Kommunale Gestaltungsvisionen
Zur Bekämpfung der Kinderarmut – ein Gespräch mit Alexander Mavroudis
„Ich möchte unsere Geschichte von einem Leben mit Transferleistungen erzählen. Ich kann und will nicht für alle ‚Hartzer‘ oder ihre Kinder sprechen, ich kann nur das aufschreiben, was ich selbst erlebt und erfahren habe; wie es war, mit Eltern aufzuwachsen, die in dieser Gesellschaft als Außenseiter betrachtet werden. Ich glaube, dass es höchste Zeit ist, über eine Normalität zu sprechen, die gern an den Rand der Gesellschaft verbannt wird, obgleich sie für viele schon lange Realität ist und längst die gutbürgerliche Mittelschicht erreicht hat. (…) / Träumen erfordert viel Mut (…)“ (Undine Zimmer, Nicht von schlechten Eltern – Meine Hartz-IV-Familie, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag, 2013)
Die Armut von Kindern und Jugendlichen wird schon seit mehreren Jahren mit einem Anteil von etwa 20 Prozent angegeben. Im Jahr 2023 wird als eines der Instrumente zu ihrer Beseitigung die „Kindergrundsicherung“ diskutiert. Auf der einen Seite sollen verschiedene Transferleistungen zusammengefasst werden, sodass Eltern diese nicht mehr bei verschiedenen Behörden beantragen müssen, auf der anderen Seite wird eine noch nicht abschließend bezifferbare Erhöhung debattiert, eine Debatte, die durchaus analog zu früheren Debatten über einen Mindestlohn oder über das sogenannte „Bürgergeld“ betrachtet werden kann. Wenn die parlamentarischen Beratungen Erfolg haben, sind die ersten Zahlungen im Jahr 2025 zu erwarten. Lesenswert zur „Kindergrundsicherung“ ist ein Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe (AGJ) vom Dezember 2022.
Staatliche Transferleistungen für Kinder und Jugendlichen sind jedoch nur eine Seite der Medaille. Die andere sind Investitionen in die Infrastruktur des Umfelds von Kindern und Jugendlichen, die ihnen mehr Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Der Landschaftsverband Rheinland ist einer der Akteure in Nordrhein-Westfalen, die solche Programme umsetzen. Die beiden Landschaftsverbände mit Sitz in Köln und Münster sind auch Sitz der beiden Landesjugendämter in Nordrhein-Westfalen. Die Landschaftsverbände sind Kommunalverbände. Oberste Landesjugendbehörde ist das nordrhein-westfälische Kinder- und Jugendministerium.
Ein landesweites Programm zur Bekämpfung von Kinderarmut ist das Programm „kinderstark“. Programmmanager ist Alexander Mavroudis, der diese Aufgabe als Mitarbeiter des Landesjugendamts Rheinland wahrnimmt. Er leitet die Koordinationsstelle Kinderarmut. Die Koordinationsstelle gibt einen regelmäßig erscheinenden Newsletter heraus, der abonniert werden kann.
Was ist Armut?
Norbert Reichel: Was brauchen wir, um Armut zu bekämpfen?
Alexander Mavroudis: Ich befasse mich mit dem Thema seit etwa 2009. Der Grundansatz, der sich in dieser Zeit für uns als Landesjugendamt und das Team, mit dem ich arbeite, herauskristallisiert hat, ist, dass wir in der Armutsprävention eine Doppelstrategie brauchen. Armut hat viele Gesichter: Die möglichen Folgen von Armutslagen führen zu verschiedenen Effekten, bei der sozialen und kulturellen Teilhabe, beispielsweise bei der Teilnahme an Ausflügen für Kinder in der Schule, in der Größe von Wohnungen, der Ernährung. Der Kern des Ganzen sind letztlich sehr eingeschränkte finanzielle Verhältnisse, in die die betroffenen Kinder hineingeboren werden. Doppelstrategie heißt nun: Wir müssen uns die Ursachen anschauen – und wir müssen uns die Folgen anschauen, die diese Situation in den Familien bewirkt. Die Folgen könnte man als den manchmal unsichtbaren Armutsrucksack bezeichnen. Wir müssen – etwas überspitzt formuliert – also darauf hinwirken, dass Kinder, die in Armut aufwachsen, nicht in doppeltem Sinne arm dran sind.
Norbert Reichel: Wie definiere ich Armut?
Alexander Mavroudis: Es gibt einen Berechnungsschlüssel, der besagt, ob das Geld, das einer Familie zur Verfügung steht, ausreicht, die Grundbedürfnisse zu befriedigen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Laut aktueller EU-Armutsdefinition ist arm, wer weniger als 60 % des gewichteten Medianeinkommens zu Verfügung hat. Wir haben seit vielen Jahren eine relativ stabile Armutsquote von 20 Prozent. Die Folgen dieser statistischen Armut stellen sich in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich dar. Zum Beispiel hat das zur Folge, dass in den Städten – durch die in den letzten Jahren zum Teil sogar deutlich gestiegenen Mieten – Verdrängungsprozesse stattfinden. Menschen, die wenige finanzielle Ressourcen haben, können es sich kaum noch leisten, in Städten zu leben.
Norbert Reichel: Die Mieten mögen auf dem Land niedriger sein, aber dafür steigen für diese Menschen die Kosten, um in die Stadt zum Arbeitsplatz zu pendeln.
Alexander Mavroudis: Wenn sie denn eine Arbeit haben. Hinzu kommt, dass wir in Deutschland einen im Vergleich zu anderen OECD-Staaten hohen Niedriglohnsektor haben. Das meine ich unter anderem mit den Ursachen von Armut, über die wir sprechen müssen. Letztlich geht es um die Frage, wie in der Gesellschaft Reichtum verteilt wird. Deutschland ist ein reiches Land, aber viele Menschen leben in prekären Verhältnissen. Das aber hat damit zu tun, dass die Ressourcen in dieser Gesellschaft ausgesprochen ungleich verteilt sind. Das hat etwas mit Einkommensverhältnissen zu tun, mit dem Lohnniveau in verschiedenen Arbeitsverhältnissen. Daran wird nicht gerüttelt. Dort müssten aber sozialpolitische Richtungsentscheidungen getroffen werden. Das betrifft vor allem Entscheidungsträger auf Bundesebene.
Norbert Reichel: Zum Beispiel?
Alexander Mavroudis: Es geht nicht nur um die Frage, über die Runden zu kommen, sondern um die Frage, was Menschen brauchen, um einigermaßen gut leben zu können. Dazu gehört die Debatte um Mindestlöhne, aber auch die Frage, welche Ressourcen es für ein gutes Aufwachsen von Kindern braucht und welche Leistungen unsere Gesellschaft von daher für bedürftige Familien zur Verfügung stellen will. Insgesamt habe ich – auch wenn das nicht mein Spezialgebiet ist – aber den Eindruck, dass es hier keine gesellschaftlichen Mehrheiten für relevante Veränderungen gibt, denn sonst hätten wir nicht diese stabile Armutsquote, die sich seit Jahren nicht verändert. Es erfolgen immer nur kleine Korrekturen – die eigentlichen Ursachen bleiben unangetastet.
Mögliche Folgen der Armut
Norbert Reichel: Bürgergeld und Kindergrundsicherung sind lobenswerte Konzepte, aber ob sie in der Form, wie sie dann beschlossen und umgesetzt werden, helfen, werden wir beobachten müssen. Ich bin nur sehr verhalten optimistisch. Offen gestanden: eher nicht. Aber ich lasse mich natürlich gerne von etwas anderem überzeugen. In deiner Arbeit hast du weniger mit der Sicherung einer finanziellen Grundausstattung einzelner Menschen zu tun als mit dem Umgang mit den Folgen einer unzureichenden Grundausstattung.
Alexander Mavroudis: Es geht um die möglichen Folgen. Das eine sind die Ursachen, das andere die möglichen Folgen. Dies ist das Handlungsfeld, in dem wir in den letzten Jahren in Nordrhein-Westfalen viel bewegt haben. Es geht um die Kommunen, die Quartiere, und um die Spielräume, die die dort tätigen Akteure haben, um Armutslagen präventiv, das heißt frühzeitig und möglichst wirksam zu begegnen. Wichtig ist dabei: Die präventiven Maßnahmen führen nicht dazu, dass es weniger arme Kinder gibt oder weniger arme Familien. Was wir erreichen können ist, dass diese Kinder weniger arm dran sind, weil sie trotz begrenzter Ressourcen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, Zugang zu Sportvereinen, zu Kulturangeboten haben, in der Schule erfolgreich lernen können. Wenn ich von den möglichen Folgen spreche, bedeutet das, dass wir genau hinschauen müssen. Es kann, muss aber eben nicht sein, dass diese Kinder durchweg alle gleichermaßen unter den Folgen von Armut leiden. Das ist kein Automatismus. Die finanzielle Armut einer Familie ist zunächst einmal nur ein Hinweis, ein Indikator, dass wir genauer hinschauen müssen.
Norbert Reichel: Pauschale Zuschreibungen führen möglicherweise zu einer Art von Selffulfilling Prophecy, ein klassischer Priming-Effekt. Das Problem lässt sich nicht einfach lösen, in dem mehr Geld investiert wird.
Alexander Mavroudis: Geld löst bestimmte Probleme, aber wir bewegen uns dann in einem anderen Kontext. Armut bedeutet nicht automatisch, dass wir ganz viel für diese Familien tun müssen, weil diese Familien ihr Leben nicht auf die Reihe bekämen. Ganz im Gegenteil: Die Leistungen dieser Familien sind oft enorm, müssen sie doch mit viel weniger Mitteln über die Runden kommen. Sie bemühen sich sehr um ihre Kinder. Sie haben nur eben begrenzte Ressourcen. Natürlich müssen Familien auch finanziell unterstützt werden, das ist keine Frage. Aber ich wehre mich gegen diesen Automatismus, der immer wieder unterstellt wird. Und wir müssen genau hinschauen, welche Ressourcen die Menschen haben, und das sind eben nicht nur finanzielle Ressourcen, die hier eine Rolle spielen.
Norbert Reichel: Du sprichst die Fähigkeit zu Resilienz an.
Alexander Mavroudis: Ja, finanzielle Armut bedeutet eben nicht, dass diese Menschen sozial schwach sind. Sie können ausgeprägte soziale Kompetenzen haben, weil sie darauf angewiesen sind, sich in ihren Milieus gegenseitig zu unterstützen. Wir müssen hier auch auf unsere Sprache achten, in der wir über diese Familien sprechen. Solche Zuschreibungen wie sozial schwach oder auch bildungsfern erfolgen leider viel zu oft, bis hin zu ausgeprägten Vorurteilen, auch bei Kolleg*innen in der Sozialen Arbeit.
Es geht also um die Anerkennung der Leistungen und damit zugleich darum, wie es gelingen kann, Menschen in Armutslagen in ihrer Resilienz zu stärken. Natürlich darf alles das nicht von dem Blick auf die Verhältnisse ablenken, im Sinne von jeder hat sein Glück selbst in der Hand. Ich nenne ein Beispiel, das die Möglichkeiten und die Grenzen von Resilienz zeigt, das Home-Schooling während der Pandemie. Hier spielt eine Rolle, wie groß eine Wohnung ist, ob das Kind einen ruhigen Platz für seine schulischen Aufgaben hat, wie die technische Ausstattung ist, wie der Zugang zum Internet funktioniert, welche Hilfen Eltern oder größere Geschwister geben können. Dies wurde jedoch viel zu wenig berücksichtigt. Die Familien wurden alleingelassen.
Finanzielle Armut wirkt sich auf das Alltagsleben aus. Das sind Familien, die eben nicht die Möglichkeit haben, mit ihren Kindern große Ausflüge zu machen, denn Mobilität kostet Geld. Das ist nicht überall so im Blick, Stichwort unsichtbarer Armutsrucksack. Ein weiteres Beispiel sind Kindergeburtstage. Haben die Familien das Geld für Geschenke, wenn ihre Kinder zum Geburtstag eingeladen werden? Und was ist mit dem eigenen Geburtstag, wenn ich die anderen Kinder einladen muss? Kann ich die Feier finanzieren, vielleicht einen Kinobesuch?
Armutssensibilität vs. Klassismus
Norbert Reichel: Und dann oft genug auch noch der mitleidige oder mitunter verachtend-missbilligende Blick der anderen, letztlich Klassismus.
Alexander Mavroudis: Dazu gehört das immer wieder kolportierte Vorurteil, dass die von Armut betroffenen Menschen zusätzliches Geld nicht für ihre Kinder verwenden, sondern für ihre eigenen Bedürfnisse, für Tabak und Alkohol. Das ist vielfach widerlegt, auch durch Studien, aber das Vorurteil ist nicht aus der Welt zu bekommen.
Norbert Reichel: Die Unterstützung in migrantischen Familien wird oft genug mit sogenannten „Clan-Strukturen“ identifiziert. Natürlich gibt es diese, aber auf der anderen Seite gibt es in migrantischen Familien oft viel gegenseitige Unterstützung durch Großeltern, Tanten, Onkel, die auch die angesprochene Resilienz der Kinder fördern. Älteren migrantischen Frauen wird oft vorgeworfen, dass sie kaum Deutsch sprechen, Tochter oder Sohn übersetzen müssen. Kaum jemand sieht jedoch ihre Leistungen in der Familie, die dafür sorgen, dass die Kinder gut in der Schule zurechtkommen und sich – wie das so heißt – sozial „integrieren“. In eurer Arbeit müsst ihr solche Vorurteilsstrukturen im Grunde oft genug erst einmal auflösen.
Alexander Mavroudis: Dafür gibt es viele Beispiele. Viele Fachkräfte in den verschiedenen Handlungsfeldern – ich eingeschlossen – sind nicht in Armut aufgewachsen. Deshalb müssen wir immer wieder nachfragen. Selbst wenn es von außen so scheint, dass vieles nicht gut läuft, muss ich mich letztlich immer wieder bei den Familien, den Kindern, den Jugendlichen rückversichern: was brauchen sie wirklich? Aber dies passiert oft genug zu wenig. Allein der Umstand, dass jemand – objektiv gesehen – nur über wenige Ressourcen verfügt, beantwortet nicht die Frage, was diese Familien brauchen.
Norbert Reichel: Wie bekomme ich das heraus? Ich stelle mir das ziemlich aufwändig vor.
Alexander Mavroudis: Nicht wirklich. Es gibt viele Fachkräfte in den Frühen Hilfen, in den KiTas, in den Schulen, in der Kinder- und Jugendarbeit, Kinderärzt*innen, die bereits in Kontakt mit diesen Menschen sind. Die Frage lautet, wie sie diesen Kontakt gestalten, mit welchen Einstellungen und welche Wahrnehmungsmuster dabei wirken. Es geht um Armutssensibilität. Wir müssen erst einmal selbst reflektieren, wie sensibel wir für deren Lebenslage sind. Eigentlich ist das ein ganz banaler pädagogischer Grundsatz und gilt grundsätzlich. Bei Armut ist es exorbitant wichtig zu erfahren, was die betroffenen Menschen selbst regeln können und wo sie Unterstützung brauchen. Wir machen in unseren Seminaren die Erfahrung, dass viele Fachkräfte sagen, dass sie das gar nicht im Blick gehabt hätten.
Man kennt das auch aus der Schule. Wenn nach den Ferien oder nach dem Wochenende gefragt wird, was die Kinder Tolles gemacht hätten, impliziert das, dass alle Kinder die Möglichkeit hätten, etwas Tolles zu machen. Das hören die Kinder. Sie hören, was die anderen erzählen und erkennen, was sie selbst nicht erzählen können. Das macht etwas mit den Kindern, auch mit den Familien. Mit Armutssensibilität können wir die Ursachen der Armut natürlich nicht beseitigen, aber wir können den Menschen anders begegnen und zum Beispiel verhindern, dass wir sie ungewollt beschämen.
Die Geschichte mit dem unsichtbaren Armutsrucksack spielt hier eine Rolle. Viele Menschen wollen das, was ihnen Probleme bereitet, nicht unbedingt nach außen tragen, aber solche Stuhlkreise, wie ich sie eben am Beispiel der Schule beschrieben habe, sorgen dafür, dass es nach außen dringt. Fachkräfte müssen die Belastungen vorher erkennen und darauf eine angemessene Antwort finden. Das ist ein ganz entscheidender Ansatzpunkt, der auch gar nicht so viel Geld kostet. Es geht nicht um zusätzliche Aufgaben wie oft vermutet wird, sondern um die Einstellungen, wie die vorhandenen Aufgaben bearbeitet werden. Diese Kompetenz gehört auch in die Ausbildung.
Armutssensibilität meint eben nicht, ich habe entdeckt, dass du arm bist und weiß damit, was du brauchst, sondern es ist ein Hinweis, Familien, Kinder und Jugendliche anzusprechen und sich zu vergewissern, was sie wirklich brauchen. Reichen gruppenbezogene Zugänge oder muss ich bei manchen Kindern individuell vorgehen? Möglicherweise auch diskreter als das in Gruppen möglich ist.
Kommunen stärken
Norbert Reichel: In Nordrhein-Westfalen gibt es schon seit längerer Zeit verschiedene Förderprogramme, die immer wieder ihren Namen änderten, weil jede*r Minister*in einen eigenen Akzent setzen wollte. Es begann mit „Kein Kind zurücklassen“, wurde zu „Kommunale Präventionsketten“ und heißt jetzt „kinderstark“.
Alexander Mavroudis: Die Crux sind die unterschiedlichen politischen Rahmungen. Das ist immer eine Herausforderung. Den Entwicklungsprozessen hat es jedoch nicht geschadet. Im Kern ging es immer um das Gleiche, den Aufbau von Präventionsketten, um den Folgen von Armutslagen präventiv entgegenwirken zu können. Inzwischen beteiligen sich mehr als zwei Drittel der Kommunen und Jugendämter. Der Titel von Programmen spielt keine Rolle, der entscheidende Punkt in der Kommunikation mit den Kommunen ist es, dass die Kommunen ihre eigenen Schwerpunkte setzen.
Präventionsketten sind kommunale Initiativen. Das Land unterstützt die Kommunen auf ihrem Weg, daher muss die einzelne Kommune wissen, was sie braucht und will. Das klingt banal, ist es aber nicht. Der Vorteil bei dem Programm „kinderstark“ ist eindeutig: es ist langfristig angelegt. Es geht um die Weiterentwicklung von Strukturen. Es reicht eben nicht, mal für ein Jahr ein Projekt zu machen, in dem es dann für Kinder ein gesundes Essen gibt und nach dem Jahr weiß niemand, wie das gesunde Essen weiter finanziert werden soll.
Norbert Reichel: Im Grunde ist das ein Paradigmenwechsel. Ich definiere nicht von oben, was zu tun wäre, sondern lasse den Kommunen die Spielräume, ihre Möglichkeiten zu finden und das zu tun, was bei ihnen vor Ort wichtig ist.
Alexander Mavroudis: Das ist der Vorteil. Deshalb beteiligen sich auch so viele Kommunen. Das ist natürlich ein langer Prozess und lässt sich nicht von einem auf den anderen Tag schaffen. Das erste Modell war „MoKi“ – „Monheim für Kinder“, entwickelt und durchgeführt in enger Kooperation mit der Arbeiterwohlfahrt. Unterstützung im Prozess leistete das Frankfurter Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik, namentlich Gerda Holz. Gerda Holz und das Institut haben den Begriff der „Präventionsketten“ maßgeblich geprägt. Seit 2002 wurde die Initiative in Monheim systematisch entlang der Biographie des Aufwachsens durchgeführt und weiterentwickelt.
Seitdem gab es auch in vielen anderen Kommunen in Nordrhein-Westfalen vergleichbare Entwicklungsprozesse, fachlich begleitet durch die Landesjugendämter Rheinland und Westfalen und auch das Institut für soziale Arbeit in Münster Mit „kinderstark“ haben wir erreicht: wir brauchen keine Modelle mehr, sondern wir brauchen eine dauerhafte Unterstützung für die Kommunen, entwickelte Modelle umzusetzen. Für die Verantwortlichen in den Kommunen ist es wichtig, dass es diese Unterstützung von Seiten des Landes gibt. Und die Unterstützung des Landes sorgt dafür, dass sich Kommunen auf den Weg machen.
Norbert Reichel: Was heißt das jetzt in der einzelnen Kommune konkret?
Alexander Mavroudis: Das hängt immer davon ab, wo eine Kommune steht. Es geht nicht darum, immer wieder Neues zu erfinden, sondern darum zu schauen, was es schon an Gutem gibt und wie die Beteiligten besser miteinander zusammenarbeiten, sich aufeinander abstimmen könnten. Wenn ich eine Präventionskette aufbaue, muss ich erst einmal wissen, was es schon gibt. Das weiß aber oft niemand. Die Jugendämter wissen, was in der Jugendhilfe geschieht, die Gesundheitsämter, was im Gesundheitswesen passiert, die Schule weiß, was in der Schule geschieht, jeder Bereich natürlich nur im Rahmen seiner Zuständigkeiten. Abstimmung ist alles andere als selbstverständlich. Das heißt: du brauchst einen Überblick. Wer sind die Akteure? Was tun die bereits, was sollten sie tun? Du brauchst Lösungen, damit die Ämter systematisch zusammenarbeiten, ihre Planungen aufeinander abstimmen, die Akteure miteinander kommunizieren. Armut ist ein klassisches Querschnittsthema. Wir reden zunächst noch sehr abstrakt über Strukturentwicklung und den Aufbau von Vernetzungsstrukturen. Das betrifft noch nicht die Angebote für die „Endverbrauchern“. Letztlich sind das erst einmal Prozesse zur Organisationsentwicklung.
Familienzentren und Familienbüros
Norbert Reichel: In Nordrhein-Westfalen gibt es „Familienzentren“. Die gibt es fast flächendeckend in den Kindertageseinrichtungen und inzwischen auch in einigen Grundschulen. Es begann mit den Familiengrundschulzentren vor einigen Jahren in Gelsenkirchen. Inzwischen gibt es auf Landesebene zwei Förderprogramme. In den „Familiengrundschulzentren“ erreicht man doch die „Endverbraucher“. Das wäre dann schon mehr als Organisationsentwicklung.
Alexander Mavroudis: Das Familiengrundschulzentrum könntest du auch als einzelne Maßnahme umsetzen. Im Ansatz der Präventionsketten kommt etwas Grundlegendes hinzu: es muss eine gute Abstimmung und Zusammenarbeit der relevanten Ämter geben, die Maßnahme ist eingebettet in kommunale Planung. Das gilt genauso im Offenen Ganztag. Es geht uns nicht nur um die einzelne Offene Ganztagsschule. Wenn es eine gute Zusammenarbeit zwischen den Ämtern gibt, wissen wir, in welchen Stadtteilen es wichtig ist, ein Familiengrundschulzentrum einzurichten, und wir können uns auch darüber verständigen, was wir eigentlich mit einem Familiengrundschulzentrum erreichen wollen und können. Die kommunale Planung kann darauf Einfluss nehmen, wie es gestaltet wird, wer welche Verantwortung übernimmt und welche Angebote letztlich den Kindern und den Familien angeboten werden. Das Ergebnis wäre ein Familiengrundschulzentrum, das nicht zufällig aufgrund des Engagements einer einzelnen Schulleitung oder OGS-Leitung arbeitet, sondern ein Baustein einer abgestimmten Unterstützungslandschaft im Quartier in einer Kommune ist.
Norbert Reichel: Vielleicht konkretisieren wir dies am Beispiel Sport. Früher, viel früher, um es offen zu sagen, gab es die klassische Straßenkindheit. Kinder trafen sich auf der Straße, spielten Fangen oder Fußball, fuhren Fahrrad oder Rollschuh. Heute gibt es das kaum noch. Wer sich bewegen will, muss sich an einen anderen Ort begeben. Und alles, was Kinder tun, ist hochgradig institutionalisiert und pädagogisiert, im Schulsport ebenso wie im Verein. Zu einem Sportverein haben aber auch nicht alle gleichermaßen Zugang. Die Sportwissenschaft sagt, dass Kinder am Tag mindestens eine Stunde regelmäßig Bewegung haben sollten, nicht nur toben, sondern auch bestimmte Bewegungsabläufe wiederholen und dies möglichst so, dass sie sich nicht selbst schädigen.
Eine Präventionskette könnte sich das Ziel setzen, dass alle Bereiche gemeinsam daran arbeiten, dass sich Kinder ausreichend und gleichzeitig sicher bewegen. Dazu sollen dann entsprechende Angebote geschaffen werden. Auf der anderen Seite gibt es Studien, die zu dem Ergebnis kamen, dass sich an solchen Sport- und Bewegungsangeboten nur die Kinder beteiligen, in deren Familien die Eltern schon darauf achten, dass sie an solchen Angeboten teilnehmen. Die anderen werden jedoch nicht erreicht. Im Kulturbereich, in der Musikschule, der Jugendkunstschule gilt das ebenso. Und in der Pandemie hat sich das verschärft. Finanzielle Grenzen kommen hinzu, Mitgliedsbeiträge, Ausrüstung und so weiter.
Alexander Mavroudis: Zum einen geht es um die Zugänge. Es ist wichtig, dass Fachkräfte in den verschiedenen Einrichtungen Eltern offensiv und gezielt ansprechen, ob es nicht gut wäre, wenn ihre Kinder an einem solchen Angebot teilnähmen, und dafür zu sorgen, dass dies nicht an finanziellen Hindernissen scheitert. Das zweite wäre eine Aufgabe der Kommune: sie müsste sich darüber Gedanken machen, in welchen Lebensphasen Bewegung eine Rolle spielt oder spielen könnte. Dann fange ich in den Frühen Hilfen an, gehe in die KiTa, in die Schule, den Ganztag, die Jugendarbeit und stelle mir immer wieder die Frage, was dort für Bewegungs- und Gesundheitsförderung getan wird und was noch getan werden könnte.
Norbert Reichel: Aufsuchende Sozialarbeit?
Alexander Mavroudis: Der Grundgedanke: es geht nicht darum zu sagen, wo es Angebote gibt und die Familien zu bitten, sie möchten dorthin kommen. Wir müssen die Angebote zu den Familien bringen, wir können nicht erwarten, dass alle von selbst zu uns kommen, sondern wir müssen niedrigschwellige Anlaufstellen, Beratungsstellen schaffen, in denen die Menschen von uns erfahren, wo sie finden, was sie brauchen. Das geht natürlich ganz einfach an Orten, an denen sich die Kinder ohnehin aufhalten, in der Kindertageseinrichtung, in der Schule. Das ist die Idee der Familiengrundschulzentren, aber auch zum Beispiel von Familienbüros.
Norbert Reichel: Was ist ein Familienbüro?
Alexander Mavroudis: Das ist so etwas Ähnliches wie ein Familienzentrum, nur eben nicht in der KiTa oder in der Schule. Es gibt Kommunen, die haben Familienbüros in der Innenstadt, in der Einkaufszone eingerichtet. Dort können Eltern hingehen, einfach einen Kaffee trinken, sich unterhalten, es gibt Spielecken für die Kinder. Dort erfahren die Eltern so nebenbei oder auch, wenn sie nachfragen, gezielt, wo es für ihre Kinder ein Sport- und Bewegungsangebot gibt und wie sie es realisieren können. In den Familienbüros arbeiten Fachkräfte, die angesprochen werden können, auch bei ganz anderen Fragen der Eltern, die erst einmal gar nichts mit den Kindern zu tun haben.
Norbert Reichel: Ärger mit dem Vermieter zum Beispiel? Oder mit dem Jobzentrum?
Alexander Mavroudis: Genau dies. Die Grundidee ist, dass die Familien im Prinzip dort erst einmal alle ihre Alltagsthemen abladen können und dass die Fachkräfte dafür sorgen können, dass die Familien erfahren, wo ihnen geholfen wird, oder sie schaffen selbst ein solches Angebot. Es gibt Sprechstunden der Sozialberatung, der Verbraucherzentrale, die dann in den Familienbüros stattfinden. Letztlich ist es auch eine Art Lotsendienst, gut erreichbar, nicht irgendwo weit weg, sondern dort, wo sich Menschen ohnehin aufhalten.
Ähnlich ist es mit den Elterncafés, die es inzwischen an einigen Familiengrundschulzentren gibt. Damit wird ein Ort geschaffen, an dem Eltern sich einfach miteinander austauschen können und auch Expert*innen treffen, die auf bestimmte Problemlagen eingehen können.
So neu ist das alles nicht: wir hatten schon lange Konzepte der Öffnung von Schule, der Öffnung zum Sozialraum. An manchen Orten gibt es schon seit Jahrzehnten Bürgerzentren. Das Besondere an den Konzepten der Familienbüros ist die nachhaltig angelegte Systematik der Geh-Struktur. Es ist eben nicht so, dass dann irgendwo die Erziehungsberatungsstelle ist, zu der die Eltern gehen können, die Probleme bei der Erziehung haben. Das geschieht in der Regel dann doch nicht. Die einen wissen gar nicht, dass es eine solche Einrichtung gibt, andere haben Vorbehalte oder vielleicht sogar Angst, dorthin zu gehen – wegen der möglichen Verknüpfung mit dem Jugendamt. Es gibt immer noch das Bild, dass das Jugendamt eine Behörde ist, vor der man Angst haben muss. Dass das Jugendamt Familien unterstützen kann und soll, ist in der Öffentlichkeit nicht so verbreitet. Das sind eben die Leute, die einem die Kinder wegnehmen. Manchmal geschieht das auch, aber das ist nicht die Kernaufgabe eines Jugendamtes, das ja im besten Sinne den Auftrag hat, das gelingende Aufwachsen zu unterstützen.
Wenn Erziehungsberatung durch die Anbindung an ein Familienbüro dort erreichbar ist, wo Eltern sich ohnehin aufhalten, ist es leichter, sie zu erreichen und eine Beratung zu ermöglichen, die sich an den Bedarfen der Eltern orientiert. Auch wenn das Jugendamt Träger der Einrichtung ist, ermöglicht eine solch niedrigschwellige Erreichbarkeit in einem Ladenlokal im Quartier oder der Einkaufszone, dass die Menschen erreicht werden, ihnen geholfen werden kann – und die üblichen Vorurteile gegenüber dem Jugendamt erst einmal außen vor bleiben.
Norbert Reichel: Wie werden Eltern und Kinder beteiligt, wenn ihr solche Strukturen aufbaut?
Alexander Mavroudis: Da bin ich etwas vorsichtig. Das weiß ich nicht im Einzelnen. Ich vermute, bei der Konzeptentwicklung oft erst einmal nicht. Die Beteiligung setzt aber dann an, wenn – wir bleiben einmal bei den Familienbüros – geschaut wird, was die Familien brauchen. Das ist dann ein kontinuierlicher Beteiligungsprozess in dem Sinne, dass ausgehend von den erfahrenen Bedarfen das Unterstützungsangebot weiterentwickelt wird. Die grundsätzliche Entscheidung über die Einrichtung erfolgt auf der Grundlage von Sozialdaten. Wenn ein solcher Ort gut funktioniert, sieht eine Kommune, dass das auch in anderen Quartieren möglich ist.
Norbert Reichel: Mit der neuen Kinder- und Jugendgesetzgebung haben Kinder und Jugendliche das Recht auf anlasslose Beratung durch das Jugendamt.
Alexander Mavroudis: Auch das ließe sich niedrigschwellig an die Familienbüros oder Familiengrundschulzentren andocken. Das sind Orte, die nicht mit Barrieren verbunden sind. Das spricht sich bei Kindern und Jugendlichen herum. Sie können sich dort beraten lassen, ohne dass das alle mitbekommen.
Norbert Reichel: In ländlichen Räumen ist das vielleicht noch eine andere Herausforderung. Das Jugendamt in der Kreisstadt ist dort meines Erachtens ohnehin keine geeignete Anlaufstelle. Ähnliche Erfahrungen gibt es mit den Jobcentern. Da wundert es nicht, wenn Mittel für die Unterstützung von Familien nicht abgerufen werden. Umso mehr kommt es sicherlich dort darauf an, in den KiTas, in den Schulen, in Einkaufszonen solche Anlaufstellen zu schaffen.
Alexander Mavroudis: Ich kenne einen Fall, in dem ein Familienbüro in der Kreisstadt eingerichtet wurde. Das kann man sicher so machen, aber idealtypisch betrachtet müssten Familienbüros in den kreisangehörigen Gemeinden eingerichtet werden, denn da leben die Menschen. Es ist schon ein großer Aufwand, wenn ich erst einmal ins Auto steigen muss – wenn überhaupt eins da ist – oder in den Bus – wenn er denn fährt –, um dann 20, 30 oder noch mehr Kilometer weit in die Kreisstadt zu fahren. Das macht niemand so einfach nebenbei. Es funktioniert auch nicht alles online, viele Familien haben gar nicht die Möglichkeit eines Online-Zugangs. Und wer weiß schon, wo man was suchen könnte. Vieles muss offen Face to Face besprochen werden. Letztlich geht es auch um Vertrauensbildung, und die funktioniert nicht virtuell.
Innovationsberatung durch den Landschaftsverband
Norbert Reichel: Welche Rolle spielt dein Arbeitgeber, das LVR-Landesjugendamt, bei der Umsetzung der von dir vorgestellten Landesprogramme?
Alexander Mavroudis: Unterstützung durch Beratung, Fortbildung und Wissenstransfer. Die Kommunen müssen Lösungen finden, je nach den dort gegebenen Rahmenbedingungen. Ich kann Kommune nicht anweisen, so oder so zu handeln, das will ich auch nicht tun. Ich sage, was aus meiner Sicht hilfreiche Bausteine sein könnten. Wir bieten Expertise an, können auf Erfahrungen anderer Kommunen verweisen, Kontakte schaffen. Wir machen Schulungen, Fortbildungen für Fachkräfte zur Armutssensibilität, zu den Erfahrungen von Familienbüros und anderen Beispielen. Ich kann werben und überzeugen. Und wir machen Lobbyarbeit, indem wir in der Fachöffentlichkeit auf die Lebenslagen von armutsgefährdeten Kindern und Jugendlichen hinweisen – wie zum Beispiel mit unserem gemeinsamen Fachgespräch am 02. Juni 2023.
Die Kommune schaut dann, welche Bausteine passen. Im Rahmen der Präventionsketten richten sie Koordinationsstellen ein. Sie brauchen eben jemanden, der sich in der Verwaltung darum kümmert. Die große Aufgabe ist es, Leitungen und Politik dafür zu gewinnen, dass das eine gute Sache ist. Politik und Leitungen setzen aber oft andere Schwerpunkte. Da gibt es Widerstände, zum Beispiel wegen begrenzter Ressourcen oder gewachsener Verfahrensabläufe. Wir arbeiten ja alle in versäulten Systemen. Es darf eben nicht heißen, da ist doch jemand anders zuständig. Wir müssen vielmehr erst einmal schauen, wie wir gemeinsam das Problem angehen, wer welche Expertise hat und wie wir das Problem gemeinsam lösen – losgelöst davon, wer dann was konkret umsetzt. Das ist für Verwaltungen schwerer getan als gesagt und erfordert Kulturentwicklung im Denken und Handeln.
Norbert Reichel: Im Grunde ist das was ihr tut so etwas wie Innovationsberatung und bei Konflikten auch Mediation.
Alexander Mavroudis: Es sind Impulse für die Organisationsentwicklung, immer orientiert an der Frage, was sich bewährt hat und erhalten werden soll – und was aus guten Gründen zukünftig anders gehandhabt werden sollte. Die eigentliche Organisationsentwicklung müssen die Kommunen selbst machen. Dafür braucht man Leitungen und Politik. Es reicht nicht, wenn einzelne Mitarbeiter*innen sagen, dass sie etwas verändern wollen. Das muss schon an der Spitze so entschieden werden.
Norbert Reichel: Und das Land unterstützt durch die Ressourcen der genannten Förderprogramme.
Alexander Mavroudis: Das Förderprogramm „kinderstark“ ist ein fachlicher und finanzieller Impuls, um den überzeugten Akteuren in den Kommunen Argumente zu geben, die Ziele umzusetzen.
Nachhaltigkeit
Norbert Reichel: Aber es ist Projektförderung, keine institutionelle Förderung?
Alexander Mavroudis: Fördertechnisch ist das noch die Crux. Mit einjähriger Projektförderung kann man die gewünschte Strukturentwicklung nicht erreichen. Das Land verlängert das Programm aber immer wieder. Darin ist das Land verlässlich.
Das betrifft auch das Personal. Ich kann Personal nicht alle Jahre neu einstellen, wir brauchen ähnlich wie in den Frühen Hilfen, in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit oder im Offenen Ganztag die Sicherheit, dass die Mittel den Kommunen dauerhaft zur Verfügung stehen. Die Aufgabe der Koordination ist sehr anspruchsvoll. Diese Expertise lässt sich nicht immer wieder neu aufbauen, das muss langfristig gesichert sein. Für die Fachkräfte in den Koordinationsstellen machen wir Schulungen. Diejenigen, die sich beteiligen und Erfahrungen in der Koordinationstätigkeit gesammelt haben, sind dann so gut qualifiziert, dass sie sofort einen anderen Job finden, wenn sie in einer Kommune nicht mehr weiterkommen.
Norbert Reichel: Wie nachhaltig wirkt das Programm?
Alexander Mavroudis: Wir haben die ganze Spannbreite. Es sind in den letzten zwei bis drei Jahren viele Kommunen neu eingestiegen. Darunter sind einige, die erst einmal ein Familienbüro oder ein Familiengrundschulzentrum aufbauen wollen. Die gesamte Präventionskette ist noch gar nicht im Vordergrund. Die Überzeugung, dass eine Koordinationsstelle sinnvoll und hilfreich ist, muss sich entwickeln können. Das, was wir tun, ist Überzeugungsarbeit im besten Sinne. Manchmal gelingt es, manchmal ist es schwieriger. Grundsätzlich habe ich aber den Eindruck, dass das, was an Strukturen aufgebaut wurde, in vielen Kommunen schon sehr nachhaltig ist.
Norbert Reichel: Ich darf vielleicht zusammenfassen. Es begann mit „MoKi“, es entwickelte sich dann kontinuierlich weiter in den Kommunen, unterstützt durch verschiedene Landesprogramme und Programme der Landesjugendämter. Unbeschadet der diversen Namens- und Regierungswechsel von Seiten des Landes sehe ich, dass es doch Konsens zwischen den demokratischen politischen Parteien gibt, dass das, was wir eben besprochen haben, eine gute Sache ist, die weiterer und nachhaltiger Unterstützung bedarf. Die Grundstruktur wird akzeptiert, die Kommunen sind interessiert, die Kontinuität der Landesförderung und die internen Willensbildungsprozesse in den Kommunen sind zwei grundlegende Voraussetzungen für den dauerhaften Erfolg.
Alexander Mavroudis: Für eine Kommune heißt das, sie braucht eine eigene Gestaltungsvision. Es geht eben nicht nur darum, aktuelle Krisen zu bewältigen. Ich brauche eine Idee, ein abgestimmtes Vorgehen; das hilft dann auch, leichter mit Krisen umzugehen, mit Flüchtlingsbewegungen, mit Pandemien, mit Armut, mit Inflation, mit all den Themen, die Menschen und Kommunen belasten. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, der in der Politik anfängt, aber auch die Fachkräfte in den Einrichtungen betrifft. Sie müssen überzeugt sein, dass es sinnvoll ist nicht nur darauf zu achten, wer welchen Teil vom Kuchen bekommt, sondern dass die Zusammenarbeit zwischen Erziehungsberatung, Allgemeinem sozialen Dienst, Schule, KiTa, Gesundheitsamt, Job-Center – um nur einige zu nennen – ein wichtiger Qualitätsbaustein der eigenen Arbeit ist.
Und nicht zuletzt: ich brauche die zeitlichen Ressourcen, um das zu machen. Das fehlende Fachpersonal ist sicherlich ein Problem. Wenn ich das Anliegen der Präventionsketten aber als langfristigen Prozess sehe, kann ich relativ entspannt sagen: ich weiß zwar was ich alles tun möchte, kann vielleicht nicht alles heute machen, aber morgen oder übermorgen. Das ist eben eine langfristige Planung und ich muss wissen, wie meine Gestaltungsvisio aussieht, wo ich hinwill und in welchen Schritten das möglich ist.
Norbert Reichel: Ich kann ein Kinderschutzkonzept, ein Konzept zur Armutsprävention, ein Konzept zum Ausbau des Ganztags in Schulen und Kitas, all dies planen, aber die Struktur, in der sich diese Planung vollzieht, scheint mir immer die gleiche zu sein.
Alexander Mavroudis: Im besten Sinne ja. Es ist im besten Sinne immer die konzeptionelle Rahmung der Präventionskette. Ich denke beispielsweise an das neue Landeskinderschutzgesetz. Auch hier werden Koordinierungsstellen und Netzwerke eingerichtet, mit Landesfinanzierung, die sich wiederum in die kommunalen Strukturen einbetten müssen, von denen wir gesprochen haben. Die Akteure in den einzelnen Bereichen müssen die Bereitschaft haben, integriert zu denken und zu handeln.
Norbert Reichel: Ich denke, da hast sich in den letzten 30 Jahren einiges getan.
Alexander Mavroudis: Das denke ich auch. Aber wir müssen darauf achten, dass die verschiedenen Netzwerke in Nordrhein-Westfalen miteinander kooperieren und aufeinander abgestimmt sind. Ich nenne die Kommunalen Integrationszentren (KI), die Regionalen Bildungsnetzwerke, die Unterstützungsleistungen im Übergang von der Schule in den Beruf (KAoA) und andere. Das sind Bausteine einer integrierten Unterstützungslandschaft vor Ort, mit jeweilig verschiedenen Kompetenzen und Aufgaben. Das zu verbinden ist eine Aufgabe der Kommunen, für die wir beraten.
Sehr hilfreich wäre es natürlich – mal ganz vorsichtig ausgedrückt –, wenn die Abstimmung der Ressorts auch auf Landesebene – auf der Bundesebene gilt das natürlich genauso –funktioniert und dass Förderprogramme gut aufeinander abgestimmt sind. Ich nehme das Beispiel der Familiengrundschulzentren, für die es zwei Förderstränge gibt, einmal aus dem Jugendministerium, einmal aus dem Schulministerium, die nur bedingt gut aufeinander abgestimmt sind. Kommunen können natürlich von beiden Förderprogrammen profitieren, stehen dabei aber vor der Herausforderung, beide Förderstränge dann vor Ort so zu verknüpfen, dass die Maßnahmen sich gegenseitig ergänzen.
Norbert Reichel: Das war ein Plädoyer gegen Ressortegoismus.
Alexander Mavroudis: Das war ein Plädoyer für gute, integrierte Abstimmungsprozesse auf Landesebene. Auf Landesebene muss das geschehen, was wir von den Kommunen erwarten. Gleiches gilt für die Bundesebene, auch hier müsste das, was in den Ressorts geschieht, aufeinander abgestimmt sein, gerade bei dem Thema, das Anlass unseres Gesprächs war, der Armutsprävention. Armutsprävention ist ein Querschnittsthema, das verschiedene Ressorts und Politikfelder tangiert. Da ist noch viel Luft nach oben.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 4. Mai 2023. Kontakt zu Alexander Mavroudis, Telefon 0221 809-6932, alexander.mavroudis@lvr.de)