Journalismus für die Wahrheit
Ein Gespräch mit der Journalistin Anastasia Tikhomirova
„Wenn Roheit und Gewalt die politische Sprache und das Leben prägen, wenn Wandel herbeigesehnt wird, aber Veränderungen zugleich ängstigen, dann kann es fast revolutionär anmuten, den Menschen nicht von ‚Krieg den Palästen‘ und von großen Sprüngen nach vorn zu predigen, sondern laut und hörbar über die Liebe und die Macht des Miteinanders zu sprechen.“ (Alice Bota, Die Frauen von Belarus – Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit, Berlin Verlag 2021)
Die im Jahr 1999 in Waiblingen bei Stuttgart geborene freie Journalistin Anastasia Tikhomirova versteht sich als Linke, als Feministin, als Zionistin, als Anwältin für Freiheit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit, gegen jede Form von Diskriminierung. Auf ihrer Internetseite sind ihre Texte, Interviews und Vorträge zu finden. Im tazlab beteiligte sie sich regelmäßig mit eigenen Beiträgen sowie der Moderation von Debatten mit Menschen, die sich für eine an den Menschenrechten orientierte Politik engagieren, in Deutschland, in der Ukraine, in Russland und anderswo. Auf ihren Reisen nach Russland, Georgien, Israel traf und trifft sie Menschen, die sich wie sie für eine demokratische Zukunft engagieren. Luisa Faust portraitierte sie in der taz einmal als „Meisterin der Gleichzeitigkeit“.
Sie lebt in Berlin, hat Familie und Verwandte in Moskau und im Allgäu – von ihrem Kinderzimmer schaute sie auf das bayerischste aller bayerischen Schlösser, auf Neuschwanstein. Sie ist Alumna des Stipendiums der Marion-Gräfin-Dönhoff-Stiftung im Rahmen der Internationalen Journalistenprogramme und schreibt für die ZEIT, für die taz, für Jungle World, für Analyse & Kritik, für den Volksverpetzer und verschiedene andere Medien. Im Herbst 2021 hospitierte sie bei der Novaja Gazeta in Moskau. Sie ist in den sozialen Medien unterwegs, hat auf Instagram etwa 10.000 Follower. Wir haben uns über eine Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung NRW kennengelernt, die ich am 26. April 2022 moderiert habe und in der wir über „Kollateralschäden in der Willkommenskultur“ diskutiert haben. Das hier dokumentierte Gespräch fand am 19. Mai 2022 statt und knüpft inhaltlich auch an diese Veranstaltung an.
Journalistin – rund um die Uhr
Norbert Reichel: Sie schreiben in vielen Zeitungen, sind in den sozialen Medien unterwegs, moderieren Debatten. Zurzeit werden Sie wahrscheinlich wegen Ihres Namens oft als Expertin für Russland gefragt, sind aber auch in vielen anderen gesellschaftlichen Fragen bewandert. Wie würden Sie Ihr Selbstverständnis als Journalistin beschreiben?
Anastasia Tikhomirova: Mir fällt es schwer, mich als Expertin für Russland zu bezeichnen, weil es Menschen gibt, die das besser können. Ich kenne mich auch qua Identität gut aus, was jedoch nicht ausreicht, habe mich viel mit Russland beschäftigt und recherchiert, aber – vielleicht liegt es daran, dass ich noch ziemlich jung bin – ich würde mich nicht als Russland-Expertin bezeichnen, sondern einfach als Journalistin, die vor allem zu russischen Themen schreibt, zu osteuropäischen Themen, auch zur Ukraine, zu Feminismus, zu Antisemitismus. Antisemitismusforschung studiere ich in einem Masterstudiengang am Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin (Antisemitismus, Israel-Palästina-Konflikt, Feminismus – das sind auch meine Themen.)
Über den Feminismus habe ich angefangen, mich zu politisieren und bin von dort auch zu anderen gesellschaftlichen Fragen gekommen. Ich würde die Journalistin immer an den Anfang stellen, um mich zu beschreiben, dann die Themen, mit denen ich mich viel beschäftigte. Es passiert aber auch, dass ich zum Beispiel über Drogenpolitik schreibe, über die Legalisierung von Drogen, die Technoszene, über Rechtsextremismus, Polizeigewalt und Hass im Netz. Das sind alles Themen, die mich interessieren, aber nicht immer im Fokus meiner Arbeit stehen. Das heißt nicht, dass ich diese Themen nicht intensiv verfolge, mehr aber in meiner Freizeit.
Norbert Reichel: Wie recherchieren Sie?
Anastasia Tikhomirova: Als freie Journalistin habe ich oft das Privileg, mir meine Themen selbst aussuchen zu können. Oft habe ich schon recherchiert und weiß, wo ich nachschauen muss. Natürlich muss ich weiter recherchieren, aber ich bin nie ganz blank. Wenn ich einen Auftrag bekomme, schaue ich erst einmal, welche Expert*innen es zum Thema gibt, die ich dann anfrage und mit denen ich kürzere oder auch längere Interviews führe. Ich versuche dann, Thesen dieser Expert*innen in meine Texte einzubauen. Manchmal ist es ein ganz klassisches Interview, aber häufig schreibe ich Texte, die gespickt sind mit Thesen von verschiedenen Expert*innen, zum Beispiel zum Antisemitismus in linken Strukturen, zur Verschränkung von Sexismus und Antislawismus, obwohl es dazu leider nicht viele Expert*innen gibt, sodass ich hier eher meine eigenen Erfahrungen einbauen konnte.
Mir erschließt sich natürlich eine zusätzliche Sphäre durch meine Russisch-Kenntnisse. Ich kann russische Bücher lesen, russische Podcasts hören, Expert*innen aus russischsprachigen Ländern befragen. Das ist ein großer Vorteil.
Norbert Reichel: Welche Sprachen sprechen Sie außer Russisch und Deutsch?
Anastasia Tikhomirova: Ich spreche fließend Englisch, ganz gut Französisch und Italienisch. Das habe ich in der Schule gelernt und versuche es weiter zu praktizieren. Latein wird nicht gesprochen, aber ich habe mein Latinum. Sprachen sind mir immer leichtgefallen, schon in der Schule, es gab immer sehr gute Noten. Während der Corona-Zeit habe ich versucht, Italienisch und Französisch in Online-Kursen an der Uni zu verbessern. Das ist mir nicht so gut gelungen. Ich werde jetzt aber wieder an die Uni gehen, Sprachen live zu lernen ist doch besser. Ich bin gestern noch aus Italien zurückgekommen, habe dort einfach drauflos gesprochen und hatte die Sprache schnell wieder drauf.
Norbert Reichel: Sie studieren neben Ihrem Beruf.
Anastasia Tikhomirova: Ein Bachelorstudium in Kulturwissenschaften und Philosophie. Ich schreibe gerade meine Bachelorarbeit, die ich im Juli abgeben muss. Das ist knapp, aber ich schaff das schon. Ich habe parallel mit meinem Masterstudium angefangen, zur Antisemitismusforschung. Ich überlege, einen doppelten Master zu machen, noch in Osteuropageschichte, damit ich das, worüber ich schreibe, noch einmal so richtig fachlich unterfüttern kann.
Norbert Reichel: Das hört sich nach einem Tag rund um die Uhr an. Da schläft man nicht so viel.
Anastasia Tikhomirova: Jaa, jaa. Jetzt im Mai ist es etwas entspannter, aber die letzten Monate waren krass, eine 60-Stundenwoche. Gerade auch wegen Russland und der Ukraine. Ich muss schon aufpassen, dass ich mit 30 nicht einen Burn-Out bekomme. Das ist die Gefahr im Journalismus. Viel Konkurrenz, eine Menge Ehrgeiz und dann als Migrantin noch dieses migrantische Arbeitsethos, dass man sich als Migrantin immer doppelt beweisen muss! Meine Eltern haben – als ich noch klein war – gesagt, man müsste in Deutschland zu den Besten gehören, damit man nicht als faule Ausländerin gilt. Das wirkt bei mir zumindest unterbewusst bis heute nach.
Journalismus ist ein politischer Beruf
Norbert Reichel: Es gibt den Satz eines der Altväter des politischen Fernsehjournalismus, Hanns-Joachim Friedrichs (1927-1995), ein guter Journalist solle sich mit keiner Sache gemein machen, nicht einmal mit einer guten. Hans-Joachim Friedrichs genderte noch nicht, das ist aber nicht das Einzige, was sich seit seinen Zeiten geändert hat. Müssen Journalist*innen wirklich neutral sein?
Anastasia Tikhomirova: Ich sehe das – um ehrlich zu sein – nicht so. Ich bekomme häufig vorgehalten, ich sei zu aktivistisch für diesen Beruf. Meiner Meinung nach wird ein*e Journalist*in zum Aktivisten, zur Aktivistin, wenn die demokratische Grundordnung bedroht ist. Ein*e Journalist*in ist auch immer Aktivist*in für die Wahrheit und sollte zumindest in einigen Fragen Haltung zeigen – so würde ich das sagen. Ich finde, die Grenze ist fließend. Viele versuchen es abzugrenzen, um eine Neutralität herzustellen, die es nicht gibt. Meines Erachtens ist Neutralität auch – Sie sagen es ja selbst – eine Sache eines Journalismus, der weitgehend männlich war, deutsch und weiß dominiert. Heute ist er zwar nicht mehr so männlich dominiert, aber sehr deutsch. Journalismus ist eine der am wenigsten diversen Branchen. Und wenn dann Leute kommen, die eben nicht die deutsche Standardrealität abbilden, wird ihre Perspektive, die von dieser weißen, männlichen Norm abweicht, als aktivistisch abgewertet. Dann gibt es noch ein anderes Problem: Geld und Klassenzugehörigkeit. Man muss es sich leisten können, unbezahlte Praktika zu machen, um überhaupt Erfahrungen sammeln zu können.
Ich finde es auch nicht falsch, als Journalist*in die sozialen Medien zu nutzen, für Journalist*innen ist Twitter kaum wegzudenken. Dort beziehe ich wie auch viele andere Kolleg*innen Stellung zu bestimmten Ereignissen. Viele Journalist*innen schreiben in ihre Bio, sie tweeten privat, aber dennoch wird ihre Meinung ja deutlich. Kann man jemandem ankreiden, es wäre Aktivismus, wenn sie zum Beispiel öffentliche Petitionen unterschreiben, wenn sie ihre Meinung dazu äußern, dass zum Beispiel FRONTEX schlimm ist? Ich finde diese Linie sehr schmal. Aktivismus ist ein verwässerter Begriff. Aktivismus beginnt noch nicht, wenn du auf Twitter deine Meinung schreibst, sondern in politischer Selbstorganisation und Vernetzung. Aktivismus ist auch ein Beruf, wenn du dein Leben einer Sache widmest. Es ist eh danebengegriffen, mir vorzuwerfen, ich wäre eine Aktivistin (so, als wäre das vor allem was Schlechtes). Ich organisiere keine Demos, halte manchmal Reden auf Demos, aber das ist nicht meine Haupttätigkeit. Deshalb würde ich sagen, dass diese Trennung sehr künstlich ist.
Norbert Reichel: Wer macht denn den Vorwurf?
Anastasia Tikhomirova: Manchmal ältere Kollegen. Einmal ein paar Tage, bevor die Ukraine angegriffen wurde, war ich auf einer Demonstration mit einer Freundin, mit einer ukrainischen Flagge. Wir haben vor dem Brandenburger Tor ein Foto gemacht. Ich wurde dann gefragt, wie das mit meinem journalistischen Beruf vereinbar wäre. Warum soll das denn nicht vereinbar sein? Ich habe ja auch meinen Instagram-Account mit etwa 10.000 Followern, beschäftige mich mit vielen politischen Themen, biete so auch kostenlos politische Bildung an und äußere dort täglich meine Meinung. Irgendwann hat es einfach angefangen. Jeden Tag greife ich ein paar andere Themen auf. Ich teile meine Auftritte und Texte, Aufrufe zu Demos, zu Petitionen, poste gleichzeitig auch meinen eigenen Life-Style, Urlaubsfotos. Ich habe genauso das Recht, auf Instagram zu posten, dass ich die Ukraine unterstütze.
Norbert Reichel: Das Private und das Berufliche lassen sich meines Erachtens auch nicht trennen. Ganz im Sinne von Carol Hanisch, die nach meinen Informationen die erste war, die den folgenden Satz schrieb: „Das Private ist politisch.“ Ich fände es auch schade, wenn das sich trennen ließe.
Anastasia Tikhomirova: Vor allem, wenn man Journalist*in ist. Man geht nicht aus dem Büro raus und hat Feierabend. Wenn was Dringendes passiert ist, wird man auch am Abend oder am Samstag angerufen. Auch durch die sozialen Medien: man liest ja doch alles mit und man muss ja auch am Ball bleiben. Obwohl ich mir manchmal wünsche, wenn ich ausgebrannt bin, dass ich den Laptop zuklappen und einfach nach Hause gehen könnte. Das geht nicht. In diesem Beruf nicht.
Ein anderes Russland – mit der Novaja Gazeta nach Burjatien
Norbert Reichel: Im Herbst 2021 haben Sie bei der inzwischen verbotenen russischen Zeitung Novaja Gazeta hospitiert. Ihr Chefredakteur Dmitri Muratow erhielt 2021 den Friedensnobelpreis. Ihr Interview mit dem Vizechef der Zeitung, Kyrill Martinow, ist auf Zeit-online nachzulesen. Er verweist in dem Interview auch auf die neue Kennung .eu der Zeitung.
Anastasia Tikhomirova: Darf ich berichtigen. Die Novaja Gazeta wurde nicht verboten, sondern hat ihre Arbeit freiwillig eingestellt. Sie wurden von der Medienaufsicht oft gerügt und – wenn sie weitergeschrieben hätten – es wäre wahrscheinlich gewesen, dass sie verboten worden wären. Sie hätten den Status eines ausländischen Agenten oder gar als terroristische Organisation bekommen können. Weil sie ihre Arbeit freiwillig einstellten, können Sie – wenn der Krieg vorbei ist – ihre Arbeit auch wieder aufnehmen.
Ich bin zur Novaja Gazeta über die internationalen Journalistenprogramme gekommen, das Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendium. Mir wurde abgeraten nach Moskau zu gehen, weil es da gefährlich wäre für Journalist*innen. Das war mir zu vorsichtig, zumal ich in Moskau Familie habe und die Sprache einwandfrei beherrsche. Ich hatte da eigentlich keine Angst und war ganz froh, dass ich mit meinem Journalistenvisum und meinem deutschen Pass einreisen konnte.
Norbert Reichel: Sie haben einen deutschen und einen russischen Pass?
Anastasia Tikhomirova: Der russische ist abgelaufen. Ich würde ihn gerne loswerden, aber das ist alles schwierig. Es war für mich eine sehr wertvolle Erfahrung, nach Moskau zu kommen, dort auch Leute in meinem Alter kennenzulernen. Ich hatte dabei immer schon einen Mangel, als Kind, als Jugendliche. Ich habe mich in Deutschland nie heimisch gefühlt, nie zu Hause, auch aufgrund der Ausgrenzung, die ich wegen meiner Herkunft erfahren habe. Als ich nach Russland kam, wurde diese Lücke teilweise geschlossen, die ich als Kind erfahren habe. Ich wollte wissen, was denken die Leute, was hören die für Musik, was treibt sie um? Ich hatte hier immer nur meine Verwandten, meine Eltern, die Freund*innen meiner Eltern als Kontaktpersonen, die russisch sind.
Als ich nach Moskau gegangen bin, hat sich das sehr schnell geändert. Ich hatte Kontakte geknüpft, in der Redaktion mit Leuten gesessen, die kaum älter sind als ich. Sie arbeiten da sehr ehrgeizig, sehr engagiert. Sie machen das nicht für Geld oder Ruhm. Sie machen das für die Wahrheit, für Transparenz. Das finde ich sehr ehrenwert. Ich habe mich bemüht, etwas vom Leben der Journalist*innen vor Ort mitzubekommen, mir etwas von ihrem Wissen anzueignen. Obwohl ich akzentfrei Russisch spreche, fiel es mir manchmal schwer, mit all diesen Abkürzungen zurechtzukommen. Manchmal fehlte mir auch das Wissen um innenpolitische Themen und Konflikte. Das habe ich mir in dieser Zeit aneignen können, vor allem von einem Kollegen, der inzwischen auch nach Berlin gekommen ist. Er hat sich in der linken Szene in Moskau engagiert. Das hat mich als Linke sehr interessiert, wie organisieren sich Linke in einem postsowjetischen Land? Die Linke ist dort viel anti-autoritärer aufgestellt, mit viel anarchistischem Gedankengut und anarchistischer Theorie, viele bezeichnen sich als demokratische Sozialisten, um sich von der Sowjetunion abzugrenzen. Darin habe ich mich auch viel von mir selbst wiedergefunden. Ich habe auch eine Reportage über die linke Szene in Moskau geschrieben.
Mit einigen habe ich mich auch privat getroffen. Ich bin viel auf Konzerte gegangen, wo ich Leute kennengelernt habe, bin herumgefahren, nach Sibirien, nach Tatarstan, und ich bin nach Burjatien gefahren, ein Land in der Russischen Föderation mit einer burjatisch-mongolischen Bevölkerung. Ich habe versucht, mir das andere Russland anzuschauen, diese indigenen, kolonisierten Kulturen. Daraus hat sich auch meine Beschäftigung mit dem russischen Imperialismus entwickelt, der für viele im Westen eigentlich kein Thema ist. Ich dachte, wie kann es eigentlich sein, dass niemand davon etwas weiß, habe mich mit den Leuten getroffen, mit ihnen über ihre Familiengeschichten geredet, mit Menschen, die noch in der Sowjetunion gelebt hatten, oder mit ihren Kindern, denen sie Geschichten darüber erzählt hatten. Es ist natürlich leichter, mit jungen Leuten in Kontakt zu kommen, aber so kam ich an diese Geschichten. Zum Beispiel wurde in der Sowjetunion vielerorts die Ausübung von Religionen verboten, in Burjatien wurden mehrere buddhistische Geistliche und Schamanen ermordet. Ich habe versucht, dieses Wissen zu bündeln und nach Deutschland mitzubringen, auch Texte für die deutschen Medien zu schreiben, für die taz, für Analyse & Kritik, für die ZEIT. Die Texte sind alle auf meiner Seit zu finden.
Norbert Reichel: Vielleicht erzählen Sie noch etwas über Burjatien. Über diese Region weiß in Deutschland kaum jemand etwas.
Anastasia Tikhomirova: Ich habe auf Instagram eine Umfrage gemacht, als ich von Moskau nach Burjatien geflogen bin, genau gesagt nach Ulan-Ude, das ist die Hauptstadt. Da habe ich gefragt, wer den Namen kennt, schon mal dort war, wo es liegt. Etwa 85 % wussten es nicht und die, die es wussten, hatten zum größten Teil post-sowjetischen Bezug. Burjatien ist eine Region südlich des Baikal-Sees, gehört eigentlich noch zu Sibirien, aber verwaltungsmäßig zum Fernen Osten. Es ist eine der ärmsten Regionen in der Russischen Föderation. Mehr als 20 % der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze. Das sieht man auch an der Architektur der Städte. Viele Leute leben in einfachen Holzhäusern, haben kein fließendes Wasser, gehen zum Brunnen, um Wasser zu holen. Das können sich nur wenige vorstellen, wenn sie über Russland nachdenken und das prunkvolle prosperierende Moskau vor sich sehen. Der Staat pumpt alle Gelder in den Kreml. Was aus diesen Regionen nach Moskau kommt, geht auch nicht mehr zurück. Die Regionen bleiben arm, obwohl sie einen Großteil des russischen Wohlstands erwirtschaften, Öl und Gas, auch Holz. Sibirien ist ein sehr wichtiger Standort der Holzwirtschaft. Dessen Ausbeutung wirkt sich auch auf die ökologischen Bedingungen aus.
Burjatien ist eine von Armut gezeichnete Region, buddhistisch und schamanistisch geprägt, die größte buddhistische Kultur in der Sowjetunion beziehungsweise der Russischen Föderation. Die buddhistische Kultur wurde in der Sowjetunion unterdrückt, aber seit den 1990er Jahren wird versucht sie zu restaurieren. Putin stellt sich mit den vor Ort agierenden Politikern und Staatsoberhäuptern gut. Er betont immer Multiethnizität und Multireligiosität, stellt auch Gelder zur Verfügung, um zum Beispiel religiöse Stätten wiederaufzubauen oder sie auszubauen. So stehen viele Muslime und Buddhisten hinter ihm, weil sie seiner Performance Glauben schenken.
Burjatien ist nicht so reichhaltig bevölkert. Die Straßen sind alle auf Russisch ausgeschildert, manche auch auf Burjatisch. Viele Burjat*innen haben jedoch verlernt, Burjatisch zu sprechen, weil diese Sprache in der Sowjetunion stark unterdrückt wurde. Ähnliches gilt auch für viele andere Minderheitensprachen innerhalb der ehemaligen Sowjetunion. Auch in der Ukraine lässt sich Ähnliches beobachten. Ukrainisch wurde durch die Russifizierung und Sowjetisierung verdrängt, weil es von den Russen als ungebildet und dörflich angesehen wurde, während Russisch als die lingua franca galt. Als ich in Burjatien war, gab es mehrere dekoloniale Ausstellungen zur burjatischen Kultur und Sprache. Ich habe mich außerdem mit burjatischen Feministinnen unterhalten, die sagten, sie selbst sprächen sie schlecht, wollten aber, dass ihre Kinder sie wieder erlernten, auch wieder burjatische Bücher lesen. Tatsächlich ist dieser kulturelle Verlustprozess schon sehr weit fortgeschritten. Nicht so in Tatarstan, wo ich auch während meiner Zeit in Russland gewesen bin. Da sprechen noch viele Menschen Tatarisch. In Burjatien ist das leider nicht so.
Norbert Reichel: In Westeuropa gibt es mehrere Regionen, in denen die jeweilige Sprache gegenüber der Zentrale hochgehalten wird, z.B. Okzitanisch in Korsika und Südfrankreich gegenüber Paris, Katalanisch in Spanien gegenüber Madrid. Gibt es Ähnliches in den Regionen der Russischen Föderation, die Sie besucht haben?
Anastasia Tikhomirova: Ja, das gibt es, aber es ist marginal. Fast niemand möchte sich von Russland loslösen, schon weil es aus wirtschaftlichen Gründen nicht realistisch ist, da alles von Moskau abhängt. Diese Unabhängigkeitsbestrebungen gibt es in Burjatien zum Beispiel nicht, keine wütende Opposition gegen den russischen Kolonialismus, sondern einfach den Versuch, die eigene Kultur neben der Russischen wiederherzustellen und eine Koexistenz durch Ausstellungen, durch Schulbildung zu ermöglichen. Viele burjatische Feministinnen führen jedoch an, dass dieser Kulturrestaurationsprozess an sich zwar gut ist, aber damit noch mehr archaische Werte wiederhergestellt werden. Sie versuchen deshalb eine feministische Dekolonisierung voranzutreiben, dass man zwar die burjatische Kultur nicht in Vergessenheit geraten und sie wiederaufleben lässt, sie aber auch modernisiert.
Die Rollenbilder sind in der russischen Kultur schon sehr verfestigt, umso mehr in der burjatischen, dass beispielsweise die Frauen sehr jung heiraten und dann nur für den Haushalt zuständig sind und viele Kinder kriegen sollen. Als ich mit Feministinnen sprach, prangerten sie auch an, dass die Feministinnen in Moskau und St. Petersburg viel mehr Rückhalt hätten, radikaler und in ihren Themen weiter wären, während sie selbst teilweise noch elementaren Sexismus, wie z.B. sexistische Werbung oder Witze erklären müssten, oder erst damit anfangen häusliche Gewalt als Problem zu thematisieren. Jede zehnte durch häusliche Gewalt ermordete Frau im Weltvergleich ist eine russische Bürgerin. Die Zahl von Fällen häuslicher Gewalt ist in Russland anormal hoch.
Norbert Reichel: Gibt es da Unterschiede zwischen Burjatien und Moskau?
Anastasia Tikhomirova: Das würde ich nicht sagen. Das macht keinen Unterschied, ob der Mann, der zu Tode schlägt, ein Russe oder ein Burjate ist. 2017 wurde ein Gesetz erlassen, das häusliche Gewalt entkriminalisiert, weil dies anscheinend die traditionelle Familie zerstören würde.
In Lebensgefahr – in Freiheitsgefahr
Norbert Reichel: Welche Rolle spielt Feminismus in der russischen Opposition?
Anastasia Tikhomirova: Feminismus wurde lange nicht ernst genommen, wie so oft, sodass Feministinnen als politische Bewegung weniger Repressionen erfahren haben als andere oppositionelle Bewegungen. Aber Feministinnen sind natürlich auch oppositionell zu „Einiges Russland“, der Partei Putins, zu christlichen fundamentalistischen Werten und patriarchalen Normen, die durch diese Partei hochgehalten werden. Jetzt ist es jedoch so, dass viele Feministinnen ins Gefängnis gehen oder ins Exil gezwungen werden. Beispielsweise Musikerinnen von Pussy Riot – ich habe letzte Woche noch ein Konzert besucht – wurden bereits 2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt und sind jetzt im Exil angekommen, bevor eine erneute Gefängnisstrafe drohte.
Feministinnen sind eine der wenigen Bewegungen, die jetzt aktuell gegen den Krieg mobilisieren und verschiedene Aktionen organisiert haben, Mahnmale aufstellen, beispielsweise Kreuze, auf denen sie Zahlen zum Krieg aufschreiben, zum Beispiel dass es über 22.000 Tote in Mariupol gibt oder wie viele ukrainische Kinder von russischen Soldaten getötet, wie viele Frauen vergewaltigt wurden. Das ist neben immer seltener werdenden Protesten eine der Aktionsformen.
Eine Feministin muss jetzt wohl mehrere Jahre in Haft, weil sie die Preisschilder von Produkten in Geschäften mit Informationen zum Krieg beschriftet hat. Seit Kriegsbeginn kann man bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen, wenn man den Krieg als solchen bezeichnet oder „die russländische Armee diskreditiert oder „Fakes über sie verbreitet“. Aktionsformen wie die oben genannte nennen sich „Tihii Piket“, einsamer Protest. Dazu gehört beispielsweise, dass sich Menschen etwas an die Kleidung heften, womit man sieht, dass sie gegen den Krieg sind. Selbst dafür kann man verhaftet werden, oder z.B. wenn jemand blau-gelbe Schuhe trägt oder ein blau-gelbes Outfit. Bei den Anlässen zu Ostern und dem Tag des Sieges am 9. Mai verschickten Feministinnen Gedichte als Grußkarten, wie man das in Russland macht, die aber umgeschrieben sind, sodass ihr Inhalt einen Appell gegen den Krieg beinhaltet.
Norbert Reichel: Sie protestieren und opponieren unter Lebensgefahr.
Anastasia Tikhomirova: Unter Lebensgefahr, zumindest unter Freiheitsgefahr. Freiheitsgefahr kann auch Lebensgefahr bedeuten, es wird gefoltert, die Haftbedingungen sind unzumutbar, manche entwickeln in der Haft psychische Probleme. Eine Bekannte von mir, Daria Serenko, auch feministische Aktivistin, saß jetzt 15 Tage in Haft. Sie hatte vor einigen Monaten ein Camp initiiert, in dem Feministinnen kostenlose psychologische Hilfe erhalten und sich ausruhen konnten, gerade wenn man jeden Tag Angst haben muss, die Polizei könnte vor der Tür stehen oder der Familie würde etwas angetan. Das hat sich seit Kriegsbeginn noch einmal verschlimmert.
Norbert Reichel: Hat die russische Opposition überhaupt noch eine Chance?
Anastasia Tikhomirova: Was meinen Sie, den Krieg zu beenden, das System zu stürzen?
Norbert Reichel: Letztlich geht es um die Frage nach der Herstellung und Garantie demokratischer Freiheiten. Ist da in den nächsten zehn oder zwanzig Jahren überhaupt dran zu denken?
Anastasia Tikhomirova: Ich denke erstmal nicht. Die Opposition ist sehr mutig, aber zu klein. Sie kann erreichen, Leute zu politisieren und größer zu werden. Es lässt sich durchaus beobachten, dass Leute anfangen, sich mit Politik zu beschäftigen. Die oppositionellen Organisationen, die ich verfolge, erhalten häufiger Anfragen, die Bitte, den Krieg zu erklären. Es könnte sein, dass sich die russische Gesellschaft zu größeren Teilen politisiert. Aber aktuell ist nicht vorstellbar, dass das Putin’sche System gestürzt werden könnte. Ich spreche ganz bewusst von „System“, denn es ist nicht unwahrscheinlich, dass Putin noch zehn oder mehr Jahre regiert – was ich nicht hoffe. Aber wenn er dann zu alt oder krank ist um weiter zu regieren, wird ein neuer Vertreter installiert. Ich finde es falsch diesen Krieg oder Russlands Politik zu personalisieren, denn es wird nicht mit diesem einen Herrscher enden. Es wird ein neuer Despot an die Macht kommen und der kann auch schlimmer als Putin sein. Man muss darauf hinarbeiten, den russischen Staat zu zerschlagen, das System, damit auch die Geheimdienste, zu zerstören und nicht nur auf einen Herrscherwechsel. Der wird wenig ändern. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr seit etwas mehr als dreißig Jahren, dieses Russland, dieses System gibt es jetzt seit etwa zwanzig Jahren. Vieles wurde aus der Sowjetunion übernommen, die Demokratisierung ist auch in den 1990er Jahren kaum vorangekommen.
Norbert Reichel: Die These ist plausibel, dass der KGB mit Putin die Macht wieder übernommen hat. Ich denke an das Buch von Catherine Belton mit dem an einen Agentenroman erinnernden Titel „Putin’s People“.
Anastasia Tikhomirova: Das neo-imperiale Weltbild Putins und seiner Leute speist sich aus alten imperialistischen, großrussischen, chauvinistischen Vorstellungen. Es gilt erst einmal, in der Gesellschaft damit aufzuräumen. Die Leute in Russland müssen diesen großrussischen Chauvinismus ablegen und die Gesellschaft entputinisiert und entstalinisiert werden. Dieser Prozess wurde auch von einigen Akteuren vorangetrieben. Die Aufarbeitung der eigenen Geschichte ist jedoch von staatlicher Seite nicht erwünscht, bspw. das Menschenrechtscenter Memorial wurde Dezember 2021 liquidiert. Viele progressive Akteure machen trotzdem mit ihrer Arbeit weiter, aber die meisten von ihnen außerhalb Russlands. Viele Menschen, die sich politisch betätigen, wurden hinter die Grenze gedrängt. Journalist*innen können zurzeit in Russland nicht arbeiten und sind deshalb ins Exil gegangen, damit sie ohne Zensur schreiben können. Sie haben immer noch ihre Quellen im Land, aber für sie selbst ist es in Russland zu unsicher geworden. Es ist schwer vorherzusagen, was passieren wird, aber die Opposition als einzige Kraft wird nicht ausreichen, den Krieg zu beenden und das System zu stürzen.
Norbert Reichel: Es ist meines Erachtens wichtig zu unterscheiden, was es bedeutet, ein System mit militärischen Mitteln zu stürzen oder dafür zu sorgen, dass die russische Armee wieder aus der Ukraine verschwindet.
Anastasia Tikhomirova: Ja, genau.
Norbert Reichel: Aber ich habe den Eindruck, das ist manchen nicht klar. Ich habe darüber in meinem Essay „Ukrainian Standoff“ geschrieben. Mein Eindruck ist, dass wir beide das sehr ähnlich sehen. Aber was können wir in Deutschland tun, um Russ*innen, die sich in Russland oder im Exil gegen den Krieg und gegen die Unterdrückung in Russland engagieren, zu unterstützen?
Anastasia Tikhomirova: Zurzeit ist es schwierig, als oppositionelle Russ*innen in Europa ein Visum, auch ein Arbeitsvisum zu bekommen, um arbeiten zu dürfen. Journalist*innen sind darauf angewiesen. Reporter ohne Grenzen setzt sich dafür ein, aber das müsste schneller und weniger bürokratisch gehen. Es ist wichtig, diese Prozesse zu erleichtern. Viele Russ*innen gehen zurzeit nach Tbilissi, nach Jerewan, nach Istanbul, einige auch nach Usbekistan. Aber hier in Deutschland, in Europa ist es sehr schwer, ein Visum zu bekommen. Es ist wichtig, sich mit Kolleg*innen in der Ukraine, in Russland zu vernetzen.
Norbert Reichel: Wird das in der Politik diskutiert?
Anastasia Tikhomirova: Es gab in Berlin einen Journalist*innenkongress, an dem auch Politiker*innen teilnahmen. Dort wurde darüber gesprochen. Es ist ein Anfang. Es gibt auch die Möglichkeit, die russische Opposition durch Spenden zu unterstützen. Das ist so etwas Ähnliches wie die Rote Hilfe in Deutschland: Ovd.Info. Es geht auch um kostenlose psychologische Hilfe. Auf der Seite sind Berichte über einzelne Personen zu sehen, über Verhaftungen, Folter, Polizeigewalt. Jede Verhaftung ist dort mit Namen aufgeführt. Es lohnt sich, für diese Organisation zu spenden, auch die Beiträge zu teilen. Es gibt sehr viele Medien, zum Beispiel Holod, iStories Media, Mediazona (Mitbegründerin ist u.a. Maria Alyochina von Pussy Riot), die oppositionell agieren und sehr guten Journalismus machen. Es gibt ein Studierendenmagazin, DOXA, ein sehr junges Magazin, mit täglichen Podcasts. Einige Redakteur*innen waren jetzt länger in Haft. Es gibt Meduza mit Sitz in Riga, dort ist jetzt auch die Novaja Gazeta Europe. Diese Medien versuchen, den europäischen Leser*innen die oppositionelle russische Sicht der Dinge zu vermitteln. Es lohnt sich, diese russischen Medien zu unterstützen, finanziell, aber auch durch Lesen und Teilen der Artikel.
Norbert Reichel: Wichtig wäre auch – Sie deuteten es an – die Namen der Engagierten, die für ihr Engagement verhaftet wurden und werden, zu nennen. Das ist viel konkreter als die pauschale Aussage, es wurden Leute verhaftet.
Anastasia Tikhomirova: Absolut. Ich habe zuletzt noch einen Tweet einer russischen Oppositionellen gelesen, die Leute, die jetzt noch auf die Straße gehen und gegen den Krieg auftreten, diese Leute sind unheimlich mutig. Sie wissen, dass sie und ihre Namen morgen vergessen sein werden, aber sie machen es trotzdem. Diese Leute sind mein Russland. Es gibt bekannte Oppositionelle – man kann nicht alle Namen der politischen Gefangenen auswendig nennen – man kann aber ihre Geschichten erzählen, man kann den Leuten Mut machen, zeigen, dass sie gesehen werden, dass ihre Taten nicht vergebens sind. Mein Russland sitzt gerade im Gefängnis und irgendwann, früher oder später, wird es frei sein, diese Hoffnung habe ich noch.
Pazifismus? Westsplaining!
Norbert Reichel: Vielleicht schauen wir uns die Situation in Russland und in der Ukraine noch einmal von einer anderen Seite an. In Deutschland gibt es viele Menschen, die den Pazifismus sozusagen mit der DNA aufgenommen haben und über den Krieg mit Formeln sprechen, die sie aus den Zeiten der Friedensbewegung der 1980er Jahre mitgenommen haben. Ich halte es für gefährlich, Menschen in Russland und in der Ukraine mit diesen Kriterien zu bewerten. Auf Ihrer Seite gibt es ein Interview mit Anton Dorokh vom 17. März 2022 in Jungle World über die vom ihm gemeinsam mit einigen andere gegründete ukrainische Gruppe Vitsche in Berlin. Anton Dorokh spricht von einem „falschen Verständnis von Pazifismus“, wenn jede Unterstützung mit Waffen grundsätzlich abgelehnt würde. Was hat linke Politik mit Pazifismus zu tun?
Anastasia Tikhomirova: Ich glaube, das ist so ein Bauchgefühl. Dass Waffen stets Gewalt bedeuten und daher per se schlecht sind. Egal, ob es Gegengewalt ist, ob es Wehrhaftigkeit oder ob es Angriffsgewalt ist – das wird alles gleichgesetzt. Das ist ein großer Denkfehler, weil hinter Gewalt auch immer eine bestimmte Form von Motivation oder gar Ideologie steckt. Wenn Putin die Ukraine unter einer faschistischen und imperialistischen Ideologie mit Waffengewalt angreift ist das nicht dieselbe Gewalt, die die Ukraine anwendet, um sich zu wehren, weil sie für die Demokratie und ihre nationale Selbstbestimmung einsteht. Es misslingt manchen, das zu unterscheiden.
Ich selbst bin keine Pazifistin, noch nie eine gewesen. Ich bin auch keine Bellizistin. Es ist schön, wenn man Konflikte diplomatisch lösen kann, aber bei Angriffskriegen ist das oft nicht mehr möglich, deshalb stehe ich für einen militanten Pazifismus, also einen Frieden, den man gegebenenfalls mit militärischen Mitteln verteidigen muss. Bei Kriegen apathisch bleiben, mit guten Worten zureden? Man sieht ja, dass Russland nicht verhandeln will. Ich habe einmal in einem Streitgespräch einen der Unterzeichner des offenen Briefes von Alice Schwarzer und anderen, Harald Welzer, gefragt, ob er immer noch unterschriebe, wenn Putin sich die DDR wiederholen wollte. Da hat er aufgeschnaubt und gesagt: „Ich habe jetzt keine Lust mehr.“
Über das Leid der anderen lässt sich leicht sprechen, spekulieren, die eigenen ideologischen Worthülsen und Gedanken reproduzieren. Ich kenne keine Person aus der Ukraine, auch keine linke Ukrainer*in, die jetzt sagt, bitte keine Waffen. Das ist so absurd. Man muss verstehen, in welchem Stadium dieser Krieg mittlerweile ist, dass es ohne ausreichende Waffenlieferungen auf einen langen, zermürbenden Abnutzungskrieg hinauslaufen wird. Wenn die eine Seite den Krieg erklärt, hat die andere Seite das Recht, genauso zu Waffengewalt zu greifen. Trotzki schrieb mal, einander bekämpfende Heere sind immer mehr oder weniger symmetrisch, gäbe es nichts Gemeinsames in ihren Kampfmethoden, könnten sie einander keine Schläge zufügen. Das zeigt doch sehr deutlich, was Krieg ist. Sonst ist es Genozid, Vernichtung. Soll sich die Ukraine der Vernichtung, dem Genozid kampflos ergeben?
Norbert Reichel: Harald Welzer kann – so wie ich ihn kenne – viel differenzierter denken, aber da wurde – das sage ich jetzt ganz ungeschützt – bei ihm wohl etwas sehr Grundsätzliches angetriggert. Wir hatten nun die beiden Briefe, den mit dem Namen von Alice Schwarzer verbundenen Brief, den auch Harald Welzer unterschrieben hatte, und die von Ralf Fücks initiierte Antwort.
Anastasia Tikhomirova: Den Brief von Ralf Fücks habe ich auch unterschrieben.
Norbert Reichel: Ich auch. Gut fand ich das in der ZEIT abgedruckte Gespräch zwischen Thea Dorn und Juli Zeh. Juli Zeh, die auch den Brief von Alice Schwarzer unterschrieben hatte, argumentiert differenzierter als Harald Welzer oder Alice Schwarzer. Alice Schwarzer hatte ja der Ukraine geradezu die Staatlichkeit abgestritten.
Anastasia Tikhomirova: Alice Schwarzer hat zuletzt in einem Interview statt von den Ukrainer*innen von den Ungar*innen gesprochen. Das hat mir schon gezeigt, dass sie keine Ahnung hat. Ukraine, Ungarn, alles im Osten, einfach dasselbe.
Norbert Reichel: Wie bewerten Sie die Resonanz der beiden Briefe in der linken Community, gerade in Ihrer Generation, auch im Unterschied zu den anderen Generationen? Juli Zeh ist 25 Jahre älter als Sie, ich bin 44 Jahre älter, das sind schon sehr verschiedene Erfahrungen, im Grunde drei Generationen.
Anastasia Tikhomirova: Ich nehme die Diskussion unter jungen Leuten etwas differenzierter wahr, ich habe das Gefühl, dass es weniger Leute gibt, die diesen plumpen Pazifismus vertreten, der sich auch aus einem klaren Anti-Amerikanismus speist, der meint, dass alle Kriege gleich sind, gleichviel welche Form von Krieg, ob Hitler oder die Alliierten, das hat auch etwas mit deutschem Schuldbewusstsein zu tun, aber das führt jetzt zu weit. Unter jungen Leuten meiner Generation stoße ich auf mehr Verständnis. Ich habe aber auch irritierende Nachrichten bekommen, als ich für Spenden für das antifaschistische Militär in der Ukraine geworben habe, z.B. dass Antifaschismus und Militär ja zwei grundverschiedene Dinge wären und ich für Gewalt werben würde.
Unter jungen Leuten gibt es aber auch viele Linke, die der russischen Propaganda auf den Leim geben, linke Ableger von Russia Today „Redfishstream“ lesen, die glauben, dass in der Ukraine eine von der USA etablierte Regierung herrscht, dass das alles Nazis wären oder die NATO tatsächlich die Schuld für den Krieg trägt. Das ist so ein plumper anti-amerikanischer Anti-Imperialismus und weil man jetzt den russischen Imperialismus sieht, den man vorher nicht gesehen hat, heißt es jetzt: aber der US-Imperialismus ist der schlimmste. Man muss nicht die NATO kritiklos abfeiern, aber sie ist einfach nicht Teil dieses Krieges, keine Kriegspartei. Allein die Reaktion Putins auf die NATO-Beitrittsanträge von Schweden und Finnland ist relativ ruhig ausgefallen. Das zeigt, dass das nicht der Hauptpunkt ist. Eher ist der Hauptpunkt, die sogenannte russische Welt zu vereinigen, Russkij Mir, und die Ukraine zu erobern und einzugliedern.
Es gibt einen Terminus, der jetzt häufiger verwendet wird, wenn Menschen aus dem Westen Osteuropäer:innen ihre eigene Geschichte erklären wollen, oder, was nun zu tun ist: Westsplaining. Der Begriff geht auf eine bosnische Autorin, Maria Todorova, zurück, die zur Zeit der Jugoslawienkriege das Buch „Imagining the Balkans“ schrieb. Sie kritisierte, dass viele westeuropäische Autor*innen von oben herab, ignorant und paternalistisch über den Balkan schrieben, ihn als barbarisches, unzivilisiertes Stück Land darstellten. Ähnliches Verhalten und den kolonialen Blick von Seiten einiger westlicher Intellektueller kann man jetzt auch in Bezug auf die Ukraine beobachten.
Ich habe Harald Welzer gefragt, ob er sich nicht wundere, dass kein*e einzige*r osteuropäische*r Intellektuelle*r den Brief unterschrieben hätte. Er meinte, das sei doch ein Brief an unsere deutsche Bundesregierung. Osteuropäer*innen, Slaw*innen sind die größte Gruppe von Migrant*innen in Deutschland! Und ich als Deutsche mit osteuropäischem Migrationshintergrund wundere mich, dass das nicht auffällt. Wieso sollten wir kein Mitspracherecht haben? Das ist so ein kolonialer Blick auf Osteuropa, mit dem man alles als einheitlichen homogenen Raum begreift, eine Kultur, eine Sprache – das ist dann Russisch – und den Leuten keine eigene Theorie zugesteht. Welzer sprach von der Theoriebedürftigkeit der Lage. Sorry, es gibt seit Jahren in Osteuropa Soziolog*innen und Historiker*innen, die vor diesem Krieg gewarnt haben, die schon genug Theorie entwickelt haben. Vielleicht sollte man sich diese Theorien hier in Deutschland einmal anschauen anstatt völlig weltfremd etwas selbst zu entwickeln. Das ist so arrogant.
Norbert Reichel: Dazu passt das auf Ihrer Internetseite verlinkte Interview von David Ernesto García Doell mit dem Moskauer Soziologen Greg Yudin vom 30. März 2022 für „Analyse und Kritik“. Greg Yudin sagte: „Hier findet gerade eine Entwicklung vom Autoritarismus hin zu einem totalitären Regime statt.“ Dies belege die Verbreitung der Z-Bewegung. Er verwies auch auf Reinheitsnarrative in der Putin’schen Propaganda. Das wären Machtansprüche, die Greg Yudin als „Bonapartismus“ im Sinne der Marx‘schen Analyse in „Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte“ bezeichnete, eine Schrift, die meines Erachtens manchen modernen autoritär denkenden Präsidenten und nicht zuletzt die Ohnmacht mancher Opposition bestens erklärt.
Anastasia Tikhomirova: Auf jeden Fall. Greg Yudin warnte schon sehr früh vor dem Krieg und sagte, dass es Putin nicht nur um den Donbass ginge, sondern um Kiew, Charkiw, Odessa, um die ganze Ukraine. Jetzt erhält Greg Yudin Einladungen zu deutschen Talk-Shows, aber ich frage, warum ladet ihr diese Leute erst jetzt ein? Warum waren vorher fast nur Putinversteher dabei, die auch jetzt noch zur besten Sendezeit bei Lanz und Co. hocken? Das zeigt, dass man alles, was einem nicht schmeckt, das eigene Narrativ, die eigene Meinung konterkariert, nicht hören will.
Auf einem Kongress, dem taz lab, den ich mit organisiert habe, hatten wir einen Küchentisch als Diskussionsbühne, an den sich auch jemand aus dem Publikum dazusetzen konnte. Da kam eine ältere Frau, die sich beteiligte, als ich mit einem aus Moskau kommenden armenischen Aktivisten diskutiert habe. Sie wollte wissen, wie wir mit Putin, mit Russland reden könnten, und sagte, Waffenlieferungen wären ganz schlimm.
Norbert Reichel: Als wenn noch nie jemand mit ihm geredet hätte. Die Versuche der de-eskalierenden westlichen Reisediplomatie vor dem 24. Februar 2022 waren schon beeindruckend, leider auch in ihrer Erfolglosigkeit.
Anastasia Tikhomirova: Ich habe die Frau, da sie einen längeren Monolog hielt, unterbrochen, da sagte sie, sie wolle nicht mich fragen, sondern den Gast. Dann sagte der genau das Gleiche wie ich, etwas mehr ausgeführt. Die Frau fühlte sich in ihrem Narrativ nicht bestätigt und ging. Das zeigt mir diese deutsche Überheblichkeit und Arroganz, weil man sich selbst die Deutungshoheit zuschreibt, anstatt Betroffenen zuzuhören. Das ist immer falsch, aber gerade jetzt in einem Krieg, den Deutschland auch mitverschuldet hat, weil Deutschland immer noch Milliarden an Russland zahlt, sich lange nicht hat umstimmen lassen, weil noch vor Kriegsbeginn Waffen an Russland geliefert wurden.
Alles ist miteinander verknüpft, man sieht dies auch jetzt mit Russland und Ukraine als weltweit größte Weizenexporteure, sodass Preissteigerungen und Hungersnöte vorhersehbar sind. Wir alle tragen Verantwortung, vor allem all die, die Geschäfte mit Russland gemacht haben, und da gehört Deutschland ganz vorne mit dazu.
Antizionismus und Gedächtnistheater
Norbert Reichel: Ein anderes beliebtes linkes Thema ist neben dem Pazifismus der Antizionismus. Ein klassisches Beispiel ist Judith Butler, die bei all ihren Verdiensten um die Gender-Forschung, die ich sehr schätze, sich den Fehltritt leistete, die Hamas und die Hisbollah als linke antikolonialistische Gruppen zu bezeichnen. Das finde ich schon sehr realitätsfremd.
Anastasia Tikhomirova: Zur Rechtfertigung solcher Einstellungen werden oft Jüdinnen und Juden als Feigenblatt genannt. 95 Prozent aller Jüdinnen und Juden weltweit sind statistisch gesehen keine Antizionist*innen, aber das spielt dann wieder mal keine Rolle, weil es nicht in das Narrativ passt.
Norbert Reichel: Sie waren noch im April dieses Jahres in Israel. In unseren Gesprächen haben Sie – mir sehr sympathisch – sich als Zionistin bezeichnet. Aber Sie sind keine Jüdin?
Anastasia Tikhomirova: Nein, ich bin einfach Russin. Ich habe mit vielen Jüdinnen und Juden zu tun. Meine erste Kindheitsfreundin war russische Jüdin, ich habe ein paar jüdische Familienmitglieder. Deshalb war das Thema für mich immer sehr präsent. Antizionismus und Antisemitismus gab es auch in der Sowjetunion, keine Frage, aber es gibt dort heute nicht diese obsessive Beschäftigung mit Jüdinnen und Juden wie in Deutschland. Ich glaube, das ist in Deutschland auch der Geschichte geschuldet, dass die Deutschen Auschwitz den Juden nie verzeihen werden. Das sagte Zwi Rex. Dass sie immer dieses Täterdasein fristen müssen – ich bin der Meinung, dass sie es fristen müssen – das wollen sie nicht „verzeihen“. Wenn man die gesamte Aufarbeitung anschaut – man kann es auch „Gedächtnistheater“ nennen, wie es Max Czollek in Anlehnung an Y. Michal Bodemann beschrieb – sieht man, dass sich Täter selbstzentrieren und Jüdinnen und Juden nur als Opfer vorkommen und nicht als Subjekt, das schließlich in Israel souverän und wehrhaft geworden ist. Das schmeckt manchen Deutschen wieder nicht, es nennt sich kollektive Schuldabwehr.
Etwa 50 Prozent der Deutschen sind nach diversen Umfragen der Meinung, man solle endlich aufhören, sich mit dem Holocaust zu beschäftigen. Ich denke, wir sind nicht am Ende, sondern erst am Anfang der Aufarbeitung. Es gibt einige Politiker*innen, die das auch so sehen, aber es gibt auch viele, die keinen klaren Begriff von Antisemitismus haben, auch keinen klaren Begriff von der Shoah. Es war nicht nur Faschismus, es war der Nationalsozialismus und dessen Hauptmotiv war der Antisemitismus. Wir brauchen eine breitere Öffentlichkeit dafür, was moderner Antisemitismus ist, nicht bloßer Judenhass, sondern ein anti-modernes Ressentiment. Diese Obsession mit Israel und die doppelten Standards in Bezug auf den einzigen jüdischen Staat gehören dazu. Bis 1967 waren auch die Linken in Deutschland solidarisch mit Israel. Dann änderte sich das, weil Juden Wehrhaftigkeit im 6-Tage-Krieg bewiesen.
Meines Erachtens sind aktuell palästinensische Zivilist*innen diejenigen, die am meisten unter dem Nah-Ost-Konflikt leiden, weil sie keine eigene Lobby haben, auch nicht in ihrem eigenen Land, sondern nur die palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas, denen das Wohl der eigenen Bevölkerung egal ist, die ihre eigenen Narrative durchsetzen wollen. Denen ist auch nicht geholfen, wenn Antisemitismus reproduziert wird und Juden erneut als übermächtige Macht, als die neuen Faschisten – und was ich da alles gelesen habe – beschrieben werden.
Norbert Reichel: Aus meiner Sicht ist für die Hamas die zivile Bevölkerung in Gaza nur als Geiseln von Interesse.
Anastasia Tikhomirova: Das würde ich auch unterschreiben.
Norbert Reichel: Hinzu kommen die Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon, in denen in der Nakba vertriebene Menschen ihren Flüchtlingsstatus vererben, sodass aus etwa 800.000 Vertriebenen etwa 3,5 Millionen wurden. Eine Integrationspolitik gab es in diesen Ländern nicht, wohl auch kein Interesse. Was oft nicht gesehen wird, ist die Tatsache, dass damals aus den arabischen Ländern ebenso viele Jüdinnen und Juden vertrieben wurden, die in Israel Zuflucht fanden.
Anastasia Tikhomirova: Man spricht ja auch von der jüdischen Nakba. Ich halte es für schlimm, wenn die palästinensische Nakba geleugnet wird. Jede Vertreibung ist schlimm. Aber es gab eben auch eine jüdische Nakba. Viele Jüdinnen und Juden hätten nicht überlebt, wenn sie nicht in Israel Zuflucht gefunden hätten, aus Marokko, aus dem Iran, aus dem Irak, aus Kurdistan, Äthiopien, Eritrea.
Eine neue Sicht auf Intersektionalität
Norbert Reichel: In unserem Gespräch spielte die Frage, was linke Politik sei, immer wieder eine Rolle. Meines Erachtens vermengt linke Politik heute Narrative, die nicht zusammengehören: Kern linker Politik war eigentlich immer die Frage nach sozialer Gerechtigkeit. Dieses Narrativ wird jedoch immer wieder mit Narrativen des Pazifismus, des Anti-Imperialismus, des Anti-Zionismus vermischt. Meines Erachtens brauchen wir eine neue Begriffsklärung, was linke Politik ist und was sie nicht ist.
Anastasia Tikhomirova: Der Begriff dessen, was links ist, ist fluide. Ich kenne Leute, die bezeichnen sich als Kommunist*innen, sagen aber, dass sie sich mit der heutigen Sicht dessen, was links wäre, nicht mehr identifizieren könnten, nicht mit dieser Islamismuskuschlerei, nicht mit Antizionismus und Israelhass, mit der Nähe zu Putins Russland und dem unkritischen Abfeiern der Sowjetunion. Ich bezeichne mich als links, aber manchmal bin ich schon am Verzweifeln.
Norbert Reichel: Sie haben in ihren Texten mehrfach darauf hingewiesen, dass Antisemitismus und Antislawismus sich gegenseitig bedingen oder zumindest verstärken. In einem Text vom 3. Mai 2022 haben Sie sexistische Narrative im Antislawismus benannt, auch aus Ihrer eigenen persönlichen Erfahrung.
Anastasia Tikhomirova: Diskriminierungsformen kommen selten alleine. Das Intersektionalitätskonzept wird allerdings nicht immer zu Ende gedacht, weil Diskriminierung oft nur an äußeren Merkmalen festgemacht wird, weil Jüdinnen und Juden als solche nicht erkennbar sind und weil Intersektionalist*innen den Antisemitismus oft nicht auf dem Schirm haben.
Karin Stögner führte den Begriff der „Intersektionalität von Ideologien“ ein. Ich kann ich sehr viel damit anfangen, wenn sie davon spricht, dass sich Ideologien gegenseitig verstärken und durcheinander und ineinander wirken. Das ist auch beim Antisemitismus so, beispielsweise bei der Rede vom Großen Austausch und den Aussagen, an allem sind die Juden schuld, an der Zuwanderung, an der Islamisierung des Abendlandes, am Feminismus, der an der niedrigen Geburtenrate schuld ist, und die Strippen im Hintergrund ziehen die Juden.
Verschränkungen sehen wir auch bei Sexismus, Antisemitismus, Antislawismus. Die eine Diskriminierungsform verstärkt die andere. Jüdische Frauen litten im Nationalsozialismus unter einer doppelten Ausgrenzung, als Jüdinnen und als Frauen, sie wurden vergewaltigt, an ihnen wurden gynäkologische Experimente durchgeführt.
Antislawismus ist die Feindschaft gegen Slaw*innen, die aber nicht alle gleichermaßen trifft. Bei slawischen Frauen kommt der Sexismus hinzu. Und wenn sich das noch mit Klassismus verschränkt, haben Sie eine dreifache Diskriminierung, sodass sich die Situation der Frauen noch einmal weiter prekarisiert. Ein Beispiel: die meisten Prostituierten in Deutschland kommen aus dem Raum Osteuropa. Viele sind Ukrainerinnen, Bulgarinnen, Rumäninnen. Sie werden rassifiziert, ihre Not, ihr Geldmangel wird ausgenutzt.
Ich bin nicht von Armut betroffen, das war ich zum Glück nie. Aber als Russin habe ich häufig rassistisch-sexistisches Verhalten erlebt, weil Männer mich aufgrund meiner Herkunft mit gewissen Vorurteilen und rassistischen Kommentaren, die sie für witzig hielten, begegneten. Die schlimmsten Sachen habe ich in meinen Text gar nicht hineingeschrieben. Dieses Thema erfährt auf jeden Fall zu wenig Aufmerksamkeit. Wer Diskriminierung erfährt, erfährt sie oft aus verschiedenen Gründen.
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juni 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 9. Juni 2022.Das Titelbild wurde mir von Katja Makhotina zur Verfügung gestellt. Es ist ein Ausschnitt aus Arina Nâberezhneva, Submissive Chain Swallowing Artist.)