„Jud, gib dein Geld (her), oder du bist des Todes“
Zur Genese und Aktualität einer antisemitischen Chiffre
„Ihr Bürger in den Städten, ihr berechnet einem Mann auf eurem Tisch einen Schilling, für den sechs Heller teuer genug kämen. Das ist alles unrechter Gewinn. Die Heuschrecken haben Menschengestalt, das heißt, dass du ein Christ bist mit Namen und ein Jude in deinem Werken (Handeln).“ (Berthold von Regensburg, Von den vier stricken, zitiert nach der vollständigen Ausgabe seiner Predigten Bd. 1, Wien 1862, Neudruck mit einem Vorwort von Kurth Ruth, Berlin 1965)
Das Gerücht über eine imaginierte besondere Affinität jüdischer Menschen zum Geld ist das weitverbreitetste, grundlegendste und umfassendste aller antisemitischen Vorurteile über jüdische Menschen. Ob in den berüchtigten, vom zaristischen Geheimdienst erfundenen „Protokollen der Weisen von Zion“, der Charta der Terrororganisation HAMAS (welche den Inhalt dieser „Protokolle“ als Wirklichkeitsbeschreibung begreift), oder in geraunten Leser-Diskussionsbeiträgen deutscher Medien: der Mythos vom weltverschwörerischen, betrügerischen und vermögenden Juden scheint omnimedial und polyglott. Unabhängig von Bildungsgrad, Alter, Sozialstatus oder Geschlecht: es lässt sich nahezu bei jeder Gelegenheit, zu jedem Thema und historisch rückblickend für jede Epoche eine antisemitische Chiffre pekuniärer Provenienz etablieren und die selbige hat sich zwischenzeitlich so weit in Pseudo-Wissen transformiert, dass sie in wissenschaftlichen Theorien zum Antisemitismus die Begriffe der „Alltagsreligion“ (Detlev Claussen) und des „kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov) mitgeprägt hat.
Antisemitische Verschwörungserzählungen und das Geld
Die Autoren wollen mit diesem Beitrag kurzen und prägnanten Einspruch erheben; Einspruch gegen die falsche Historizität der Existenz jenes vermeintlich „reichen Juden“, der durch alle Zeitalter mit „Zinswucher“ und „raffendem Kapital“ dem imaginierten „ehrlichem und bodenständigem Schuldner“ gegenübersteht. Einspruch aber auch gegen die „moderne Modalität“ des antisemitischen Verschwörungs-Phantasmas, in der der „reiche Jude“ durch gesellschaftliche Zwänge und christliches kanonisches Recht in die Rolle des Geldverleihs „gezwungen wurde“, und, quasi unschuldig, das antijüdische Vorurteil reproduziert.
Während Berthold von Regensburg die marodierenden Heuschreckenschwärme noch im Bilde des „Juden“ eindeutig antijüdisch markiert, bedient sich ein moderner Akteur desselben metaphorischen Bildes ohne Juden namhaft werden zu lassen. Das antisemitische Stereotyp klingt bei dem seinerzeitigen SPD Vorsitzenden Franz Müntefering (siehe Programmhefte der SPD im Januar und April 2005) folgendermaßen: „Wir müssen denjenigen Unternehmern, die die Zukunftsfähigkeit ihrer Unternehmen und die Interessen ihrer Arbeitnehmer im Blick haben, helfen gegen die verantwortungslosen Heuschreckenschwärme, die im Vierteljahrestakt Erfolg messen, Substanz absaugen und Unternehmen kaputtgehen lassen, wenn sie sie abgefressen haben. Kapitalismus ist keine Sache aus dem Museum, sondern brandaktuell.“
Verantwortungslose Heuschrecken fressen das ehrlich erworbene Geld der Deutschen, saugen dem bodenständigen Handwerker die ökonomischen Lebenskräfte aus und ziehen mit unrechtmäßig erworbenem Profit von Ort zu Ort. Was hat das mit Antisemitismus zu tun? Die obigen Zitate legen eine weit verbreitete und offensichtlich in Kontinuität verstetigte Mentalität eines gesellschaftlichen Stereotyps dar, welches Forschern aus dem Feld der Antisemitismusbekämpfung wohl vertraut ist. Die hier dokumentierte gesellschaftlich allgemein akzeptierte falsche Klarheit, die dem Mythos innewohnt, vergegenständlicht sich in der Karikatur eines machtaffinen vermögenden „Juden“, welcher in historischer Kontinuität zum Nachteil der gesellschaftlichen Mehrheit das eigene Vermögen rücksichtslos anhäuft, ja, im antisemitischen Duktus beschrieben, „zusammenrafft“.
Unausgesprochen steht im Raume, dass profitgierige Wesenheiten sich auf Kosten der nationalen „ehrlichen Unternehmer“ bereichern und lokal wie global ihr ausbeuterisches Geschäfts-Unwesen betreiben. Die Insinuation ist wirkmächtig: jeder Zuhörer weiß das Unausgesprochene begrifflich zu benennen; keiner spricht es aus. Die Figur der Heuschrecken, häufig angereichert durch die Begriffe „der Banker“, die „Finanzelite“ oder die „Hedgefonds Manager“ deutet die Zielrichtung des gesellschaftlichen Furors unmissverständlich an. Identifiziert wird im Bilde der Heuschreckenschwärme, die Imagination eines seit dem christlichen Mittelalter wohlbekannten Vorurteils: Die unterstellte Affinität von „Juden“ zum Geld und damit zur „Macht“ und deren Kontrolle zeichnet die vermeintlich betrügerische Triade des „Seins des Juden“ aus. Hierzu gehören insbesondere die imaginierten Attribute des undurchsichtigen Geldhandels und die dubiosen Geschäfte des Geldverleihs.
Wer für die Bundesrepublik eine „Bewältigung“ oder gar „Überwindung“ des antisemitischen Stereotyps des vermögenden Juden annimmt, sieht sich durch Kontinuität und Persistenz dieser Chiffre widerlegt. Schon einer der Gründerväter der Bundesrepublik, Konrad Adenauer, wusste zu bemerken, dass „die Macht der Juden auch heute noch, insbesondere in Amerika“ vorhanden und „nicht (zu) unterschätzen“ sei, so Adenauer im Interview mit Günter Gaus im Jahre 1966. Exemplarisch, so ließe sich hinzufügen, reiht sich ebenso Richard David Precht in die Reihe der Vorurteilswissenden über das Judentum ein: wusste er doch in seinem Podcast mit Markus Lanz im Oktober 2023 seine Zuhörer mit der Pseudoerkenntnis zu überraschen, dass es ultraorthodoxen Juden aus religiösen Gründen verboten sei zu arbeiten und lediglich der „Finanz- und Diamantenhandel“ von diesem Verbot ausgenommen wären. „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“, benennt es Theodor W. Adorno in „Minima Moralia“.
Zuweilen taucht die vormals konstruierte antijüdische Verve nicht nur ausschließlich in bewusst antisemitischen Konnotationen auf, sondern offenbart sich als Phänomenologie eines alltagstauglichen Eigenlebens. Noch IfO Direktor Hans-Werner Sinn insinuiert im Oktober 2008 im Tagesspiegel zur „Finanz-Krise“ im Tagesspiegel die falsche Klarheit eines antisemitischen Mythos: „1929 traf es die Juden, heute die Manager“. Er entschuldigte sich nach heftiger Kritik bei Charlotte Knobloch, der damaligen Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland. Hier wird geradezu in exkulpatorischer Absicht ein Beispiel für jenen Voreingenommenheits-Antisemitismus gegeben, in dem das als „bewältigt“ imaginierte Vorurteil in der Figur der erklärenden Unschuld sich reproduziert; nämlich, dass „die Juden“ an den Schaltstellen der Finanzwirtschaft saßen (und sitzen) und phantasierten „eigennützlichen Einfluss“, worauf auch immer, praktizieren. Zeitgenössisch durch den antisemitischen Impetus der „bösen Absicht“ denunziert, verspricht die moderne „erklärende Konfiguration“ den „reichen Juden“ aus der Figur der Verworfenheit der Bosheit in eine Zwangssituation der ausbeuterischen Notwendigkeit zu exkulpieren.
Pseudologik und kontrafaktische Historisierung
Die pseudo-logische retrograde Begründungs-Kette hierzu ist leicht geknüpft. Da durch die Widrigkeiten des mittelalterlichem Gilderechts und der katholischen Rechtsvorschriften des christlichen Zins-Verbots der Geldverleih quasi zum Erliegen kommt und die ökonumistische Exklusion jüdischer Menschen aus der Gesellschaft sich konsolidiert, zwingt die vorgeblich ökonomisch-gesellschaftliche Rationalität jüdische Menschen in das monopolistische Verleih- und Zinswucher Geschäft. Aus dem Vorwurfs-Antisemitismus wird somit flugs der Erklärungs-Antisemitismus, welcher lediglich die moralische Zuordnung zum imaginierten historischen Faktum neu deutet, dabei aber die antisemitische pseudohistorische Imagination neu reproduziert und konfiguriert. Kurzum, nicht die Faktizität des Konstruktes eines „Juden“ in der Geltung des „stets vermögenden Juden“, also der gesamte Charakter des antisemitischen Bildes wird analytisch in Frage gestellt, sondern lediglich die moralische Bewertung des vermeintlichen Faktums. Der Erklärungs-Antisemitismus verbleibt im tradierten antisemitischen Muster, indem er die freche Unterstellung der unlauteren Geldbereicherung jüdischer Menschen nicht ausräumt, sondern in eine moderne Narration der Opfer der Zeitumstände umdeutet.
Das Vorurteil, das seiner negativen Wertung entledigt ist, bleibt gleichwohl ein Vor-Urteil im ursprünglichen Sinn des Wortes. Die Problematik der anti-antisemitischen Intention dabei ist, dass in Kommentaren in Bildungsmedien diese Vorurteile zwar verurteilt, aber eben nicht durch analytische Urteile im Sinne einer passenden historischen Beurteilung ersetzt werden.
Quasihistorisch erfolgt die Affirmation und stetige Reproduktion des antisemitischen Gerüchtes einer bemerkenswerten historischen Genese. Am Anfang steht zumeist die Erfindung einer historischen Beweiskette; in unserem Fall die Herstellung der Hypothese eines „christlichen Zinsverbots“, das heißt des „kirchlichen und obrigkeitsstaatlichen Verbots“ der Zinsnahme bei Verleih-Geschäften. Notwendig mitgedacht ist in dieser retrograden Narration stets die gesellschaftliche Figur des „zins-wuchernden Juden“, welcher auf unlauterer Weise „Christenmenschen“ auspresst und sich „bereichert“.
Dieser Erklärungsversuch enthält mehrere Annahmen: erstens sei den Christen der Geldverleih gegen Zins qua kanonischem Verbotsvorschriften nicht erlaubt und zweitens seien Jüdinnen und Juden durch die Etablierung der (städtischen) Zünfte und Gilden aus fast allen (christlichen) Berufen ausgeschlossen gewesen. Drittens folgt aus dem vorherigen, dass „die Juden“ ihre hauptsächliche Betätigung im Geldverleih (mit besonders hohen Wucherzinsen) gefunden hätten. Die imaginierte Monopolisierung des Geldverleihs durch Juden im Mittelalter bis in die Neuzeit wird somit zu einem gesamtgesellschaftlichen Phantasma und findet unhinterfragt Eingang in bildungspolitische Lehrmaterialien, insbesondere schulische Medien. Dies führt kurioserweise dazu, dass christliche Geldverleiher auf bildlichen Darstellungen aus dem Mittelalter oder der Renaissance fälschlich als „jüdische Geldverleiher“ identifiziert werden, so etwa auf dem Bild „Der Goldwäger und seine Frau“ (Le prêteur et sa femme) (1514) von Quentin Metsys, das in einem Schulbuch als „jüdischer Geldverleiher und seine Frau“ bezeichnet wird.
Das (antisemitische) Vorurteil ist scheinbar so wirkmächtig, dass solche Ikonographen mit Juden besetzt werden, wo gar keine sind.
Im nächsten Schritt erweitert sich das Vorurteil der Dominanz des jüdischen Verleihs in die Erzählung von Wucher und christlicher Verschuldung. So fasst das dtv Lexikon in 20 Bänden aus dem Jahre 1976 paradigmatisch zusammen: „Da Juden vom üblichen Berufsfeld des Handwerkers und Gewerbetreibenden ausgeschlossen waren, waren sie darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt durch Geldgeschäfte, vor allem durch den Geldverleih gegen Faustpfänder und Zinsen, zu bestreiten. Die hierdurch bewirkte Verschuldung breiter Bevölkerungskreise verschärfte die bereits bestehenden Aversionen, die sich dann von Zeit zu Zeit in furchtbaren Judenverfolgungen (Pogromen) und -vertreibungen niederschlugen; dabei dürfte sicher sein, dass innerhalb der Motive, die zu diesen Untaten führten, die materiellen Beweggründe der Schuldner eine ganz zentrale Rolle gespielt haben.“
Um es eindeutig zu formulieren: die These von einer „Verschuldung breiter Bevölkerungskreise“ kann historisch nicht verifiziert werden. Vielmehr beobachten wir die simple Reproduktion eines antisemitischen Stereotyps. Lediglich der Modus der Interpretation changiert: die Darstellung des ursprünglichen Vorurteils der Anklage gegen Juden wird zum Vorurteil der Erklärung des Verhaltens von Juden. Das Stereotyp selbst bleibt unhinterfragt, der antisemitische Inhalt wird simplifiziert und reproduziert.
Tora und Genese des kirchlichen Zinsverbot
Somit gilt: Aufklärung tut not. Beginnen wir mit einem Quellenstudium zum Thema Geldverleih und Zinsen in der Tora: „Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, sei nicht gegen ihn wie ein Schuldeinforderer. Ihr sollt von ihm kein Zins auferlegen. Nimmst du von einem Mitbürger den Mantel zum Pfand, dann sollst du ihn bis zum Sonnenuntergang zurückgeben; denn es ist seine einzige Decke (…)“ (Ex. 22,24-26) sowie: „Wenn dein Bruder verarmt und sich neben dir nicht halten kann, sollst du ihn unterstützen, sodass auch der Fremde und Geduldete bei dir leben kann. Nimm von ihm keinen Zins und Überschuss! (…) Du sollst ihm weder dein Geld noch deine Nahrung gegen Zins und Überschuss geben.“ (Lev. 25,35-38)
Zur Legitimierung für den jüdischen Geldhandel mit Christen finden wir: „Du sollst von deinem Bruder keinen Zins nehmen, (…) Von einem Ausländer darfst du Zinsen nehmen (…)“ (Deut. 23,20-21). Hieraus leitete sich ab, dass Juden zwar nicht von Glaubensbrüdern Zinsen einnehmen durften, sehr wohl aber von Fremden (= Nichtjuden). In der scholastischen Interpretation bildete sich schnell die christliche „Wucher-Verbots Lehre“ aus. Diese naturrechtliche Ablehnung der Geldkapitalverzinsung fußte auf einfacher aristotelischer Logik. Das unfruchtbare, nur zur Vermittlung des Tausches geschaffene Geld trage durch „Zinsen“ widernatürlich selbst Früchte. Damit stehe der „Zins“ beim Darlehen in Widerspruch zur göttlichen Ordnung.
Entgegen jener scholastischen Argumentation hatte sich im 11. Jahrhundert die Wucherpraxis unter kirchlichen Würdenträgern erkennbar ausgebreitet. Nicht selten mussten geistliche Grundherren nicht nur Kirchengut verpfänden oder verkaufen, sondern auch Kredite aufnehmen, um den nach Missernten auftretenden Nahrungsmangel durch den Ankauf von Getreide ausgleichen zu können.
Um gegen diese „Fehlentwicklungen“ anzukämpfen, hielt das „Zinsverbot“ in zahlreichen Beschlüssen wichtiger Kirchenversammlungen Einzug; so etwa das Zweite (1139), Dritte (1179) und Vierte (1215) Laterankonzil oder das Zweite Konzil von Lyon (1274). Um 1140 wurden eine Reihe von Anti-Wucherartikeln in das Decretum Gratiani übernommen, welches fürderhin als Grundlage des kanonischen Rechts galt. In konservativer Auslegung besagte das daraus entstandene kanonische Zinsverbot, dass Wucher unstatthaft sei und theologisch harte Kirchenstrafen heraufbeschwöre, denn „jegliche Vermehrung des Geldes sei wider die Natur“, weil Geld sich nicht (wie in Genesis geoffenbart) fortpflanze.
Zu Beginn des 13. Jahrhunderts deklarierte Caesarius von Heisterbach Wucher als eine sehr schwere und kaum wiedergutzumachende Sünde. Scholastisch räsonierte Heisterbach: Es gebe keine Sünde, die nicht von Zeit zu Zeit schlafe. Der Wucherzins aber höre niemals auf zu sündigen, schlafe also, wie Beelzebub nie, und sei deshalb besonders diabolisch. Für den Wucherer sei es darüber hinaus schwer, seine Sünden wiedergutzumachen, denn Gott vergebe ihm nur, wenn er zurückgebe, was er gestohlen habe. Der französische Historiker Jacques Le Goff sekundiert mit einem überlieferten Text, in dem es heißt, „Wucher erzeuge unrechtes, schändliches Geld. Der Wucher sei ein unermüdlicher Arbeiter, der niemals schlafe und künstliches Geld produziere, was einem teuflischen Wunder gleichkomme“ (in: Jaques Le Goff, Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter, Stuttgart 1988). Dennoch gelang es nicht den christlichen Geldverleih spürbar zu begrenzen oder zu beseitigen. Dies hatte zur Folge, dass sich die „Öffentliche Brandmarkung des Geldverleihs“ in die moralische und gesellschaftliche Verurteilung der „jüdischen Geldverleiher“ transformierte. Die vermeintliche Verworfenheit „der Mörder Christi“ wurde im Bewusstsein der christlichen Bevölkerung um den Vorwurf der betrügerischen jüdischen Geldverleiher angereichert.
Als häufig zitierte Referenz für das christliche Zinsverbot wird, wie oben angedeutet, meist das Vierte Lateran-Konzil genannt. Schaut man sich den Wortlaut der diesbezüglichen Texte jedoch genauer an, finden sich keine Vorschriften zum sogenannten „christlichen Zinsverbot“; vielmehr wird dokumentiert, dass sich die Christenheit beim Wucher beschränkt, und auch der „Wucher der Juden“ soll in diesem Sinne begrenzt werden. Wolfgang Geiger (Antisemitismus auch im Schulbuch? in: Medaon 13, 2019) resümiert zum Ergebnis des Konzils, so „konnte sich das Konzil zu keinen radikalen Beschlüssen durchringen – ganz im Gegensatz zur heute allgemein verbreiteten Ansicht.“
Die historiographische Praxis des „Zinsverbots“
Das sogenannte „kirchliche Zinsverbot“ – wenn es denn überhaupt ein solches gab, man sollte vielmehr vom Wucherverbot sprechen – manifestierte sich nicht in weltlichen Rechtsvorschriften und von christlichen Händlern kaum befolgt. Zu keiner Zeit war es gesellschaftliche Realität. Es führte allenfalls dazu, so darf man annehmen, dass die entsprechenden Geldgeschäfte „klammheimlich“ praktiziert wurden. Dementsprechend dünn ist die historische Quellenlage. Die Waffe der Kirche im Kampf gegen den Wucher, die Exkommunikation, wurde nur selten und wahrscheinlich nur in besonders gravierenden Fällen angewendet. Geldhandel gab es in allen Gesellschaftsgruppen, in und außerhalb der Kirche, des Adels und der entstehenden Bürgerschaft.
Im Bewusstsein der Christen blieben Juden seit dem Mittelalter mit der Praxis des Wuchers verknüpft. Es wurde die Gefahr heraufbeschworen, dass Christen sich in die babylonische Gefangenschaft der „wucherzinsenden Juden“ begeben und auf Dauer verarmen. Daher musste man insbesondere der „unmenschlichen Behandlung“ von Christen durch „jüdischen Wucher und Zinsen“ Einhalt gebieten. Die finanziellen Beziehungen zu Juden sollten auf ein Minimum beschränkt, wenn nicht gar aufgelöst werden. Weltliche Herrscher wurden aufgefordert, den durch jüdischen Wucher in Bedrängnis geratenen Christen zu helfen, indem sie Einfluss auf die jüdischen Gläubiger nahmen. Der Mythos der „allmächtigen jüdischen Finanzlobby“, findet hier einen seiner Ursprünge. Ebenso gehören Begriffe wie „Globalisten“ oder „Ostküstenkapital“, mitunter auch konkrete Personen wie George Soros in jene Chiffre des Antisemitismus eingebunden.
Großen Anteil an der Verunglimpfung jüdischer Menschen hatten die Schriften des Dominikaners und Scholastikers Thomas von Aquin. Der Geldhandel stand für Thomas „in einem unvereinbaren Gegensatz mit diesen Grundsätzen einer Bedarfswirtschaft; er gilt schlechthin als Sünde.“ Der Geldleiher gebe nichts, was als Gegenwert für den Zins anerkannt werde, der Beruf des Geldleihers sei unverhüllt auf die Vermehrung des Geldvorrats gerichtet. Dass Juden von Fremden („Ausländern“) Zins nehmen dürften, erkläre sich aus einem Zugeständnis an ihre besondere Neigung zur Habsucht.
Das Gerücht über die „Geld-Juden“ hatte mit Thomas die gesamte christliche Gesellschaft erreicht. Von nun an galt zudem die Verknüpfung jüdischer Menschen mit der „besonderen Neigung zu Habsucht“ als ausgemachte theologische wie gesellschaftliche Wahrheit. Neben der Vorstellung des allgemeinen Zinsverbots spielt die Verknüpfung „jüdischen Reichtums“ mit der Entwicklung europäischer Handelsstrukturen eine besondere Rolle.
Es soll noch einmal festgehalten werden, dass sich „im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten Angehörige aller (Hervorhebung DB und FM) Bevölkerungsgruppen mehr oder weniger im Geldgeschäft engagiert haben“, so der Historiker Jacques le Goff. Dennoch scheint das faktenresistente Vorurteil des „jüdischen Wuchers“ auch in der Figur des „internationalen Händlers“ mit entsprechender abwertender Konnotation, ja sogar tödlicher Polemik, sich bis in die Postmoderne übersetzt zu haben.
Jacques Le Goff resümiert in „Wucherzins und Höllenqualen“: „Bis zum 12. Jahrhundert war der Zins/Alltagsverleih in den Händen der Juden; es waren keine bedeutenden Summen im Spiel, und man bewegte sich im Rahmen der Naturalienwirtschaft.“ Nachdem Juden ab dem ausgehenden Mittelalter aus fast allen produktiven Wirtschaftszweigen, vor allem dem Fernhandel, verdrängt worden waren, blieb einigen jüdischen ehemaligen Fernhändlern lediglich das Geschäft des „Alltagsverleih“ übrig; die übergroße Mehrheit der jüdischen Menschen betrieb wie in den vorherigen Jahrzehnten innerhalb der jüdischen Separatwirtschaft die traditionellen Berufe, waren also Handwerker, Schreiner, Schmiede, Bauern, Metzger Winzer und Ärzte.
Das Geschäftsfeld des großen Kredits wurde fortan von christlichen Bürgern der aufstrebenden städtischen Kommunen besetzt (das beste Beispiel ist die Familie Fugger). Der Adel blieb bei der Vergabe von Krediten im Großen und Ganzen unter sich. Lediglich die Vergabe von kleinen Notkrediten jüdischer Verleiher lässt sich empirisch nachweisen. Diese zahlenmäßig für die Gesamtwirtschaft völlig unerheblichen Kleinkredite, galten fürderhin als „Beleg“ und „historischer Beweis“ des Gerüchtes über die „Wucher- und Geld-Juden“. Die Wucherpolemik erschlich sich ihren Weg durch die mittelalterliche Gesellschaft bis in die Postmoderne, die falsche Klarheit des Gerüchtes erstarrte zur „gewussten Narration“ des antisemitischen Vorurteils. Die Kontinuität der Reproduktion des antisemitischen Stereotyps brach sich Bahn.
Shakespeares Shylock – Figur in der antisemitischen Chiffre
Die Beschreibung des „kulturellen Codes“ (Shulamit Volkov) des Antisemitismus in der Figur des „vermögenden Juden“ wäre ohne Erwähnung des literarischen Elements unvollständig. Die Epoche der Renaissance zeichnete sich durch Umwälzungen in der Kultur aus. Insbesondere die Literatur, Bildhauerkunst und Malerei erlebten diese „Wiedergeburt“ und jenen kam durch die neu entdeckten Modalitäten der Bildsprache eine fortan wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Kommunikation zu. Aus diesem Grund ist es auch jene Epoche, die die antisemitische Ikonographie prägte, welche sich bis heute in antisemitischen Bildern reproduziert. Zu keiner vorherigen Zeit wurden Portraits des „teuflischen“ und „geldgierigen Juden“ so häufig materialisiert wie in dieser Epoche. Die omnimediale Präsenz dieser antijüdischen Perspektiven wirkte sich dergestalt auf die Literatur aus und Juden wurden zum beliebten Feindbild von Dichtung und der darstellenden Künste.
Beispielhaft gilt hierbei jene berühmte dramatische Rolle des Shylock im „Kaufmann von Venedig“, verfasst von William Shakespeare im Jahr 1600. Antonio, eine der Hauptfiguren des Stücks, leiht sich von Shylock Geld für einen Freund. Der Vertrag zwischen Shylock und Antonio legt fest, dass Antonio, sofern er seiner Schuld nicht nachkommen kann, diese auszugleichen habe mit einem Pfund seines Fleisches. Vor dem Vertragsabschluss sagt Shylock zu Antonio, dass der Passus „nur zum Spaß“ aufgenommen werden solle. Hier wird das antisemitische Stereotyp der Täuschung klar erkennbar. Shylock besteht am Ende des Stücks, ganz im antisemitischen Bild des nach Christenblut gierenden Juden, auf sein Pfund Fleisch aus Antonios‘ Körper. Die jüdische Lust nach christlichem Blut muss befriedigt werden.
Hier verschmilzt, erstmals in der Weltliteratur, der mittelalterliche Aberglaube, wonach Juden bei Ritualmorden nach Christenblut gierten, mit dem neuzeitlichen Schaudern vor der Allmacht des Geldes, paradigmatisch in der abstoßend gezeichneten Figur des Shylock. Hierbei zieht William Shakespeare sämtliche antisemitischen Register und lässt den Zuschauer zwischen „jüdischen Rachelüsten“, „Blutritualphantasmen“ und „gierigen Geldjuden“ lustwandeln. Damit nicht genug, der „jüdische Selbsthass“, repräsentiert in Jessica, der Tochter Shylocks, demaskiert alle christlichen Vorurteile als letztendliche „wahrhaftige“ jüdische Selbstbeschreibungen. Die Bezeichnung des eigenen Elternhauses als „Hölle“, aus der sie zu ihrem christlichen Liebhaber flieht, wird der Figur Jessica in den Mund gelegt. Folgerichtig mutiert die Figur des Shylock zum Diabolischen; sein unmoralischer Geldverleih und „antichristlicher Zinswucher“ werden zu eindeutig identifizierbaren antisemitischen Markierungen. Weitere Figuren, etwa ein Kaufmann und Shylocks Diener Lancelot, sehen in ihm den „Teufel“, weil er Jude ist.
Das Vorurteil ist keines, sondern eine stimmige Beschreibung des „wahren Juden“. Lassen wir Shylock sprechen: „Ihr nehmt mein Leben, wenn ihr mir die Mittel nehmt, wovon ich lebe.“ Die Selbstbezichtigung des Juden, mithin die Bestätigung aller Vorurteile, gibt klare Auskunft: das Geld ist das Blut des Juden; sein Lebenselixier heißt Zinsen, Wucher und Kapital.
Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zur modernen rassentheoretischen Blut und Boden Ideologie des Wilhelm Marr, der mit pseudowissenschaftlichen Methoden ein „jüdisches Wesen“ erfindet, welches dem „deutschen Wesen“ diametral entgegensteht. Germanisches Blut gegen „jüdisches“ Geld, so lautet das Motto. Hier schließt sich der Kreis unserer Betrachtung: das Phänomen des Antisemitismus erweist sich abermals als gefährliche Chimäre, welche sich geschmeidig an Zeitereignisse anschmiegt und dennoch seine spezifisch antisemitische exterminatorische Signatur beibehält. Freilich bleibt festzuhalten: gefährlich ist der Antisemit nicht nur für jüdische Menschen. Antisemiten sind eo ipso Feinde der Republik, Feinde des demokratischen Gemeinwesens. Somit gilt: die Bekämpfung des Antisemitismus ist mithin eine gesamtgesellschaftliche Notwendigkeit.
Detlef David Bauszus (Universität Duisburg-Essen) und Felix Markgraf (Krefeld)
Die Autoren: Detlef David Bauszus lehrt an der Universität Duisburg-Essen Politische Wissenschaft mit den Schwerpunkten Politische Theorie, Kritik des Antisemitismus und Kritische Theorie. Zurzeit arbeitet er am Projekt „Die politische Religion des Antisemitismus“. Felix Markgraf ist Politologe, studierte an der Universität Duisburg-Essen mit den Schwerpunkten Politische Theorie und Antisemitismusforschung. Er ist in der Präventionsarbeit gegen extremistische Radikalisierung tätig.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2024, Internetzugriffe zuletzt am 12. April 2024. Der Titel des Essays ist ein Ausspruch, der dem sogenannten „Schinderhannes“ zugeschrieben wurde. Er soll ihn im Jahr 1800 bei einem Überfall auf reisende jüdische Händler gesagt haben. Er ist zitiert nach Cilli Kasper-Holtkotte, in: Aschkenas – Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 1/1993. Die Tora-Übersetzungen folgen der Übersetzung von Moses Mendelssohn, zugänglich in der 2001 erschienenen Ausgabe der Jüdischen Verlagsanstalt.)