Jüdisch und Interkulturell
Shlomit Tripp und das Puppentheater Bubales
„In jeder Generation soll sich der Mensch so sehen, als sei er aus Ägypten ausgezogen.“ (Psachim 116,1)
Shlomit Tripp ist in einer Familie aufgewachsen, die in mehreren Generationen immer wieder das Land verlassen musste, in dem sie lebte und sich einzurichten versucht hatte. Ihre Großeltern flohen aus Griechenland in die Türkei, ihre Eltern aus der Türkei nach Deutschland, reisten mit ihrer in Berlin-Charlottenburg geborenen Tochter nach Moskau, Prag und Leipzig, bis sie wieder nach West-Berlin zogen. Jüdischsein und Interkulturalität gehören zu ihrer aller Identität. Shlomit sagt, sie sei – auch nach Aufenthalten in Israel und in den USA – „immer wieder wie ein Bumerang in Berlin gelandet“.
Im Jahr 2011 gründete Shlomit Tripp das Jüdische Puppentheater Bubales. Inzwischen darf sie mit Stolz auf eine Fülle von Produktionen zurückblicken. Einige sind auf youtube verfügbar, zum Beispiel „Isaak und der Elefant Abul Abbas“ „Die Abenteuer von Ayshe und Shlomo“ „Die Bim-Bam-Schalömchen-Bahn“, „Moses der Feuerkopf“. Einige Stücke werden auch in Türkisch, Arabisch und Ukrainisch aufgeführt, manche zweisprachig. Wie die Stücke entstehen, zeigt eine sehr schöne Reportage. Shlomit Tripp tritt inzwischen auch in der Stand-Up-Comedy „Politisch Koscher“ auf.
Die Stücke entstehen – wie Shlomit Tripp sagt – oft beim „Herumspinnen mit meinem Mann beim Frühstück oder in einem Kreuzberger Café“, bei den jüdischen Themen auch mit Hilfe eines Rabbiners oder einer Kuratorin jüdischer Judaica oder bei arabischen oder türkischen Themen mit Spezialist:innen dieser Kulturen. Sich selbst bezeichnet Shlomit als „verträumte Künstlerin“ und stellt so ihr Licht unter den sprichwörtlichen Scheffel, ihr Mann Gershom kümmere sich um alles andere, Bühnentechnik, Kamera, Filmproduktion, Buchhaltung und mehr.
Jedes Jahr gibt es etwa 50 Aufführungen. Bubales erhielt mehrere Preise, den Lars-Day-Preis, den Obermayer-Award sowie den Förderpreis für interkulturellen Dialog der Pill Mayer Stiftung. Im Ariella-Verlag erschienen „Moses der Feuerkopf“ und „Die schlaue Esther“.
Das Konzept
Norbert Reichel: Das Puppentheater Bubales ist ein „jüdisches und interkulturelles Puppentheater“. Wie entstand es?
Shlomit Tripp: Es hat eigentlich als jüdisches Puppentheater begonnen. Es gab zwei Schlüsselerlebnisse. Ich arbeitete damals noch als Guide im Jüdischen Museum Berlin und fragte Kinder aus einer ersten Klasse, was sie über Juden wüssten. Ein etwa sechsjähriger Junge antwortete: „Juden gibt es keine mehr. Die wurden alle von einem Mann umgebracht, der sie nicht mochte“. Für mich stand fest, dass es nicht sein darf, dass ein sechsjähriges deutsches Kind als Erstes über das Judentum so etwas erfährt. So kann man kein normales deutsch-jüdisches Verhältnis aufbauen. Ich fand, Kinder, die das Judentum kennenlernen, sollten nicht bei der Shoah anfangen, sondern eine lebendige, schöne und humorvolle Kultur kennenlernen. Das zweite Erlebnis zeigte, wie das möglich werden könnte: Jüdische Eltern hatten mich angesprochen, ob ich nicht zum jüdischen Chanukka-Fest, das Lichterfest, das immer etwa zur Weihnachtszeit stattfindet, ein Chanukka-Puppentheater machen könnte, damit ihre Kinder mehr Lust auf Chanukka und nicht nur auf Weihnachten haben.
Zu unserem Erstaunen hat es sich dann so entwickelt, dass sich nicht nur jüdische, sondern auch nicht-jüdische Familien massiv für unser Stück interessierten. Dann habe ich erst verstanden, welche Nachfrage besteht und wie sehr dieses Land ein solches Theater braucht. Ab dieser Zeit wurden alle Stücke so konzipiert, dass sie nicht nur für ein jüdisches, sondern auch für ein interkulturelles Publikum attraktiv sind. Natürlich haben wir auch einige zielgruppenspezifische Stücke gemacht, die für ein bestimmtes Publikum gedacht sind, für Menschen, die vielleicht sehr in ihrer eigenen Bubble stecken und eigentlich gar nicht auf die Idee kämen, in ein jüdisches Puppentheater zu gehen. Wir holen sie bei ihrer eigenen Kultur ab, vermitteln aber gleichzeitig die jüdische Kultur, wie beispielsweise in dem deutsch-arabischen Stück „Isaak und der Elefant Abul Abbas“ oder aktuell in dem deutsch-türkischsprachigen Stück „BURAYA! ORAYA! HIERHIN! DORTHIN!“. Dort geht es um eine Zeitreise ins Istanbul vor 100 Jahren, bei Isaak und dem Elefanten um eine reale Geschichte aus dem Jahr 798. Beide Stücke sind zweisprachig.
In fast allen Stücken gibt es den jüdischen Jungen Shlomo und das türkische Mädchen Ayshe, das sehr viele Fragen stellt, über die die beiden dann diskutieren, um noch schlauer zu werden.
Norbert Reichel: Ein sehr schlaues Mädchen.
Shlomit Tripp: Genau. Sie ist sehr schlau, fast schon schlauer als ihr Freund Shlomo. Und sie ist technisch begabt. Damit werden auch Klischees aufgebrochen.
Norbert Reichel: Beim Elefanten Abul Abbas saßen die beiden im Publikum, auch Rabbi Blumenberg aus der Bim-Bam-Schalömchen-Bahn. Alle waren da. Da sieht man mal wie attraktiv das Stück ist. Sie haben sich mit der Schalömchen-Bahn an dem Festjahr „1700 Jahre jüdisches Leben“ beteiligt. Zum Festjahr gibt es darüber hinaus ein sehr schönes lustiges Video, in dem die Ratsherren des Jahres 321 sehen: O – da sind Juden, wenn wir die in den Stadtrat aufnehmen, können die die Arbeit machen. Die Shalömchen-Bahn hält an allen jüdischen Feiertagen, die von Rabbi Blumenberg den Fahrgästen erklärt werden.
Shlomit Tripp (lacht): Das war unser erstes Video. Technisch noch nicht ganz so perfekt.
Norbert Reichel: Gut gefallen hat mir auch, wie in den Geschichten jüdische und islamische Themen miteinander verknüpft werden. Besonders gut gefiel mir in den Gesprächen zwischen Shlomo und Ayshe die Folge, in der die Speisegesetze erklärt wurden, was koscher ist, was halal, wo die Unterschiede sind. Es wurde auch erklärt, welche Tiere gegessen werden dürfen. Aber als es dann zur Frage der Schlachtung, des Schächtens kam, durften die Tiere alle in den Streichelzoo. Ich denke, das tut den Kindern gut. Sie haben das ja auch in der Esther-Geschichte so gezeigt. Haman, der Bösewicht, wird in einem Gefängniswagen weggeschleppt. Ihm werden nicht – wie in der Megillat Esther zu lesen – die Ohren abgeschnitten, derer dann in den leckeren Haman-Taschen gedacht wird.
Shlomit Tripp: Es ist immer schwierig, biblische Inhalte zu zeigen. Sie sind generell nicht kindgerecht. Gerade das „Alte Testament“ ist wie alle monotheistischen heiligen Bücher voller brutaler Szenen. Das muss man alles absoften und kindgerecht umgestalten. Wir verwenden beispielsweise nie den Ausdruck, dass jemand umgebracht wird. Wir sagen, dass jemand weggebracht wird. Die Kinder werden noch früh genug lesen, was da tatsächlich geschrieben steht. Viele verstehen auch von selbst, was gemeint ist, aber wir versuchen es eben abzumildern.
Der Kampf mit der Berliner Ausländerbehörde
Norbert Reichel: Das Wegbringen kann aber auch unangenehme Assoziationen wecken. Ich rede jetzt nicht vom bösen Haman, der alle Jüdinnen und Juden ermorden lassen wollte.
Shlomit Tripp: Sie denken an die Debatte um Abschiebungen. Das kann sein. Bis jetzt habe ich so etwas noch nicht gehört, aber vielleicht ist es gar nicht so schlecht, eine solche Parallele zu sehen. Es geht ja auch darum, dass jemand eine Minderheit auf die ein oder andere Art loswerden möchte. Für manche Menschen bedeutet das Wegbringen, die Abschiebung, den sicheren Tod.
Norbert Reichel: Sie haben selbst erfahren, was das bedeutet. Als Achtzehnjährige wollten die deutschen Behörden Sie aus Deutschland in die Türkei abschieben.
Shlomit Tripp: Das stimmt. Meine Eltern waren politisch sehr aktiv. Die Türkei war schon immer ein Pflaster, in dem die Demokratie schwierig war, nicht erst seit Erdoǧan. Es gab Militärputsche, Diktaturen, Massaker. Das ist vielen Leuten nicht bewusst. Es ist relevanter geworden, weil der Islam in den Vordergrund gerückt wurde. Solange der Islam in der Türkei keine Rolle spielte, war das offenbar in Deutschland irrelevant. Jetzt aber, wo die Demokratie durch eine islamische Partei, die AKP, gefährdet wird, scheint das für die europäischen Gesellschaften relevanter zu sein. Meine Eltern haben damals sehr aktiv in der linkspolitischen Szene mitgemischt, waren deshalb auch in der Türkei verfolgt. Sie bekamen daher 1988 Asyl. Davor, seit 1977 hatten wir die meiste Zeit in Prag und in Moskau gelebt, seit meinem siebten Lebensjahr.
Norbert Reichel: Geboren wurden Sie 1970 in Berlin.
Shlomit Tripp: In Berlin-Charlottenburg. Ich habe dort meine ersten sieben Lebensjahre verbracht. Dann bin ich mit meinen Eltern in den Ostblock gezogen, in die Tschechoslowakei und Moskau. Als ich zwölf Jahre alt war, waren wir auch etwa ein Jahr in Leipzig. Das war das unglücklichste Jahr meines Lebens.
Norbert Reichel: Warum?
Shlomit Tripp: Ich habe noch nie so viel geballten Rassismus erlebt wie in diesem Jahr 1982 in Leipzig, auch mit körperlicher Gewalt. Ich wurde als Roma wahrgenommen. Niemand wollte mir glauben, wer ich bin. Aus ihrer Sicht war ich eine bulgarische Roma, die sich interessant zu machen versucht. Mit dieser Behauptung wurden die Kinder von ihren Eltern gegen mich aufgestachelt. Ich wurde von einer ganzen Schulklasse krankenhausreif geschlagen. Ich bin immer noch davon traumatisiert. Ich habe auch immer noch Probleme mit der Stadt Leipzig. Wenn ich Leipzig höre, wenn ich mit dem Zug durch Leipzig fahre, muss ich immer an diesen Vorfall denken.
Norbert Reichel: Heute gilt Leipzig als eine der liberalen Städte in Ostdeutschland.
Shlomit Tripp: Es hat sich viel verändert. Die Stadt ist sicherlich eine andere Stadt als damals.
Ich erinnere mich auch an Berlin-Grünau in der damaligen Zeit. Plattenbauten, noch keine richtigen Straßen, überall Schlamm. Alle stampften mit Gummistiefeln durch die Gegend. Sie konnten überhaupt nicht verstehen, was wir Ausländer da zu suchen hätten. Ihnen zu erklären, dass wir Türken waren, war zwecklos. Sie waren der Meinung, dass Türken „drüben“ leben, im „Westen“, die sind nicht in der DDR. Wenn wir behaupteten, wir wären Türken, würden wir lügen und versuchen zu verheimlichen, dass wir bulgarische Roma sind. Irgendein Familienvater meinte, er wisse das, und verbreitete das im ganzen Wohngebiet. So entstand ein Mob, der gegen mich anging. Meine Eltern waren so gut wie nie sichtbar. Sie gingen um sieben Uhr aus dem Haus zur Arbeit und kamen um neun Uhr abends wieder nach Hause. Sie hat man nicht wahrgenommen, aber mich hat man wahrgenommen, weil ich zur Schule ging.
Norbert Reichel: Man hat ja auch die Vertragsarbeiter aus Mozambique, Kuba oder aus Vietnam nicht im Alltag gesehen. Sie waren mehr oder weniger kaserniert. Kontakte zur örtlichen DDR-Bevölkerung waren im Grunde verboten.
Shlomit Tripp: Es war dort sehr schwierig. Selbst wir bekamen von der Stasi die Vorgabe, dass wir keine privaten Beziehungen, keine Freundschaften mit der örtlichen Bevölkerung schließen durften. Meine Eltern durften nur mit ihren Arbeitskolleginnen und Arbeitskollegen Kontakt haben, die auch türkische, politisch aktive Leute waren. Das waren etwa zehn Leute. Diese Menschen durften sich mit niemandem außerhalb ihres Kreises anfreunden.
Norbert Reichel: Angolanerinnen oder Vietnamesinnen, die schwanger wurden, wurden sofort in ihr Herkunftsland zurückgeschickt.
Shlomit Tripp: Liebschaften waren ausgeschlossen, nicht einmal Freundschaften waren erlaubt. Ich als Kind durfte das, denn das war nicht zu vermeiden, aber meine Eltern lebten praktisch in einer Bubble.
Norbert Reichel: 1988 kamen Sie wieder nach West-Berlin.
Shlomit Tripp: 1988 kamen wir wieder nach West-Berlin und haben politisches Asyl beantragt. Der Hauptgrund war eigentlich, dass meine Eltern an mich dachten, damit ich mein Leben weiterhin gestalten konnte und nicht im Ostblock feststeckte. Sie waren auch desillusioniert. Sie hatten schon verstanden, dass es nicht so funktionierte, wie sie es sich vorgestellt hatten. Als sie dann in West-Berlin politisches Asyl beantragten, wurde aber mein Asylantrag unabhängig von dem meiner Eltern bearbeitet, weil ich kurz zuvor volljährig geworden war. So ergab sich die unglückliche Situation, dass die Ausländerbehörde sagte, ich wäre ja nicht politisch aktiv gewesen und hätte daher in der Türkei auch nichts zu befürchten. Das war völlig verrückt. Ich selber war vorher noch nie in der Türkei, nicht einmal zum Urlaub. Aber das interessierte niemanden, es ging nach dem „Blut“, niemanden interessierte, dass ich in Berlin geboren worden war. Meine Eltern hatten dann Kontakt mit Amnesty International. Amnesty International konnte die Ausländerbehörde überzeugen, dass auch Kinder politisch aktiver Eltern verfolgt werden.
Norbert Reichel: Das Prinzip der Sippenhaft.
Shlomit Tripp: Man hätte mich zu Verhören vorgeladen. Die wissen natürlich, dass Kinder viel mitbekommen und Informationen in sich tragen. Diese Verhöre waren auch Folter-Verhöre. Damit konnte Amnesty die Ausländerbehörde überzeugen, dass ich ein Recht auf politisches Asyl hätte.
Therapie mit Puppen
Norbert Reichel: Welche Sprachen haben Sie in dieser Zeit alle gelernt?
Shlomit Tripp: Ich spreche sechs Sprachen: Deutsch, Englisch, Russisch, Tschechisch, von zu Hause auch Türkisch, und aus der Zeit in Israel Hebräisch.
Norbert Reichel: Arabisch?
Shlomit Tripp: Arabisch spreche ich nicht. In „Isaak und der Elefant Abul Abbas“ spiele ich Karl den Großen, das ist meine Rolle. Ich habe wie ein Papagei Arabisch nachgeplappert, so wie mir das andere Künstler vorgesprochen hatten. Ich denke, das arabischsprachige Publikum hat sich über meinen Akzent schlapp gelacht.
Norbert Reichel: Diese Mehr- oder Vielsprachigkeit ist auch ein Merkmal Ihres Theaters. Aber warum Puppentheater?
Shlomit Tripp: Ich habe Puppentheater immer schon sehr geliebt. Man darf auch nicht vergessen: Ich bin im Ostblock aufgewachsen. In Russland und in Tschechien. Da hat das Puppentheater eine ganz andere Stellung als in Westeuropa. In Deutschland assoziiert man mit Puppentheater Gaukler und Kasperletheater, das durch die Städte zieht. In Osteuropa ist Puppentheater eine hohe Kunst. Es gibt eigene Theaterhäuser, in denen Puppen- und Marionettentheater vorgeführt werden. Das hat mich als Kind sehr angesprochen. Aber auch meine Mutter hat Stabpuppen gebaut, meine Oma spielte Karagöz-Schattentheater-Figuren. Ich habe vieles von meiner Mutter gelernt, Nähen und Bautechnik, selbst natürlich noch weiter ausgearbeitet, aber die Grundlagen sind von meiner Mutter. Die Bubales-Figuren sind Klappmaulpuppen, für jemanden, der aus der Jim-Henson-Zeit kommt, mit der Sesamstraße, den Fraggles und den Muppets aufgewachsen ist, vielleicht nicht ungewöhnlich.
Ich bin auch der Meinung, dass Puppen ein gutes therapeutisches Werkzeug sind. Man kann mit Puppen Menschen für Inhalte öffnen, für die sie sonst vielleicht eher verschlossen sind. Man kann mit Puppen Brücken bauen, an das Judentum heranführen, ohne erhobene Zeigefinger-Pädagogik, auf eine lustige Art. Ich habe sehr oft von Leuten, die – manchmal auch unfreiwillig, als Haustechniker beispielsweise – das Stück angesehen haben, dass sie gar nicht damit gerechnet hätten, was sie da sahen. Sie dachten, es würde etwas langweiliges, irgendetwas das nur mit Religion, Judentum oder so zu tun hat werden und dann hat es Ihnen doch sehr gut gefallen. Die Reaktionen sind durchweg positiv. Und das liegt an den Puppen.
Norbert Reichel: Ich wage folgende These: Man kann viele Dinge mit Puppen oder mit animierten Filmen, mit Graphic Novels, viel besser rüberbringen als in den klassischen Filmen – wie meine Kinder immer sagten – „auf Mensch“. Ich denke bei Graphic Novels beispielsweise an „Maus“ von Art Spiegelman oder bei dem Atombombenangriff auf Hiroshima an „Die letzten Glühwürmchen“ von Hayao Miyazaki. Das wirkt viel beeindruckender als die üblichen Filme oder Theateraufführungen, in denen dann Personen wie tot am Boden liegen, die dann aber nach Ende des Stücks wieder aufstehen, den Applaus genießen oder im nächsten Film wieder in der ein oder anderen Rolle zu sehen sind. Es ist endgültiger.
Shlomit Tripp: Es ist aber auch ein emotionaler Filter da, wenn nicht reale Personen etwas nachspielen, sondern Puppen oder animierte Personen. Man kann die Inhalte dann besser aufnehmen und denkt vielleicht anders darüber nach.
Das zionistische Kamel und Glückel aus der Schüssel
Norbert Reichel: Sie haben noch einen anderen Beruf, bei der W. Michael Blumenthal-Akademie in Berlin, direkt gegenüber vom Jüdischen Museum.
Shlomit Tripp: Das ist mein Hauptberuf. Ich mache Community-Programme im Jüdischen Museum. Ich konzipiere kreative Programme für Gruppen, die sich in irgendeiner Form miteinander definieren. Das sind oft jüdische Communities, die sich für jüdische Themen interessieren, aber auch einmal Themen an der Peripherie, außerhalb der jüdischen Gemeinde suchen, was nicht in der Gemeinde-Bubble zu finden ist. Es gibt aber auch das Gegenteil, Communities, die sich nicht mit dem Judentum beschäftigen, sich vielleicht auch gar nicht dafür interessieren. Die Frage ist, was man machen könnte, um sie für das Thema Judentum zu interessieren. Ich mache zum Beispiel jüdische Kochkurse oder ein Schattentheater mit türkischer Technik, Karagöz.
Wenn Türken Karagöz hören, sind sie sofort interessiert und begeistert. Ich habe einmal ein Projekt gemacht, bei dem etwa 200 Menschen mitwirkten, Thema war die Arche Noah. Das Stück wurde in drei Sprachen aufgeführt. Man hörte aus dem Off in Deutsch, Türkisch und Hebräisch die Geschichte der Arche Noah. Dazu wurden dann die verschiedenen Tiere in dieser Technik gespielt. Es war ein Mammutprojekt. Eine Gruppe hat die Kulissen und die Figuren gebaut – das war die größte Gruppe. Eine andere Gruppe hat die Sound-Datei, Musik und Chor, mit dem Kinderchor etwa 40 Personen. Die dritte Gruppe spielte die Figuren, hatte dafür die Schattentechnik erlernt. Die 200 Teilnehmer:innen hatten zur Vorführung auch ihre Familien mitgebracht. Wir mussten zwei Vorführungen anbieten, weil wir sie nicht alle in einen Saal bekamen. Es waren etwa 500 bis 600 Zuschauer:innen an einem Tag.
Norbert Reichel: Wo haben Sie die 200 Leute gefunden?
Shlomit Tripp: Ich bin ja eine sehr umtriebige Person. Ich habe mir unglaublich viel Zeit genommen, bin durch Vereine gegangen, die oft auch ihre Frauenfrühstücke machen. Da war es gut, dass ich eine Frau bin, deshalb konnte ich dahin gehen. Ich bin auch in die Moscheen, in die Synagogen gegangen. Ich habe in meinem privaten Umfeld viele Leute angesprochen. Im jüdischen Museum wunderten sich meine Kolleg:innen, wieviele israelische und türkische Familien sich beteiligten. So entstanden auch neue Freundschaften. Arabische und russische Frauen bastelten gemeinsam und tauschten sich über ihr Leben aus.
Eine Anekdote: Ich war in einem Verein mit Stadtteilmüttern. Viele waren palästinensischer Herkunft. Sie haben auch an den Figuren gebastelt. Da kamen muslimische Frauen aus einer anderen Arbeitsgruppe hinzu, die gar nichts mit uns zu tun hatten, und fragten eine Frau, die gerade ein Kamel baute, was sie da mache. Sie antwortete: „Ich baue ein zionistisches Kamel“. (Shlomit lacht)
Norbert Reichel: Was darf ich mir darunter vorstellen?
Shlomit Tripp: Das war einfach so lustig, denn es gibt ein hebräisches Lied zu diesem Kamel. Das Kamel hat zu dieser Musik getanzt. Das Kamel wurde von einer Palästinenserin gebaut, es wurde von türkischen Teenagern gespielt. Der Songtext kam von einem hebräisch-israelischen Kinderchor. Multikulti pur. So entstanden solch witzige Anekdoten. Die Frau hatte in ihrem Kopf diese Sache mit dem Zionismus. Trotzdem fand ich beachtlich, dass sie mitgemacht hat.
Norbert Reichel: Als sie das „zionistische Kamel“ erwähnten, hatte ich mir erst einmal ein Kamel mit einem Bart wie Theodor Herzl vorgestellt. Aber ohne Witz: Viele verwechseln ja „jüdisch“, „hebräisch“, „israelisch“, „zionistisch“ miteinander und denken, das wären nur Synonyme.
Shlomit Tripp: Das ist ja der Punkt bei solchen Projekten. Auch jetzt aktuell ist wieder etwas sehr Schönes entstanden, ein jüdisches Community-Projekt: „Glückel aus der Schüssel“. Glückel ist ein blaues koscheres Museumsmonster. Glückel hat in der Corona-Zeit eine interkulturelle Kochshow moderiert. Alles auf youtube zu sehen, es gibt zum Beispiel ukrainische, italienische oder jüdische Gerichte zu diversen Festen, wie zu Chanukka oder Ostern. Der Name Glückel ist ein jüdischer Frauenname. Wir haben sie nach Glickel von Hameln benannt, eine interessante Frau der deutsch-jüdischen Geschichte, die Memoiren über ihr Leben im hanseatischen Raum des Mittelalters schrieb.
Unsere Glückel, das koschere Monsterchen, macht demnächst etwas ganz Tolles. Sie wird Zeitreise-Führungen durch das Jüdische Museum machen. Sie wird mit einem rollenden Kleiderschrank und Kindern durch das Museum wandern, sich an jeder Station in eine jüdische Person der Zeit verkleiden und mit den Kindern über das Leben dieser Person sprechen. Dazu gehören auch Glickel von Hameln, ein Tora-Schreiber aus dem Mittelalter, eine Matriarchin der Mannheimer-Familie. Da sind auch Personen, die kaum jemand kennt, zum Beispiel Käte und Albert Baer, ein jüdisches Ehepaar, dass in den 1930er Jahren ein Puppentheater gegründet hatte und dann nach Palästina emigriert ist. Das ist für die Kinder ein interessanter Abschnitt. Ich bin als Albert verkleidet, Glückel als Käte. Wir sprechen darüber, ob wir in Deutschland bleiben oder ob wir nach Palästina, in das Land unserer Vorfahren, auswandern sollen. Das ist gerade für Kinder, die aus einer Familie mit Migrationshintergrund kommen, interessant, denn ich glaube, jedes dieser Kinder kennt solche Gespräche unter den Eltern: Wollen wir hierbleiben, uns endgültig integrieren oder wieder zurück in die Heimat unserer Vorfahren? Türkische, arabische, ukrainische Kinder identifizieren sich mit einer solchen Geschichte. Darum geht es in dieser Führung.
Bisher war es immer so, dass das Judentum Kindern als Religion erklärt wurde. Aber das Judentum ist ja nicht nur eine Religion. Das Judentum ist eine Kultur, ein Volk. Viele Juden sind noch nicht einmal religiös.
Norbert Reichel: Ich sage es immer so: Als Jude kann man Atheist sein, wenn man aber Jude werden will, jedoch nicht.
Shlomit Tripp: Genau. Aber die Übertritte sind noch ein eigenes Thema, inwieweit Konvertiten von den Menschen innerhalb der jüdischen Community überhaupt individuell akzeptiert werden. Eine aktuelle Debatte ist zum Beispiel auch die Frage, wie jüdisch jemand noch ist, der nur einen jüdischen Großvater hatte, sich aber in der deutschen Kulturszene als Jude vermarktet.
Norbert Reichel: Da gibt es dann heftige Debatten und Maxim Biller schreibt dazu eine Glosse.
Shlomit Tripp: Richtig so.
Nach dem 7. Oktober
Norbert Reichel: Der 7. Oktober 2023 wird für lange Zeit ein Datum bleiben, bei dem man die Jahreszahl nicht nennen muss, ähnlich wie beim 9. September. Wir müssen meines Erachtens auch darüber sprechen, was sich seit dieser Zeit für Sie und Ihr Puppentheater verändert hat.
Shlomit Tripp: Ich habe gemerkt, dass ich wohl etwas naiv war zu denken, dass es so viel Antisemitismus gar nicht geben kann. Wenn ich auf der Straße herumlaufe, erkennt man mich ja auch nicht als Jüdin. Aber nach dem 7. Oktober ist etwas hochgekocht, das vorher schon vorhanden war.
Zum einen sind türkische Organisationen, die ich als Kooperationspartner hatte, weggebrochen. Das Problem mit der deutsch-türkischen Community ist generell, die Bildungsferne und das Desinteresse an anspruchsvoller Kultur. Das ist in der Türkei anders. Wir haben dort ein Bildungsbürgertum, das ihre Kinder ins Theater mitnimmt. Das ist hier nicht so. Hier ist es schwierig, türkische Eltern dazu zu bringen, dass sie mit ihren Kindern überhaupt in ein Theater gehen. Dazu gehört unglaublich viel Vorarbeit. Deshalb brauche ich die türkischen Organisationen. Die Leute, die dort arbeiten, teilten mir nach dem 7. Oktober in etwa mit: „Es tut uns leid, wir können die Leute jetzt nicht in ein jüdisches Puppentheater bringen, das wäre der falsche Zeitpunkt.“ Ich erwiderte: „Jetzt ist erst recht der richtige Zeitpunkt.“ Die Antwort war: „Shlomit, wir können nicht für deine Sicherheit garantieren. Wir wissen nicht, ob es irgendwelche Vorfälle geben wird.“ Sie selbst hätten Angst, von ihrer eigenen Community angefeindet zu werden, wenn sie sich hinter das Projekt stellen. Das heißt In den Leitungspositionen sind Leute, die eigentlich sehr an der Zusammenarbeit mit einem Jüdischen Puppentheater interessiert wären, aber Angst vor den Reaktionen der eigenen Leute haben.
Norbert Reichel: Es ist wie mit den arabischen Staatschefs. Die haben Angst vor ihrer eigenen Bevölkerung. Mit der Hamas und ähnlichen Gruppen wollen die eigentlich nichts zu tun haben.
Shlomit Tripp: Es ist kaum kontrollierbar.
Norbert Reichel: Man könnte von einer horizontalen Spaltung sprechen. Wie ist es bei Ihren arabischen Kooperationspartnern?
Shlomit Tripp: Das war schon vor dem 7. Oktober sehr schwierig. Ich habe nicht ohne Grund das Theaterstück „Isaak und der Elefant Abul Abbas“ als Videostück veröffentlicht. Ich habe aufgehört, dieses Stück live aufzuführen, weil ich permanent damit zu kämpfen hatte, dass ich bei jeder arabischen Gemeinde, bei der ich anklopfte, hörte: „Wir können kein jüdisches Theater in unserer Gemeinde aufführen. Das geht in unseren Vereinen nicht, weil wir einen Aufstand haben werden.“ Das kam so oft, dass ich mich entschieden habe, das Stück in ein Video umzuwandeln. Es ist frei verfügbar. Wer will, kann es anschauen, wer nicht will, lässt es. Anders ließ es sich nur mit viel Überredungskunst umsetzen. Bei der türkischen Community dagegen gab es mehr Möglichkeiten, aber jetzt, nach dem 7. Oktober, ist auch das kaum noch möglich.
Ich war so gefrustet, dass ich plötzlich innerlich den Wunsch hatte, einmal nicht mehr interkulturell zu sein, sondern ein Stück nur meiner jüdischen Community zu zeigen, und ihnen so Trost zu spenden. Etwas, was sie in dieser schwierigen Situation auffängt. Es war ein Trauma in der ganzen Gemeinde. Niemand hat geglaubt, dass wir zu unseren Lebzeiten noch einmal ein Pogrom erleben werden. Pogrome – das war für uns Geschichte.
Deswegen wollte ich etwas Schönes, etwas nur für meine Community machen. Deshalb habe ich das Purim-Stück „Das Geheimnis der Königin“ in der Rekordzeit von sechs Monaten produziert. Normalerweise brauche ich für die Produktion eines Stücks etwa zwei Jahre, auch wegen des festen Jobs, den ich habe. Normalerweise laufen die Produktionen an den freien Tagen und an den Urlaubstagen. In diesem Fall habe ich vom 8. Oktober bis 17. März in jeder freien Minute und auch nachts an diesem Stück gearbeitet. Die glänzenden Augen der Kinder und Eltern während der ersten Aufführung in der jüdischen Chabad-Gemeinde, haben mir alles zurückgegeben. All die Rückenschmerzen, die Schlaflosigkeit, all das war nicht mehr wichtig. Die Leute konnten wenigstens eine Stunde wieder lachen und es ging ihnen besser.
Norbert Reichel: Nach dem 7. Oktober habe ich Interviews zu diesem Thema geführt. Es war gar nicht so einfach, Interviewpartner:innen zu finden. Manche, auch ziemlich prominente, wollten aus Sicherheitsgründen kein Interview geben.
Shlomit Tripp: Das kommt hinzu, die Sichtbarkeit. Viele Juden und Jüdinnen wollen jetzt in der Öffentlichkeit nicht mehr als jüdisch erkannt werden, weil sie für sich und ihre Familie ein Sicherheitsrisiko sehen. Ich weiß auch nicht…
Norbert Reichel: Ich bin kein Jude, aber ich habe manchmal ähnliche Gedanken. Ich lese regelmäßig die Jüdische Allgemeine. Tue ich das in der Öffentlichkeit? Inzwischen mache ich das wieder, zum Beispiel im Café, im Bus oder in der Straßenbahn. Aber man denkt schon Komisches, wenn beispielsweise jemand gegenübersitzt, der etwas Arabisches an sich zu haben scheint.
Shlomit Tripp: So weit kommt es. Und dann ist es vielleicht ein Israeli. (beide lachen). Vielleicht kann man schon sagen, dass bei diesem Thema, auch im Hinblick auf den Gaza-Krieg, die Menschen mit den extremen Meinungen immer die lautesten sind und die gemäßigten eher leiser sind. Man hört sie nicht so sehr. Ich spreche hier von beiden Seiten. Das ist sehr schade.
Norbert Reichel: Vielleicht ist Ihre Purim-Produktion das richtige Stück zu dieser Zeit.
Shlomit Tripp: Ich vertrete natürlich auch nur die jüdische Position. Aber ich denke, ich nehme mir das in dieser Situation auch raus. Das heißt nicht, dass ich kein Mitgefühl für die Zivilbevölkerung habe, die in Gaza leidet.
Norbert Reichel: Das sagen mir viele meiner jüdischen Gesprächspartner:innen und mir geht es genauso. Manche sagen mir auch, wir haben auf der einen Seite die Hamas, auf der anderen Netanjahu und seine Rechtskoalition. Dazwischen sehen manche gar nichts mehr und so wächst der Antisemitismus immer weiter.
Shlomit Tripp: Es gibt auf beiden Seiten viele Menschen, die bei diesem Disput – so nenne ich das einmal – ihr Demokratieverständnis verloren haben. Es gibt eine Cancel-Culture auf beiden Seiten, die schon McCarthy-artige Auswüchse hat. Das ist schlechthin undemokratisch. Man sollte andere Meinungen aushalten können, solange sie nicht eindeutig rassistisch oder antisemitisch sind. Sie können doch widersprechen. Aber wenn man sofort abgestempelt wird, wie soll man da weiterkommen? Das verhindert jeden Austausch. Aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben. Vor dem 7. Oktober haben mich schon palästinensische Teenager auf der Berliner Sonnenallee angesprochen: „Ah, sind Sie nicht diese jüdische Puppenspielerin? Ich war mal in Ihrem Theater, als ich klein war! Das hat Spaß gemacht!“ Ich hoffe solche Momente auch nach dem 7.Oktober-Pogrom und dem Gaza-Krieg wieder zu erleben.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. Mai 2024. Das Titelbild, Shlomit mit Mendel und Shlomo, und und alle in diesem Beitrag gezeigten Bilder wurden von Shlomit Tripp zur Verfügung gestellt. Bei ihr liegen auch die Rechte der Bilder.)