Learning Complexity
Oder wie Schule sich aus der Möbiusschlaufe befreien könnte
„Wovor haben junge Menschen heute Angst? Wenigstens nicht mehr vor dem Atomkrieg, wie noch Mitte der achtziger Jahre. Heute haben, schmunzelt Katja Benante säuerlich und im Wissen, dass das Ende leider auch nicht kommt, und kein Zug nicht nach nirgendwo zu keiner Zeit abfahren wird vom toten Gleis der Aktualität der Sozialhilfe, junge Menschen also haben HEUTE Angst vor dämonischen Gottheiten wie Bafög, MiWoZe Siedlungsausschuss und Studentenwohnheim und vor Schriftstücken wie der allmonatlichen Rechnung der Telekom, vor Ereignisse wie dem diesmal endgültigen EC-Karten-Einzug durch den Geldautomaten, kurz, nicht mehr davor, dass es kein ‚morgen‘ gibt (und das war ja wirklich noch eine kraftspendende Angst gewesen, man musste sich nur entscheiden, sich auf das zu freuen, wovor man sich da fürchtete, und schon war man auf der anderen Seite der Möbiusschlaufe), No Future ist weder Furcht noch Versprechen, sondern jetzt davor, dass es eins gibt und dass es die Verlängerung des heute auf derselben Funktion ist.“ (Dietmar Dath, Cordula killt dich! oder Wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenheini / Roman der Auferstehung, Berlin, Verbrecher Verlag, 2021)
Der Verbrecher Verlag hat den Debütroman von Dietmar Dath aus dem Jahr 1995 im Jahr 2021 neu aufgelegt. Die Sätze des Romans lesen sich wie ein Kommentar des Lebens junger Menschen in der Pandemie, unter dem Eindruck des Klimawandels und in der Unsicherheit, die Miete nicht zahlen zu können, die aber gezahlt werden müsste, um an dem Ort seine Ausbildung oder sein Studium fortzuführen oder sogar abzuschließen, am dem die beste Ausbildung, das beste Studium für die Verwirklichung der eigenen Träume und Fantasien möglich wäre. Es verändert sich vielleicht sogar so viel, dass niemand mehr genau sagen kann, ob dies nicht so viel ist, dass es eigentlich alles gleichbleibt.
Es war einmal vor 27 Jahren
So sehr haben sich die Problemlagen und Sichtweisen in der Tat nicht verändert, auch wenn sich die Probleme vielleicht anders darstellen, selbst dann, wenn sie mehr oder weniger dieselben geblieben sind. Im Jahr 1994 fand in Braunschweig der Kongress des OECD-Projekts „Environment and School Initiatives“ (ENSI) statt. Eine der Referent*innen war Michaela Mayer, eine italienische Kollegin aus dem Centro Europeo dell’Educazione in Frascati, einem Städtchen in der Nähe Roms. Ihr Beitrag wurde ebenso wie einige andere Beiträge des Kongresses, darunter auch Berichte über Schulbesuche internationaler Expert*innen in verschiedenen Ländern, von mir veröffentlicht (Norbert Reichel, Hg., Politik und Praxis der Umwelterziehung – Beiträge der internationalen OECD-Konferenz vom 6. bis 11. März 1994 in Braunschweig, Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, Peter Lang, 1995).
Der Titel ihres Beitrags lautete „Die Herausforderungen des ENSI-Projekts: Der Wandel der Lehrerrolle und des Schulsystems“. Sie sagte und schrieb: „Die gegenwärtige Berufsroutine der Lehrer ist von Natur aus ‚statisch‘ und schließt neben der Beherrschung der jeweiligen Fachmaterie auch die Notwendigkeit ein, Situationen ‚unter Kontrolle‘ zu halten und somit die Unabhängigkeit der Schüler innerhalb der Schule zu zügeln. Dieser Praxis entsprechen implizite Vorstellungen davon, was Lernen ist – im wesentlichen die Situation, dass ein Wissender einem Unwissenden etwas vermittelt – und was das ‚Wissen‘ ist, dessen Hüter die Schule ist: eine Reihe von Informationen, die als Fächer organisiert und deshalb gültig sind, weil sie ‚objektiv‘ – von zufälligen Erscheinungen losgelöst – sind, außerhalb der Schule erarbeitet und validiert wurden und selbstverständlich nicht in Frage gestellt werden.“
Der Begriff der „Umwelterziehung“, den die deutschen Übersetzungen der verschiedenen Beiträge damals verwendeten, mag heute recht altbacken klingen, ging er doch inzwischen im Zuge der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung von 1992 in Rio de Janeiro weitestgehend in dem Begriff der Bildung für nachhaltige Entwicklung auf, doch bleibt die Grundlage auch heute aktuell. Im Englischen lässt sich die in Deutschland übliche Doppelung von „Erziehung“ und „Bildung“ ohnehin sprachlich nicht abbilden. Es gibt dort nur „Education“, ebenso wie in den meisten anderen europäischen Sprachen. Das Schlagwort, unter dem sich die teilnehmenden Länder des ENSI-Projekts aber zusammenfanden, lautete „Teaching Complexity“.
Michaela Mayer beschrieb die Situation der damaligen Bildungspraxis sehr zutreffend. Wissende unterrichten Unwissende, ein klassisches Top-Down-Modell. Sie konnte im Jahr 1994 nicht ahnen, dass sie nicht nur eine Bildungspraxis, sondern auch eine politische Praxis beschreiben sollte, die selbst im Jahr 2021 noch sehr verbreitet ist. Allerdings gibt es inzwischen Brüche und Risse in diesem Modell. Heute Politiker*innen nichts mehr als den Vorwurf, sie spielten sich zu Erzieher*innen auf, die den Bürger*innen vorschreiben wollten, wie sie zu leben hätten. Dieser Vorwurf prägte bereits diverse Wahlkämpfe.
Das Symbol schlechthin war ein grüner Vorschlag aus dem Jahr 2017, in öffentlichen Kantinen von Betrieben oder Schulen einen vegetarischen Tag, einen „Veggie-Day“ einzuführen. Es sollte nichts vorgeschrieben werden, es war ein Anreiz einmal darüber nachzudenken. Das Ergebnis war so desaströs, dass sich heute kaum noch jemand traut, auch nur den kleinsten Eindruck zu erwecken, etwas vorschreiben oder verbieten zu wollen. Andererseits verlangen Politiker*innen, gerne unterstützt von Medien, dass die Schule all die Erziehungsarbeit leisten möge, die die Eltern, die Politik, die Gesellschaft oder wer auch immer nicht leisten. Gibt es Antisemitismus, gibt es Rassismus, gibt es Gewalt, schon wird die Schule gefragt, warum sie nicht genug dagegen täte. Mitunter habe ich den Eindruck, Lehrer*innen sollen zu etwas erziehen, das Politiker*innen zu fordern sich nicht trauen.
Teaching oder vielleicht sollte ich schreiben Learning Complexity scheint weit entfernt. Die in den Schulen vermittelte Zukunft erinnert an eine Vergangenheit, in der angeblich die Dinge noch einfach zu erklären gewesen wären. Wer seine mathematischen Formeln, seine Englischvokabeln gelernt hat, wird doch wohl irgendwie mit der Komplexität des Lebens zurechtkommen, oder?
Ohnmächtige Kinder – einsame Jugend
Ich möchte versuchen, die mit den Texten von Dietmar Dath und Michaela Mayer angesprochenen Gedanken angesichts des anstehenden zweiten Jahrestags der Beschlüsse der Bundeskanzlerin und der 16 Ministerpräsident*innen zur Pandemie zu bewerten. Befinden wir uns in einer Endlosschleife? Gibt es eine Chance, dass die Anzeichen einer allgemeinen gesellschaftlichen Depression wieder verschwinden? Was wird aus Kindern, was aus Auszubildenden und Abiturient*innen, was aus Studierenden und Berufseinsteiger*innen?
Am 4. Dezember 2021 veröffentlichten Christina Berndt und Vera Schroeder in der Süddeutschen Zeitung ein Gespräch mit der Virologin Isabella Eckerle und dem Kinderarzt Johannes Hübner. Johannes Hübner: „Die psychische Belastung der Kinder in dieser Pandemie ist riesig, die Suizidalität hat zugenommen, Adipositas, Essstörungen – der Rattenschwanz, der an solchen radikalen Maßnahmen dranhängt, ist erschreckend.“ Der Streit dreht sich um die Frage, wie infektiös Kinder tatsächlich sind. Isabella Eckerle verweist auf die hohen Inzidenzen unter Kindern im letzten Quartal des Jahres 2021, Johannes Hübner auf die angesichts der flächendeckenden Tests niedrige Dunkelziffer. Beide konstatieren die Verabsolutierung jeder Position, gleichviel ob entwarnend oder warnend, in den sozialen Medien, sodass jeweils immer nur eine pauschale und in der Regel auch einseitige Auffassung öffentlich wird, nicht jedoch die differenzierenden Aussagen, die dahinter zu finden sind.
Es gibt eben viele offene Fragen, doch eines scheint klar zu sein: Isabella Eckerle: „Mir ist noch mal klarer geworden, wie klein die Lobby von Kindern ist. Die von Angela Merkel schon früh behauptete Priorität von Kindern ist einfach nie in die Realität umgesetzt worden.“ Nie wieder sollten Schulen geschlossen werden – das war eines der Mantras, die Politiker*innen in den vergangenen Monaten immer wieder verkündeten, die Kinder hätten so gelitten. Krokodilstränen (die Krokodile mögen mir den Vergleich verzeihen)? Im Dezember 2021, im Januar 2022 gibt es erneut Stimmen, die eine neuerliche, möglicherweise sogar flächendeckende Schulschließung nicht ausschließen wollen. Es sieht so aus, als wenn Kinder zwei bis drei Jahre keinen regelmäßigen Unterricht erhielten, und wer weiß, wie es weiter geht, und das in Deutschland! In Uganda waren die Schulen fast zwei Jahre ganz geschlossen. Nur etwa 40 % der Kinder können dort lesen und schreiben, wenn sie die Schule verlassen.
Nicht nur die Lobby von Kindern ist klein, auch die von Studierenden. In den Medien spielt die Situation junger Studierender kaum eine Rolle. Am 17. Oktober 2021 berichtet Johannes Korsche in der Süddeutschen Zeitung von den „sozialen und psychischen Folgen der zugesperrten Hochschulen“. Es geht unter anderem um eine Studie der Universität Hildesheim. Es gibt in der Tat Studierende, die ihre Professor*innen noch nicht ein einziges Mal „live“ gesehen haben, die noch nicht ein einziges Mal die Chance hatten, in einem Seminar mit Kommiliton*innen zu diskutieren, nichts von dem erlebten, was das Leben von Studierenden im Alltag ausmacht. Universitäten und Schulen wurden zu Qualifizierungsmaschinen so wie Kindertageseinrichtungen und schulische Ganztagsangebote zu Betreuungsmaschinen wurden. Wie gesagt: in Deutschland!
Auch die KMK gibt Lebenszeichen. Sie veröffentlichte im Dezember 2021 den Abschlussbericht einer Studie der Universität Köln und des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung mit dem aufgrund eines Bindestrichs irritierenden Titel „Covid-Schulen“. Stichtag der Untersuchung war März 2021. Die Studie stellt Zusammenhänge zwischen Impfquote, Öffnung beziehungsweise Schließung der Schulen und Infektionsgeschehen, stets im Vergleich der Infektionszahlen bei Lehrkräften und Schüler*innen zu den Entwicklungen in der Gesamtbevölkerung fest. Kurz: die Maßnahmen, insbesondere die Maskenpflicht, aber auch Schulschließungen reduzieren die Zahl der Infektionen. Andere Folgen der Pandemie hat die KMK nicht untersuchen lassen.
Kinder, Jugendliche kamen nicht zu Wort. Es ist das Verdienst der ZEIT, dass sie am 5. August 2021 einer 17jährigen Schülerin, Ananda Klaar, die Chance gab, ihre Sicht in einem ganzseitigen Essay darzustellen. Der Titel des Essays: „Zählt nicht länger auf unsere Selbstlosigkeit!“ Die Autorin lebt in der Nähe des Bodensees und engagiert sich bei Fridays for Future. Sie weiß von den Bedrohungen der Pandemie in anderen Ländern, denn die Eltern ihrer Mutter leben in Indonesien, sie weiß, welche Relevanz das 1,5-Grad Ziel zur Bewältigung der Klimakrise hat. Sie beschreibt, dass die Orientierungsbesuche an Universitäten für die Schüler*innen der Abschlussklassen seit zwei Jahren ausgefallen sind, und fragt, warum Olaf Scholz, im August 2021 noch Kanzlerkandidat mit eher schwachen Umfragewerten, nichts dazu sagte, „wie die jungen Leute ihre zusätzliche emotionale Belastung eigentlich bewältigen.“ Dass Abschlüsse im Corona-Jahr vielleicht nicht so gut wie in anderen Jahren ausfielen, nahm er offenbar hin. „Wir alle zusammen wurden im Stich gelassen. Wer sonst sollte für uns da sein, wenn nicht wir füreinander?“
Eine Hoffnung, aber niemand weiß, ob diese Hoffnung trägt oder trügt. Ananda Klaar: „Ich habe mich an die anderthalb Meter Abstand gewöhnt, werde aber eventuell auf ewig ein Problem damit haben, wenn andere über mich entscheiden. Auch wenn wir Politikern und Entscheidungsträgern wohl nie wieder vollständig vertrauen können – werden wir doch immer für uns und andere einstehen. Die Pandemie hat uns mit auf unseren Weg gegeben, dass wir alle eine Stimme haben, die gehört werden müsste und doch leicht überhört werden kann.“
Schule – von außen betrachtet
Deutsche Wissenschaftler*innen und Bildungspolitiker*innen betrachten das, was in Schulen, in Kindertageseinrichtungen und an anderen Orten geschieht, an denen sich Kinder aufhalten, in der Regel aus einer Außenperspektive. Die Verhältnisse, in denen Kinder aufwachsen, lernen und leben, kennen sie in der Regel nur aus ihrer eigenen Perspektive als Eltern. Sie leben in großräumigen Wohnungen, haben Zugang zu fast allen Ressourcen, die ihre Kinder für eine erfolgreiche Bildungslaufbahn brauchen, ärgern sich gelegentlich über die Belastung des Home-Office, nicht mehr und nicht weniger. Nur wenige kennen den Arbeitsalltag von Lehrer*innen, Erzieher*innen und Sozialpädagog*innen. Beobachtende in die Tiefe gehende Forschungen hätten abhelfen können, waren aber aufgrund der Regelungen zur Eindämmung der Pandemie nicht möglich.
Klaus Hurrelmann und Dieter Dohmen haben im Jahr 2021 im Verlag Beltz / Juventa den Sammelband „Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden“ veröffentlicht. Ziel des Buches war eine Antwort auf die Frage, „welche Kinder und Jugendliche besonders betroffen sind und welche Art von Beeinträchtigung sie hinnehmen müssen.“ Sie fragen nach der „empirischen Grundlage“ des Schlagworts der „Generation Corona“, scheinen dies aber mit dem Titel trotz des vielleicht einschränkenden Fragezeichens als berechtigt anzunehmen.
Der Band ist wie die meisten Bücher und Aufsätze zur Bildung und zur Bildungspolitik in den meisten Beiträgen leider sehr schullastig. Ganztagsschule wird beispielsweise ausschließlich als Verlängerung des Vormittags betrachtet, über Inhalte jenseits von in Noten messbaren Schulleistungen wird nicht debattiert. Das Verdienst des Bandes liegt jedoch in der Vorstellung einiger Studien, aus denen sich die Leser*innen – so wie ich das hier auch versuche – ein Bild der Lage zusammenstellen können.
53 Autor*innen stellen in 16 Texten diverse Studien vor, von denen ich in diesem Essay nur einige wenige exemplarisch referieren kann. Die hohe Zahl der Autor*innen rührt daher, dass die Texte in der Regel von Gruppen verfasst wurden, die für die ein oder andere Studie verantwortlich sind. Die Studien erfassen nicht die dritte und vierte Welle der Pandemie, lassen jedoch Schlüsse zu, welche Problemlagen sich aufgebaut haben und welche sich verschärfen dürften. Die Forschung hat durchaus auf die Pandemie reagiert. Viele Studien konnten sehr schnell auf den Weg gebracht werden. Das Phänomen der „Generation Corona“ scheint sich abzuzeichnen, doch ist es – so die meisten Autor*innen zu früh, um grundsätzliche Aussagen zu machen. Zu Langzeitwirkungen lassen sich ohnehin noch keine Aussagen machen.
Einige der referierten Studien versuchen Leistungsdifferenzen aus psycho-sozialen Entwicklungen abzuleiten, aus den sozialen Verhältnissen in Stadtteilen und Gemeinden, aus Wohnverhältnissen oder auch aus der Bildungsnähe beziehungsweise Bildungsferne der Elternhäuser. Einige beziehen Ergebnisse aus benachbarten Ländern ein. Durchweg lässt sich zusammenfassen: die Pandemie hat Entwicklungen, die ohnehin bekannt waren, sichtbarer gemacht und zum Teil sogar verschärft.
Das Schul-Barometer für Deutschland, Schweiz und Österreich kommt zu dem Ergebnis, dass es zwei Gruppen unter den Schüler*innen gibt: „Während eine Gruppe von Schüler*innen von einem höheren Lernzuwachs berichtet, empfindet die andere Gruppe einen geringeren Lernzuwachs während der Schulschließung im Vergleich zur normalen Beschulung.“ Der Grund: die eine Gruppe braucht die Lehrer*innen nötiger als die andere, die eine Gruppe kann mit individualisierten Lernzeiten und Selbstlernphasen gut umgehen, die andere nicht. Die Frage der digitalen Kompetenz und der digitalen Ressourcen ist damit noch nicht bedacht. Das Schul-Barometer konstatiert „eine hohe Ausprägung an akademischer Selbstwirksamkeit (‚Ich habe die Fähigkeit gute Noten zu erzielen‘)“. Schüler*innen leiden aber auch unter dem „Verlust der sozialen Kontakte zu Mitschüler*innen sowie zu Freund*innen“.
Auf die Familien kommt es an
Das häusliche Umfeld spielt eine zentrale Rolle in dem IW-Report aus dem April 2020. „Während der weit überwiegende Teil der Kinder in Deutschland zu Hause ein gutes Lebens-, Lern- und soziales Umfeld vorfindet, existieren bei den Kindern von Alleinerziehenden, aus Familien mit Migrationshintergrund, aus bildungsfernen Familien, aus Mehrkindfamilien und aus Familien im Sozialleistungsbezug an verschiedenen Stellen besondere Problempunkte. Diese können sich auch überlagern, da auf die Familien vieler Kinder mehrere dieser Eigenschaften zutreffen. (…) Vor diesem Hintergrund können in dieser Zeit auch längerfristig wirkende Probleme bei der Kompetenzentwicklung der Kinder und den Beziehungen in den Familienentstanden sein, die erst in den nächsten Jahren offensichtlich werden.“
Relevant sind die Wohnverhältnisse, das Vorhandensein von Büchern und digitalen Geräten zu Hause, die Präsenz der Eltern, Außenkontakte und nicht zuletzt auch Konflikte innerhalb der Familien. Daraus ließe sich schließen, dass eine Politik zur Bewältigung der Folgen der Pandemie nicht in der Schule, sondern in den Familien ansetzen müsste. Schule kann dies unterstützen, weil beziehungsweise – so muss man es in der Zeit von Schulschließungen und des Wechselunterrichts sagen – wenn sie die Kinder erreicht. Wie sich Eltern erreichen lassen, die in der Regel von der Schule nicht erreicht werden, ist eine grundlegende Frage. Wünschenswert wäre „ein regelmäßiger Kontakt im Sinne einer Bildungspartnerschaft“, aber das ist keine neue Botschaft, die sich erst durch die Pandemie ergäbe.
Familiäre Voraussetzungen sind auch Gegenstand des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP). Die Lern- und Infrastruktur der Schulen kann sich von Schule zu Schule unterscheiden. Die bekannten Zusammenhänge zwischen Lernerfolg und Bildung der Eltern bestätigen sich. Die Wohnverhältnisse spielen eine entscheidende Rolle. Kinder, die keinen eigenen Schreibtisch haben, die mit anderen Geschwisterkindern im selben Raum am Distanzunterricht teilnehmen müssen, die in Räumen arbeiten, in denen auch die Eltern im Home-Office arbeiten, haben einen deutlichen Nachteil. Die Zahl der Eltern von leistungsschwächeren Kindern, die die häuslichen Räume als zu klein einschätzen, ist deutlich höher als die Zahl der Eltern von leistungsstärkeren Kindern, die dies tun. Ein paradoxes Ergebnis findet sich bei der Frage nach der Wirkung von Ganztagsschulen während der Pandemie: „Für Schüler*innen, welche vor dem Lockdown ganztägige Schul- oder Hortangebote nutzten, könnten Schulschließungen gravierendere Einschnitte darstellen als für Schüler*innen, welche nur halbtags eine Schule besuchen und es gewohnt sind im privaten Umfeld zu Hause den Lernstoff zu vertiefen.“ Anders gesagt: wer seine Freund*innen, Lehrkräfte, Erzieher*innen oder Sozialpädagog*innen in der Schule auch am Nachmittag trifft, leidet automatisch mehr unter der Schließung der Schule.
Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann benennen in ihrer Zusammenfassung mit Recht die Rahmenbedingungen, die in der Pandemie Eltern und Kinder, aber auch Lehrkräfte mit unlösbaren Aufgaben konfrontierten. Es klingt banal, aber es ist ein Trauerspiel: „Es reicht nicht, einen Computer oder ein Smartphone zu haben, sondern es kommt auch darauf an, diese Geräte entsprechend nutzen zu können.“ Die beiden Herausgeber zitieren eine internationale Studie, die ergab, dass Deutschland in einem EU-weiten Vergleich zur „digital Readiness“ auf dem letzten Platz liegt. Einzelne Schulen fanden Wege, aber es waren einzelne Schulen, die sich auch gegen Widerstände der Schulaufsicht durchsetzen mussten. Eine Bonner Grundschule wurde zurückgepfiffen, als sie ein digitales Tool einsetzen wollte, das den Wechselunterricht erheblich erleichterte, eine Kölner Gesamtschule musste sich gegen Direktiven aus Ministerium und Bezirksregierung wehren, als sie ihr schon vor der Pandemie eingeführtes System durch wechselnden Einsatz von Präsenz- und Selbstlernphasen für den Wechselunterricht nutzen wollte.
Letztlich bewirken die Sprachkompetenzen der Eltern und Schüler*innen, die pädagogischen und fachlichen Kompetenzen der Eltern, die digitalen Kompetenzen der Lehrkräfte, ob und wie weit Kinder fehlenden Unterricht kompensieren können. Insofern ist das im Koalitionsvertrag der Ampel enthaltene Programm zur Finanzierung sozialpädagogischer Kompetenz in den Schulen mit Bundesmitteln ein Lichtblick. Es wäre allerdings zu wünschen, dass – anders als im nordrhein-westfälischen Vorbild der Talentschulen – ein stadtteil- und gemeindebezogener Ansatz gewählt wird. Es reicht eben nicht, einfach zusätzliches Personal einzubinden, wenn dahinter kein kohärentes Gesamtkonzept liegt, das die Unterstützungsstrukturen der Stadt beziehungsweise des Kreises mit einbezieht. Die von der Wübben-Stiftung entwickelten Familiengrundschulzentren wären ein solcher Ansatz, der sich auch in Schulen der Sekundarstufe I weiterdenken und mit den von der Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag angekündigten sozialpädagogischen Fachkräften fast flächendeckend verwirklichen ließe, wenn die Länder bereit sind, ihren eigenen Finanzierungsanteil beizusteuern.
Der Schlüssel liegt in den Familien, politisch gesprochen: in einer vernetzt und intersektionell angelegten Familienpolitik, die kultur- und sozialsensibel angelegt ist. Wer glaubt, die Folgen der Pandemie ausschließlich über sogenannte schulische „Aufholprogramme“ aufzuarbeiten, denkt unterkomplex und wird scheitern. Bildungspolitik ist letztlich Sozialpolitik. Last not least: im Zuge solch unterkomplexen Denkens werden sich die Ausbildungschancen von jungen Menschen weiter verschlechtern. Die ohnehin schon seit Jahrzehnten aus Kreisen der Wirtschaft ständig wiederholte Klage, Jugendliche wären nicht ausbildungsfähig, wird noch lauter werden. Dieter Dohmen zitiert den Nationalen Bildungsbericht 2020 und stellt fest: „Kinder und Jugendliche finden in beträchtlichen Größenordnungen am Ausbildungsmarkt nicht (mehr) zusammen. Hierbei sind auf der einen Seite insbesondere kleine Unternehmen im Nachteil und auf der anderen Seite haben insbesondere Jugendliche ohne Abitur und Jugendliche mit einem Migrationshintergrund dabei offenkundig zunehmende Probleme.“ Ich lasse jetzt einmal das Ungleichgewicht der Wirkungen staatlicher Förderung in der Pandemie für einzelne Branchen beiseite. Die Botschaft diverser Nachrichtensendungen, dass Wirtschaft sich erhole und wachse, sollte gerade im Hinblick auf Ausbildungsplätze differenzierter untersucht werden. Was ist beispielsweise mit Einzelhandel und Gastronomie? Und werden Ausbildungsplätze für Pflegepersonal und Erzieher*innen erhöht, erhöhen die Hochschulen die Ausbildungsmöglichkeiten für angehende Lehrkräfte?
Lebensferne Bildungspolitik
Für die Lehrkräfte war die Pandemie ein „plötzlicher und weitgehend unvorbereiteter Schnellkurs“. Dies schreibt Werner Klein, vor einigen Jahren noch leitender Beamter in der KMK. Sein Essay darf aus meiner Sicht als relativ schonungslose Bestandsaufnahme der Politik der Schulminister*innen der Länder gelesen werden. „Das Corona-Management der Landesregierungen wird im Durchschnitt mit knapp ausreichend (4,2) beurteilt, nur jede dritte Lehrkraft (32 %) vergibt ein Befriedigend oder besser. Fast keine Lehrkraft (1 %) bewertet die Landesregierung dafür mit „Sehr gut“, dagegen fast jeder zweite Befragte (46 %)) mit mangelhaft oder ungenügend.“ Man mag sich über die Methode und die Motivation, Schulnoten zu verteilen, streiten, aber festzuhalten bleibt, dass es keinerlei systematische Begleitung der Schulen gab. Systematische Schul- und Unterrichtsentwicklung fand nicht statt. Es entstanden durchaus neue digitale Lernformate, es gab auch zusätzliche Geräte, aber es wäre sicherlich interessant zu erfahren, wie viel davon auf Eigeninitiative von Lehrkräften und Schulleitungen oder der ein oder anderen Kommune und wie viel auf eine systematische Politik des jeweiligen Schulministeriums zurückzuführen ist.
Der Band zur „Generation Corona“ enthält eine von Kai Maaz und Staatssekretär a.D. Burghard Jungkamp erstellte Zusammenfassung der Empfehlungen einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung eingesetzten Kommission. Diese Empfehlungen folgen dem Mainstream der von der KMK, dem Bundesbildungsministerium und den Landesschulministerien eingeführten sogenannten „Aufholprogramme“. Sie denken top-down. Eine Idee zur Beteiligung der Betroffenen, der Lehrkräfte, der Eltern und vor allem der Schüler*innen an der Konzeption von Schule fehlt. Die beiden Autoren sprechen von einem „Echtzeit-Experiment“ und belegen damit bereits in der Begrifflichkeit, dass es von Seiten der Schulministerien keinerlei Vorbereitungen gab, kurzfristig und wirksam auf Schulschließungen zu reagieren. Selbst im Herbst 2021 – der lange nach den Stichtagen der in dem Band vorgestellten Studien liegt – scheint sich kaum etwas geändert zu haben. Es gibt nach wie vor keine Vorbereitungen für qualifizierten Distanzunterricht oder eine Mischung von Präsenz- und Distanzunterricht, die alle Schüler*innen erreicht. So folgen die Empfehlungen den Empfehlungen, die wir immer schon zur Schul- und Unterrichtsentwicklung gelesen haben. Ein Beispiel: die beiden Autoren fordern „Benachteiligungen abbauen, Kompetenzentwicklung fördern, Abschlüsse sichern“. Was denn sonst?
Letztlich folgen die beiden Autoren und die Kommission der Friedrich-Ebert-Stiftung dem Paradigma „Ungleiches ungleich behandeln“. Sie fordern kompensatorische Förderangebote, die Umsetzung des Digitalpakts, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte und „Mindestanforderungen“ für den Wechselunterricht, die die Schulaufsicht durchsetzen möge, „faire Prüfungsbedingungen“ und einen Nachteilsausgleich. Von Ganztagsschulen verlangen sie, dass sie „stärker als bisher kompensatorisch ausgerichtet“ werden sollten, sowie „Fördermaßnahmen, darunter Hausaufgabenhilfe“. Im Grunde reproduzieren sie das Bild einer gymnasialen Welt, wie sie eigentlich schon längere Zeit der Vergangenheit angehören sollte: Schule besteht für sie aus Unterricht und Hausaufgaben, und wenn es Ganztag gibt, gibt es auch noch etwas mehr Förderung. Von den Lebenswelten der Kinder, von den Anforderungen einer hoch komplexen Gesellschaft und Wirtschaft, von Persönlichkeitsbildung in einer Zeit, in der unsere liberale Demokratie in einem Maße bedroht wird wie dies schon Jahrzehnte nicht mehr der Fall war, von multiprofessionellen Teams in den Schulen, die mit unterschiedlichen Perspektiven mit den Schüler*innen arbeiten, von den Chancen einer systematischen Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, von Kultur und Sport in der Schule, von dem Primat der Kinderrechte lesen wir leider in diesem Papier nichts.
Aber was sollen junge Menschen denn in der Schule wirklich lernen?
In ihrem Schlusskapitel schreiben die beiden Herausgeber von „Generation Corona?“: „Aus den Beiträgen in diesem Band kann deshalb auch geschlossen werden, welche Gruppen der jungen Generation Sorge tragen müssen, zu einer ‚Generation Corona‘ zu werden. Es sind insbesondere die Jugendlichen, die bereits vor dem Ausbruch der Pandemie besonders ungünstige Bildungs- und Lebensverläufe hatten.“ Abgesehen davon, dass eine Pandemie nicht „ausbricht“, bedeutet dies letztlich, dass die Pandemie das, was sich vorher bereits abzeichnete, nur verstärkt. Die Bertelsmann-Stiftung hat im Herbst 2021 eine Studie veröffentlicht, die darlegt, dass es nur drei Länder in der OECD gibt, in denen soziale Ungleichheit mehr wächst als in Deutschland. Letztlich entscheiden die individuell verfügbaren Ressourcen nach wie vor und immer wieder über Bildungs- und Lebenswege.
Alles, was wir aus den Studien, die in „Generation Corona?“ vorgestellt werden, lernen können, ließe sich auf die Situation in Ländern südlich von Mittelmeer und Karibik, in Indien und anderswo übertragen. Wir können davon ausgehen, dass das, was in Deutschland fehlte, dort erst recht fehlt. Was aber vor allem in Deutschland und in den anderen westlichen Staaten fehlt, ist ein Bewusstsein der Komplexität. Es reicht eben nicht, sich auf sogenannte „Kernfächer“ zu konzentrieren wie das die diversen „Aufholprogramme“ in Bund und Ländern suggerieren. Wir brauchen eine curriculare Reform, die viele alte Zöpfe abschneidet.
Gerhard de Haan hat ein Curriculum der „Gestaltungskompetenz“ entworfen, er orientiert sich an den Sustainable Development Goals (SDG) und ihrem Vorläufer, der Agenda 21 aus dem Jahr 1992. Amanda Wolf hat dies unter dem Motto „Teaching Complexity“ getan. Sie schließt an die Erfahrungen des genannten OECD-Projekts an. In Nordrhein-Westfalen gibt es seit 2019 eine Leitlinie BNE, die manches von dem enthält, was der Komplexität unserer Welt gerecht wird, nicht alles, aber immerhin. Es wäre natürlich schön, wenn diese Leitlinie nicht nur als Anregung verstanden würde, wie in dem Vorwort nachzulesen, sondern verbindlich würde, nicht nur in den Lehrplänen, auch in Lehreraus- und -fortbildung. Ansätze und Vorschläge gibt es genug.
Auf die Pandemie bezogen wäre es in diesem Sinne vielleicht gut gewesen, wenn Schulen aufgefordert und unterstützt worden wären, innezuhalten und vielleicht den Gegenstand des Unterrichts zu verändern. Ich nenne nur einige Beispiele: Warum wurden im Mathematikunterricht nicht die Berechnungen von Inzidenzen, Hospitalisierungsquoten, für sogenannte „Herdenimmunität“, Modellierungen für zukünftige Entwicklungen der Pandemie thematisiert? Warum war im Geschichts- und Deutschunterricht, vielleicht auch in diversen Fremdsprachen, nicht die Geschichte der Pandemie anhand dokumentierter Zeugnisse oder literarischer Texte Unterrichtsthema? Warum waren Verschwörungserzählungen als historisches und politisches Phänomen nicht Thema? Warum wurden ethische Dilemmata wie die Triage oder die Vereinsamung älterer wie jüngerer Menschen nicht im Religions- oder Philosophieunterricht thematisiert? Und in Geographie und Gesellschaftswissenschaften wären auch die international verschiedenen Entwicklungen von Interesse. All dies ließe sich übrigens auch auf Klimakrise, Krise des Artenschutzes, soziale und kulturelle Problemlagen beziehen und übertragen.
So weit nur zu den Inhalten, das Thema der Ansprache der Familien ist damit nicht erledigt. Aber das wäre schon einmal Learning Complexity, vielleicht ein Ausweg aus der „Möbiusschlaufe“, die Dietmar Dath diagnostizierte. Dann hätten vielleicht nicht nur die Schüler*innen, sondern auch die Lehrer*innen und vielleicht sogar auch die Eltern etwas fürs Leben gelernt und Politiker*innen hätten sich mehr anstrengen müssen, die Maßnahmen gegen die Pandemie zu begründen. Die nächste Pandemie kommt bestimmt, vielleicht in einer Form, die wir uns noch nicht vorstellen können, denn bekanntlich kommt der Teufel nie zwei Mal durch dieselbe Tür. Einzelne Lehrer*innen gestalten solche Unterrichtsreihen, aber warum hat sich die KMK nicht dazu geäußert, was wirklich wichtig ist? Ich denke, dass die Kreativität der Lehrer*innen, einmal ermutigt, grenzenlos gewesen wäre. Stattdessen dachte die Versammlung der für Schule zuständigen Minister*innen nur darüber nach, wie Prüfungen abgehalten werden konnten. Inhaltlich hieß es: „same procedure as every year“.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Januar 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 4.1.2022.)