politische und ethnische Studien der Nationalen Akademie der Wissenschaften der Ukraine. Seit 2014 ist er Vorsitzender der Jury des internationalen Angelus-Preises für die besten Romanautoren Mittel- und Osteuropas. Seine Bücher sind ins Polnische, Serbische, Ungarische, Deutsche und Französische übersetzt worden. Sein jüngstes Buch ist „Das Lexikon des Nationalisten und andere Aufsätze“ (2021).
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung des ukrainischen Originaltextes in Krytyka, eine englische Fassung erschien in Eurozine. Erstveröffentlichung der deutschen Übersetzung im Demokratischen Salon im Juni 2024, Internetzugriffe zuletzt am 31. Mai 2024, Übersetzer aus der englischen Fassung: Norbert Reichel. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli.)