Juden in der DDR
16 Portraits aus dem Verlag Hentrich & Hentrich
„Seit Wochen hören wir von antijüdischen Pogromdrohungen in verschiedenen sowjetischen Städten. Antisemitische und nationalistische Kräfte haben sich organisiert und bedrohen das Leben von Juden. Diese Entwicklung bedroht nicht nur Menschenleben, sie stellt auch den Erfolg der Perestroika in der Sowjetunion in Frage. / Eingedenk der Tatsache, dass bei der Judenverfolgung und -vernichtung durch den deutschen Faschismus die ganze Welt zugesehen hat, rufen wir auf, die deutsche Schmach der Vergangenheit nicht zu wiederholen. Ein talmudisches Gesetz sagt: (Lo tasmod al dam reecha pekuach nefesh doche et kol hatorah culah.) Alle Gesetze müssen gebrochen werden, wenn ein Leben gerettet werden kann. / Deshalb fordern wir, dass die DDR Voraussetzungen zur sofortigen Aufnahme von sowjetischen Juden, die es wünschen unabhängig von bestehenden Rechtsvorschriften, schafft.“ (Aufruf des Jüdischen Kulturvereins in der DDR zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR vom 12. Februar 1990)
Anetta Kahane und Martin Jander sind die Herausgeber*innen des 2022 im Verlag Hentrich & Hentrich erschienenen Bandes „Juden in der DDR“. Der Untertitel fasst Stimmungen und Widersprüche, die Jüdinnen und Juden in der DDR (er)lebten, treffend zusammen: „Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz und Repression“. Der Untertitel hätte auch auf andere Biografien oder Portraits gepasst, unabhängig davon, ob die portraitierten Jüdinnen und Juden in der DDR, an einem anderen Ort oder auch in einer anderen Epoche der deutschen Geschichte lebten. Ich denke nicht nur an die Menschen, denen der Verlag Hentrich & Hentrich in der von Heinrich Simon herausgegebenen Reihe „Jüdische Miniaturen“ ein Portrait gewidmet hat. Diese Reihe ist ein Schmuckstück der Angebote des Verlages. Sie ist inzwischen auf 300 Bände angewachsen und dokumentiert „das ewige Dennoch“ in der jüdischen Geschichte, von dem Leo Baeck sprach, in all seinen Facetten.
Dramatis Personae
Der Band „Juden in der DDR“ präsentiert nach der von den beiden Herausgeber*innen verfassten Einleitung 16 Portraits, die von 16 Autor*innen geschrieben wurden. Er gibt einen vorzüglichen Einblick in die Widersprüche und Ambivalenzen jüdischen Lebens in der DDR. Immer wieder erfahren wir von den Gefahren, die ein offenes Bekenntnis zum Judentum oder zu Israel in der DDR mit sich brachten. Letztlich duldete die SED nicht, dass es andere Weltbilder neben dem ihren gab, Kommunismus und Judentum schlossen sich im sozialistisch-kommunistischen Denken und Handeln gegenseitig aus. Wer beides miteinander vereinbaren wollte, wurde als Zionist beschimpft, wurde der Observation durch die Stasi zugeführt, oft vor Gericht gestellt, eingesperrt und aus Partei und Staat verstoßen.
Der älteste Portraitierte in „Juden in der DDR“ ist Victor Klemperer (1881-1960), sein Portrait schrieb Anetta Kahane, die jüngste ist Barbara Honigmann, die 1949 geboren und von Agnes C. Mueller portraitiert wurde. Von den Portraitierten leben im Jahr 2022 noch Barbara Honigmann und Wolf Biermann (*1936, portraitiert von Hannes Stein). Leider berücksichtigt der Band nur zwei Frauen, neben Barbara Honigmann Hertha (Gordon) Walcher (1894-1990). Hier die Liste der weiteren Persönlichkeiten: Arnold Zweig (1887-1968), Rudolf Schottlaender (1900-1988), im Doppelportrait die Brüder Leo und Rudolf Zuckermann (1908-1985 beziehungsweise 1910-1995), Joachim Chaim Schwarz (Carl Jacob Danziger, 1909-1992), Julius Meyer (1909-1979), Stefan Heym (1913-2002), Helmut Eschwege (1913-1992), Eugen Gollomb (1917-1988), Fred Wander (1917-2006, bekannter ist vielleicht seine Frau Maxie Wander, Autorin von „Guten Morgen, du Schöne“), Jurek Becker (1997-1997).
Das Buch enthält zwei Portraits von Menschen, die keine Juden waren. Der eine ist Paul Merker (1894-1966), der einzige SED-Funktionär, der „die jüdische Frage in den Mittelpunkt der kommunistischen Theorie und Praxis setzen wollte“ und sich für eine „Entschädigung“ der Juden für das in der Shoah erlittene Leid einsetzte, dies aber mit Degradierung und Haft bezahlen musste. Ebenfalls kein Jude war Raimar Gilsenbach (1925-2001), dessen Engagement für Sinti*zze und Rom*nja mit seiner Aufnahme in die Reihe der Portraitrierten gewürdigt wird.
Im Anhang dokumentiert der Band zentrale Dokumente aus der Schlussphase der DDR zur Aufnahme sowjetischer Juden in der DDR, konkret den eingangs zitierten Aufruf des Jüdischen Kulturvereins vom 12. Februar 1990, den Beschluss der einzigen demokratisch gewählten Volkskammer der DDR vom 12. April 1990 (25 Tage nach der Wahl vom 18. März 1990) sowie die am 22. Juli 1990 von der Volkskammer beschlossene Distanzierung von der UN-Resolution 3379 vom 10. November 1975, in der Antisemitismus und Rassismus gleichgesetzt wurden. Der Volkskammer-Beschluss vom 12. April 1990 schuf Fakten, Markus Meckel hat in seiner Autobiographie „Zu wandeln die Zeiten“ (Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2020) beschrieben, wie die Regierung der Bundesrepublik Deutschland versuchte, die Umsetzung des Beschlusses vom 12. April 1990 zu torpedieren, sich aber letztlich ins Unvermeidliche schicken musste, weil nicht vermittelbar gewesen wäre, dass Deutschland Jüdinnen und Juden Einreise und Zuflucht versagte.
Enttäuschte Hoffnungen
Anetta Kahane und Martin Jander beschreiben in ihrem einleitenden Essay „Shoah, Sozialismus und Antisemitismus“ die zwiespältige Lage von Jüdinnen*Juden in der DDR im Lichte der Positionierung der SED-Diktatur zur Shoah, zu Israel, zu jüdischem Leben und jüdischer Religion. Die SED unterschied. Sie feierte die aus ihrer Sicht heldenhaften kommunistischen Kämpfer gegen den Faschismus, verstand Juden*Jüdinnen jedoch nur als Opfer, „die angeblich nicht gekämpft haben“. „Die jüdischen Opfer und Gegner des Nationalsozialismus hingegen wurden in der DDR nicht geehrt, sie wurden ganz im Gegenteil öffentlich entwürdigt.“
Andreas Weigelt notiert in seinem Portrait von Julius Meyer, Mitglied des Vorstands der Jüdischen Gemeinde in Berlin: „Meyer lehnte die von der KPD (vor der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED, NR) geforderte Unterscheidung zwischen den überwiegend kommunistischen und sozialdemokratischen Kämpfern und den überwiegend jüdischen Opfern ab.“ Es dauerte nicht lange und Julius Meyer wurde in der DDR als „Agent israelischer Regierungskreise“ diffamiert, im Kontext des Prager Slánský-Prozesses verhört, bis er schließlich die DDR verließ, dann aber in der Bundesrepublik erleben musste, dass die dortigen Behörden und Gerichte ihm eine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz für die Ermordung seines Sohnes Lothar in Auschwitz über 15 Jahre lang versagten, weil er als Mitglied von SED und VVN „nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes bekämpft“ hätte. Im Oktober 1973 erlebte der den Erfolg seiner Bemühungen, der allerdings nur mit der gerichtlichen Begründung zustande kam, er wäre zu unbedeutend gewesen, die Macht der SED zu mehren.
Zu Beginn war die DDR für viele der wieder nach Deutschland zurückkehrenden Deutschen – und dies galt nicht nur für Juden*Jüdinnen – so etwas wie ein gelobtes Land, das gute, das bessere Deutschland. Wer in den Westen remigrierte – so Anetta Kahane und Martin Jander – kehrte in das Land zurück, „das die industrielle Tötung von Millionen und einen grausamen Vernichtungskrieg durchgeführt hatte“, wer in den Osten, die Sowjetische Besatzungszone, die spätere DDR, zurückkehrte, hoffte und glaubte an einen Wandel, an eine „Verheißung“: „Hier wurde von den Kommunisten versprochen, eine Art Schalter umlegen zu können, durch den die Menschen mit einem Male besser sein würden, sodass sie sich entlastet fühlen und ohne Schuld einen Neuanfang beginnen könnten.“ Der atheistische Charakter von Sozialismus und Kommunismus war wenig relevant. Anetta Kahane beschreibt das Leben Victor Klemperers, der sich zeitlebens als „Jude deutschen Glaubens“ verstand. Er verfing sich in der „Patriotismusfalle“, er wollte nicht glauben, dass er schon vor 1933 nicht ausschließlich als Deutscher und nach 1933 ausschließlich als Jude gesehen wurde. In der DDR übersah er „in antithetischer Bildung und kognitiver Dissonanz“ die antisemitischen Tendenzen in Sowjetunion und DDR, die „Patriotismusfalle“ war zur: „Juden- und Zionismusfalle“ geworden. Bis 1953 hing ein Stalinbild in seinem Büro.
Nun waren viele der in die DDR remigrierenden Juden und Jüdinnen ohnehin nicht religiös: Anetta Kahane und Martin Jander schreiben, dass sie ihr Buchprojekt in der Annahme begannen, dass viele Juden und Jüdinnen „ihr Judentum zugunsten der Idee eines Sozialismus, der marxistisch-leninistischen Ideologie und einer in diesem Sinne gerechteren Welt hinter sich gelassen“ hätten und „ihr Judentum, wenn sie es überhaupt taten, als die Überwindung des Religiösen, als den vollzogenen Säkularismus“ verstanden. Allenfalls sahen sie Parallelen zur „Idee vom Heilen der Welt (Tikkun Olam)“ und die Chance „von Umkehr und Neubeginn (Teshuva)“. So einfach war es aber nicht. Wer sich auf Sozialismus und Kommunismus einließ, musste die „jüdische Prägung verdrängen, verleugnen oder versuchen, sie auf eine andere Weise in den Alltag von Partei und Staat einzubringen.“
Jüdische Dissidenz
Konflikte mit Partei und Staat – dies war in der DDR eine Einheit – waren ebenso zwangsläufig wie innere Konflikte. Steffen Held beschreibt die sich zuspitzende Lage von Jüdinnen* Juden in der DDR in den frühen 1950er Jahren in seinem Portrait von Eugen Gollomb, Auschwitz-Überlebender und später dann Mitglied des Gemeindevorstands der Jüdischen Gemeinde in Leipzig. Nachdem die Linie der Partei im Januar 1953 feststand, „flüchteten Vorstandsmitglieder von allen jüdischen Gemeinden aus der DDR. (…) Die folgenden Wochen führten zu einer Fluchtwelle von Jüdinnen und Juden aus der DDR.“ Eugen Gollomb zweifelte, aber er blieb. Seine „uneingeschränkte Solidarität mit Israel führte immer wieder zu Differenzen“, auch „innerhalb des Verbandes“. Im Jahr 1973 versuchte der damalige Staatssekretär für Kirchenfragen „eine gemeinsame Erklärung gegen Israel (zu) erreichen“. Eugen Gollomb lehnte ab. Etwa ein Jahr später starb er an einem Tumor.
Nicht nur im Fall von Eugen Gollomb war der „Kampf gegen die antiisraelische Politik“ der DDR ein Akt der Dissidenz. So sieht es auch Anja Thiele in ihrem Portrait von Fred Wander: „An seinem Beispiel zeigt sich eine Form von Dissidenz, die bisher in der Forschung kaum thematisiert wurde: Es handelt sich dabei um die Dissidenz im Namen einer kompromisslosen Aufarbeitung und Bekämpfung (post)nationalsozialistischer Denkweisen und Strukturen auch innerhalb der DDR. Diese Kritik stand jedoch im höchsten Maße in Widerspruch mit der Staatsdoktrin der DDR, da sie die antifaschistische Legitimation der DDR mitten in ihren neuralgischen Punkt traf.“ Anders gesagt: wenn der Faschismus nichts anderes war als die zeitgeschichtliche Erscheinungsform von Kapitalismus und Imperialismus und Antisemitismus nicht mehr und nicht weniger war als ein Symptom innerhalb des Faschismus, dann konnte es in einem Land, das sich antifaschistisch verstand, auch keinen Antisemitismus geben. Man könnte dies auch als eine mechanistische Vulgärversion des Marx’schen Satzes bezeichnen, dass das Sein das Bewusstsein bestimme.
Judentum und Israel wurden miteinander identifiziert. Es war für die SED-Diktatur – wie anderswo und in anderen Zeiten auch, aber das macht es nicht weniger schlimm – ein und dasselbe. Der jüdische Holocaust-Forscher Helmut Eschwege, den Martin Jander portraitiert, war Mitglied der SED. Sein Bemühen um die Erforschung der Shoah führte dazu, dass er „als Parteifeind entlarvt“ und aus der SED ausgeschlossen wurde. Ein mehr als 1.300 Seiten umfassendes Buch, das er zur Shoah schrieb, wurde nie veröffentlicht, Teile wurden von anderen systemkonformen Autoren im Jahr 1973 übernommen, ihm wurde „für Anregung und Vorarbeiten“ gedankt, aber die von ihm vertretene Linie war untergegangen, seine Urheberschaft wurde geleugnet. Die Juden wurden – anders als von ihm vorgesehen – weder „als Hauptopfer betrachtet“ noch wurde „die jüdische Beteiligung“ am Widerstand gegen das Nazi-Regime anerkannt. Es gab nur die Alternative: Mitglied der „Arbeiterparteien“ oder „Jude“. Beides zusammen wurde nicht geduldet.
In der DDR wurde das Gedenken an die Shoah mehr oder weniger instrumentalisiert, um den Heldenmythos der kämpfenden Kommunist*innen zu propagieren. Fred Wander schrieb – so Anja Thiele in ihrem Portrait – seiner Frau Maxie aus Buchenwald: „Erschüttert hat mich nur das Verhalten der meisten Besucher.“ Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte habe er nicht wahrnehmen können. Buchenwald wurde zum Mythos, die Kollaboration von Mitgliedern des Internationalen Lagerkomitees mit der SS wurde systematisch verdrängt.
Schon eine differenzierende Einstellung war für die DDR-Nomenklatura ein Problem. Jürgen Nitsche überschreibt sein Portrait von Stefan Heym mit der Formel „Ein Mann des ständigen Widerspruchs“. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2001 – er starb in Israel wenige Tage nach einer Konferenz über Heinrich Heine – sagte Stefan Heym: „Ich fühle mich dieser Gemeinschaft zugehörig (…). Es hat Zeiten in meinem Leben gegeben, wo mein Jüdischsein nicht erstrangige Frage war. Heute glaube ich, dass natürlich die Tatsache, dass ich Jude bin, eine Rolle in meinem Leben gespielt hat und noch spielt. Dabei bin ich kein Orthodoxer; ich folge nicht dem Ritus, ich esse nicht koscher, sondern ich sage nur: Jawohl, Leute, ich bin Jude.“ Stefan Heym war kein Zionist, aber er hatte Verständnis für die Gründung des Staates Israel, hatte aber ebenso Verständnis für die in Palästina lebenden Araber. Sein Leben ist ein Beispiel für die Zerrissenheit eines überzeugten Kommunisten, der den Mut hatte, auch auf Missstände und Widersprüche hinzuweisen. Dies belegt auch die Geschichte seines Romans „Der Tag X“ über den 17. Juni 1953, der nie erscheinen durfte, die diversen Phasen seiner Umarbeitung, der Einlassungen und Einflussnahmen der DDR-Nomenklatura, die sich als oberste Literaturkritik verstand. Erst 1974 erschien der mehrfach überarbeitete Roman mit dem Titel „5 Tage im Juni“ im Westen, erst 1989 dann auch in der DDR im Verlag „Der Morgen“.
Jenseits der DDR
Anetta Kahane und Martin Jander fassen das Dilemma von Jüdinnen und Juden in der DDR wie folgt zusammen: „Eine freiheitliche, sozialistische Gesellschaft, in der Juden als Bürger unter Bürgern hätten leben können, eine Gesellschaft, die ihre Verantwortung für die Shoah nicht externalisierte, sondern annahm und aller Gegner wie Opfer des Nationalsozialismus in Ehren gedachte, sie entschädigte und die noch lebenden Täter verurteilte, entstand nicht.“ Eine „Schulderklärung“ der DDR blieb aus. Antisemitismus wirkte hingegen nicht nur angesichts der Moskauer und Prager Prozesse in den frühen 1950er Jahren, sondern auch wieder und stärker in den 1960er und 1970er Jahren im Zuge der Aktivitäten der PLO und in der Unterstützung linksterroristischer Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland wie beispielsweise der RAF. Walter Ulbricht und andere DDR-Politiker verglichen „die israelische Politik mit der deutschen nationalsozialistischen Politik“ sowie bezeichneten – im Einklang mit diversen UN-Beschlüssen – „Zionismus“ als „Rassismus“. Erst im Jahr 1988 wurde das Gedenken an die Shoah propagiert, „um bessere Handelsbeziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu ermöglichen“. Der im Anhang des Buches dokumentierte Beschluss der Volkskammer vom 22. Juli 1990 distanzierte sich von der in der SED-Diktatur gängigen Gleichsetzung von Zionismus und Rassismus.
Schweigen über die Shoah ist nicht nur Verdrängung auf der Seite der Täter, ist nicht nur die Angst vor der Re-Traumatisierung auf der Seite der Opfer, es gibt auch staatlich verordnetes Vergessen. Barbara Honigmann „haderte (…) mit dem Schweigen ihrer Eltern, und trat bewusst der jüdischen Gemeinde Ost-Berlins bei. Nachdem sie es aber zunehmend unmöglich fand, in Deutschland jüdisch zu schreiben, beschloss sie 1984, die DDR aufzugeben und nach Strasbourg umzusiedeln.“ Sie nannte ihr Jüdischsein in der DDR „negative Symbiose“. Agnes C. Mueller, Autorin des demnächst erscheinenden Buches „Holocaust Migration – The Future of Memory“ formuliert mit ein Fazit, das meines Erachtens unbeschadet der jeweiligen Familiengeschichte im Kern auf alle Portraitierten des Buches zutreffen dürfte: „Diese Einstellung der Eltern passte somit gut zum Antizionismus der DDR, der es darauf angelegt hatte, das Judentum zum Schweigen zu bringen und jüdische Identitäten sowie das Gedenken an die Shoah in der DDR bis in die späten 80er Jahre zu marginalisieren und zu tabuisieren. Wie in vielen anderen Fällen ersetzt für diese Eltern offenbar das kommunistische Bewusstsein die jüdische Identität.“
Eine faire Chance hatten jüdisches Leben und jüdische Identität in der DDR erst mit dem Verschwinden der DDR. Der von der Volkskammer am 12. April 1990 beschlossene Zuzug von Jüdinnen und Juden aus der Sowjetunion schuf – gegen die Widerstände der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung – die Voraussetzungen einer Renaissance jüdischen Lebens in Deutschland. Doch dies ist eine andere Geschichte. Fortsetzung folgt.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2022, Internetzugriffe zuletzt am 31. Oktober 2022. Das Titelbild zeigt die moderne Synagoge in Dresden, Foto und Rechte: Hans Peter Schaefer, Köln)