Lina Morgenstern
Volksküchengründerin, Sozialreformerin, Feministin, Zeitungsverlegerin
Lina Morgenstern (1830 – 1909) wurde anlässlich ihres 70. Geburtstages im Jahre 1900 von einer englischen Zeitung zu den drei bedeutendsten Persönlichkeiten Berlins gewählt. Eine wichtige, fast vergessene Vordenkerin der deutschen Demokratiegeschichte. Mit heißem Herzen und kühlem Verstand ging sie bis an die Grenzen des Umsetzbaren.
Im 19. Jahrhundert durften Frauen per Gesetz weder eine Firma noch einen Verein gründen. Lina gelang all das. Aus einer wohlhabenden Breslauer Familie stammend brach sie aus dem von ihren Eltern vorgegebenen Lebensweg aus: Statt sich zu vergnügen und das schöne Leben zu genießen, kämpfte sie für „das Gute“. Dabei definierte Lina „das Gute“ wie es Immanuel Kant in seiner Ethik definiert: „Gut ist derjenige Wille, der ausschließlich durch Gründe der praktischen Vernunft bestimmt wird und nicht durch Neigungen.“
Als Gründerin von 17 Volksküchen versorgte sie täglich 10.000 hungrige Menschen und betreute mit ihrem Frauenteam an Berliner Bahnhöfen 300.000 aus dem Krieg von 1870/1871 zurückkehrenden Soldaten: Freund und Feind. Danach initiierte sie über 30 „Wohlfahrts-Startups“, die sich um alleinerziehende Mütter, haftentlassene Mädchen, Prostituierte und andere Bedürftige kümmerten. Mit Zeitgenossinnen gründete sie von Friedrich Fröbel inspirierte Kindergärten und exportierte die Idee nach England. Hinter der Maske von Linas quirligem Humor verbarg sich die nervöse Unrast einer leidenschaftlichen Unternehmerin.
Wie aber hat es die aus einer jüdischen Familie stammende Frau geschafft, trotz Anfeindungen von Antisemiten und Männerklüngeln ein humanistisches Lebenswerk zu hinterlassen, wie sonst kaum jemand?
Breslau 1846

Lina Morgenstern, Public Domain.
Als Lina 16 Jahre alt war, sandte ihr Vater sie auf die Höhere Töchterschule. Lina langweilte sich, denn es wurde vorwiegend Handarbeiten, Kochen und Nähen unterrichtet; sie wollte nicht mehr in diese Schule. Ihr strenger Vater Albert, ein in Breslau etablierter Möbel- und Antiquitätenhändler, warf seinem Kind Undankbarkeit vor, denn die private Höhere Töchterschule kostete ihn viel Geld, die meisten jungen Frauen bekamen gar keine Ausbildung – ein eskalierender Vater-Tochter-Streit.
Plötzlich wurde die Familie von der Revolution in Breslau überrascht. 1846 demonstrierten Arbeiter, Handwerker und Lehrer vor dem Schloss in Sichtweite der Familien-Wohnung. Bewaffnete Uniformierte stellten sich den Aufgebrachten entgegen, versuchten das Schlosstor zu schützen. Doch die Protestierenden stapften entschlossen darauf zu. Pflastersteine flogen, Schüsse fielen, Blut floss. Lina erkannte unter den Demonstranten einen jüdischen Jungen aus dem Nachbarhaus, kaum siebzehn Jahre alt. Er drängte sich mit seinem Freund nach vorne, warf einen Ziegelstein. Sofort wollte Lina mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Jenny raus, um ihn zu unterstützen. Der Vater ließ es nicht zu. Deshalb konnte Lina nur mit dem Operngucker beobachten, wie vor der Wohnung die Demonstrierenden von Wachsoldaten niedergetrampelt und angeschossen wurden, darunter auch ihr Freund aus dem Nachbarhaus. Verzweifelt musste sie mitansehen, wie der Verblutende leblos wegetragen wurde.
Dieses Erlebnis muss Lina geprägt haben, denn bald darauf verfiel sie in eine Depression, flüchtete sich nächtelang bei schlechtem Kerzenlicht ins Lesen von Büchern über Medizin und Astronomie, bis sich Gesichtszuckungen und Augenprobleme einstellten. Die besorgte Mutter verbot ihrer Tochter die nächtliche Lektüre – was die Krise noch verschlimmerte. Schließlich erlaubte die Mutter der Sechzehnjährigen, eine Tanzschule zu besuchen.
Die Aktien der Liebe
Polka. Lachen. Verträumte Blicke. Damenwahl. Auf glattem Parkett lernte Lina den neunzehnjährigen Theodor Morgenstern (1827-1910) kennen. Er kam aus Sieradz, einer kaum zweitausend Einwohner zählenden Kleinstadt mit Synagoge in der Nähe von Łódź. Der junge Mann erzählte von seiner lebensgefährlichen Flucht. Wie viele andere Juden hatte er sich am Krakauer Aufstand beteiligt und gegen Österreich, Russland und Preußen für eine polnische Nationalregierung gekämpft, denn nur diese versprach die vollständige Gleichberechtigung der Juden. Allerdings wurde der Aufstand von der österreichischen Armee brutal niedergeschlagen. Hals über Kopf musste Theodor flüchten. Lina war von seinem revolutionären Habitus angetan – was für ein Held. Und wie er tanzte! Trotz Etikette und den strengen Blicken des Tanzlehrers genoss Lina die Momente der gemeinsamen Bewegungen, des Festhaltens, der Nähe.
Lina wollte Theodor heiraten, am liebsten sofort. Sie wusste jedoch: Ihr Vater würde nicht zustimmen solange sie noch unter 20 war. Zu Linas 18. Geburtstag veranstaltete der Vater ein Fest, Lina aber durfte ihren Liebsten nicht einladen. Stattdessen bat der Vater Geschäftsfreunde und Adelige zu Tisch. Mitten auf der Feier riss Lina das Wort an sich und präsentierte ihre Idee eines „Pfennigvereins“: Für arme Arbeiterkinder bat sie alle Anwesenden monatlich einen Pfennig für Schulmaterial und Kleidung zu spenden. Einige Gäste versuchten, sich elegant aus der Affäre zu ziehen: Wer garantiere denn, dass die Spenden tatsächlich die Richtigen erhalten? Sollen die Zuwendungen vielleicht nur jüdische Kinder bekommen? Eloquent konnte Lina alle Zweifel zerstreuen. Noch auf dem Fest begann sie Geld einzusammeln. Schließlich gelang es ihr, dass nahezu alle Gäste ein „Spendenabo“ unterzeichneten. Der Pfennigverein existierte dreißig Jahre lang, unterstützte 16.000 bedürftige Kinder und war Linas erstes Wohltätigkeits-Unternehmen.
Indes stellten Lina und Theodor fest: Zwischen ihnen bestand mehr als eine sinnliche Anziehung. Linas Art zu fragen, ihre Neugierde auf die Welt und ihre pointierten Schlussfolgerungen faszinierten Theodor. Beide mochten Menschen, die sich nicht anpassten und beide hatten Interesse an unternehmerischen Ideen. Natürlich verfügten sie auch über entgegengesetzte Charaktereigenschaften: Die spontane, quicklebendige und auf Äußerlichkeiten nichts gebende Lina und der kaum zu erschütternde Theodor, der es liebte, in feinem Zwirn zu beeindrucken. Lina lernte ihm zuliebe sogar seine Muttersprache. Lange hielten sich die beiden an ein damals übliches Motto, das aus einer oft verwendeten Liederstrophe (aus dem 17. Jahrhundert) stammt: „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß, als heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß!“
Linas Vater recherchierte hinter ihr her und fand heraus: Theodor besaß nur eine kleine Handelsagentur, mit der er kaum in der Lage sein würde, eine Familie zu ernähren. Der Vater hielt Linas Geliebten für einen geschäftlichen Versager – was er seine Tochter wissen lässt. Hartnäckig stellte er Fragen: Was hat Theodor für Ziele? Wie stellt er sich die Zukunft seiner Agentur vor? Wie viel Geld hat er, wie viele Aktien?
„Die Aktien der Liebe!“ – Über sieben Jahre lang trafen sich die beiden, bis der Vater unwillig einer Hochzeit zustimmte.
Die verfeinerten Bedürfnisse der Zivilisation

Lina (Mitte) mit Müttern und Kindergartenkindern, Sammlung Rekel.
Um dem dominanten Vater zu entfliehen, zogen Lina und Theodor 1855 nach Berlin. Der Vater sprang über seinen Schatten und gewährte Lina eine großzügige Mitgift. Während Lina in Berlin schwanger wurde, verfolgte Theodor eine neue Geschäftsidee: Ein internationales Modehaus in der noblen Friedrichstraße. Es sollte ein Etablissement werden, wie es die Stadt noch nie gesehen hatte! Theodor kaufte von Linas Aussteuer die feinsten Kollektionen aus Paris, London und Konstantinopel und präsentierte seiden-, gold- und silbergewirkte Kleider auf zwei Etagen. Die Leipziger Illustrirte Zeitung vom 13. Dezember 1856 jubelte: „Dank der verfeinerten Bedürfnisse der Zivilisation, die nun Herr Theodor Morgenstern erfüllt, wird Berlin endlich eine Weltstadt.“ Aufwendig warb Theodor mit teuren Zeitungsanzeigen um kaufkräftige Kundinnen. Und Lina wurde zum zweiten Mal schwanger. Nachts befasste sie sich mit den Erziehungsmethoden des Pädagogen Friedrich Fröbel (1782-1852) – für ihn hatten die Frauen die Zukunft der Menschheit in der Hand, denn sie gestalteten die ersten Lebensjahre, den entscheidenden Zeitabschnitt. Jede junge Frau sollte eine Ausbildung als Erzieherin erhalten; diese Ideen gefielen Lina.
Kaum schliefen die Kinder, versuchte sie aus Fröbels komplizierten Schachtelsatz-Schriften lesbare Exzerpte zu verfassen. Und sie gründete in Berlin – trotz des staatlichen Kindergarten-Verbots – mit Kolleginnen zusammen den ersten Fröbel-Kindergarten. Ein Erfolg.
Indes entwickelte sich „Herr Morgenstern“ mit seinem exklusiven Modesalon in der Friedrichstraße zum Parvenü, war in Berlin gefragt und begehrt. Lina aber sorgte sich: Zwar besuchten viele Damen Theodors Geschäft, doch sie kauften wenig. In Wahrheit ging es der Familie immer schlechter. Ein drittes Kind verschärfte die Lage. Theodors Reserven und Linas Aussteuer waren bald aufgebraucht – was von den frisch Vermählten souverän verdrängt wurde.
Plötzlich konnte das Paar die Miete für die Wohnung nicht mehr bezahlen. Weder Linas noch Theodors Eltern wollten die junge Familie neuerlich unterstützen, der Schwiegervater fühlte sich bestätigt: Theodor ist ein Versager!
Tatsächlich schlitterte Theodor mit seinem Modehaus in den Bankrott. Der Schwiegervater verhinderte mit einer allerletzten Zuwendung das Schlimmste, doch Theodor musste seine unternehmerischen Träume aufgeben. Indes wurde Lina erneut schwanger, die jungen Eltern plagten nun Existenzängste: Wie die immer größer werdende Familie durchbringen?
Nächtelang grübelten die beiden, auch der sonst so geduldige Theodor geriet in Panik. Die Krise drohte, die Ehe zu zerreißen. Bis Lina realisierte: Nur sie konnte die Familie noch retten.
Verzweifelt besuchte Lina den Verleger und Chefredakteur des renommierten Modemagazins BAZAR und bot ihm ihren Artikel über Friedrich Fröbel an. Der Chefredakteur reagierte erst skeptisch. Nachdem er jedoch die ersten Absätze gelesen hatte, änderte er seine Meinung. Er forderte Lina auf, Fröbels komplizierte Schriften in ein unterhaltsames Handbuch zu verwandeln. Kaum zu Hause, setzte sich Lina an den Schreibtisch. Und schrieb in nur vier Wochen einen Bestseller: „Das Paradies der Kindheit“. Über 280 Seiten! Das Handbuch der Fröbel´schen Lehre erlebte sieben Auflagen, wurde in mehrere Sprachen übersetzt und stieß eine öffentliche Diskussion zum Thema gewaltfreie Erziehung an.
Vor allem konnte Lina mit den Tantiemen ihre Familie ernähren.
Nun schrieb sie weitere Auftrags-Bücher während Theodor sich um Haushalt und Kinder kümmerte – was in dieser Zeit völlig neu war und dem jungen Ehemann einiges abverlangte, denn zahlreiche Zeitgenossen verspotteten ihn als „Schwächling“. Das Paar lebte, was in dieser Zeit als unmöglich galt: „Keine übertriebene Ehe“, wie Lina es in ihrer Deutschen Hausfrauenzeitung selbst nannte – also eine gleichberechtigte. Mit viel Humor.
Parallel gründete Lina eine Vielzahl von Wohlfahrtsvereinen, kümmerte sich um haftentlassene Mädchen und alleinerziehende Mütter. Linas Motto, wie ebenso in ihrer Zeitung nachzulesen ist: „Wir Frauen verlangen nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit!“
Als Lina ob ihrer vielen Tätigkeiten schwächelte, schlug Theodor einen Familien-Urlaub vor. Im Süden. Am Meer. Erst reagierte Lina begeistert, dann irritierte sie der im Juni 1866 eskalierende Konflikt zwischen Preußen und Österreich – ein Krieg stand bevor. Die Not schwoll an, in Berlin grassierte Hunger, sogar Lehrer konnten ihre Familien nicht mehr ernähren.
Statt Urlaub hatte Lina eine andere Idee; sie wollte eine Volksküche gründen. Und zwar auf eine ganz neue Art: Das Unternehmen sollte sich selbst erhalten. Allerdings verfügte sie weder über Anfangskapital, noch über Räumlichkeiten und Personal. Wie also die Idee umsetzen?
Linas Businesskonzept

Sonntags in der Volksküche, Die Gartenlaube (1883), Originalzeichnung von H. Lüders, Wikimedia Commons.
Lina erlebte eine schlaflose Nacht, im Morgengrauen dann Heureka, sie hatte einen Plan: Spenden als Anfangskapital, freiwillige Helferinnen in der Küche, ein günstiger Raum und reduzierte Einheitspreise für jede Speise. Doch die Behörden wollten ihr weder einen Raum stellen noch konnte sie jemand auf die Schnelle überreden, Kapital zu borgen. Lina überzeugte Frauen aus dem Bürgertum, unentgeltlich beim Kochen und Essenverteilen zu helfen. Noch vor Kriegsbeginn beabsichtigte sie, die erste Küche zu eröffnen. Dafür aber benötigte sie dringend Geld. Ihre Idee: Ein Spendenaufruf in einer renommierten Zeitung. Wie aber an einen Chefredakteur gelangen, wie ihn überzeugen?
Kurzerhand besuchte sie die Vossische, eines der angesehensten Berliner Blätter dieser Tage. Der diensthabende Sekretär, ein Mann mit dicker Brille und zerschlissenen Manschetten, ließ Lina nicht zum Chefredakteur vor. Aufgrund ihrer Zielgerichtetheit strahlte Lina eine natürliche Autorität aus, die in dieser Zeit nicht selbstverständlich war. Zumeist trug die Sechsunddreißigjährige ein schwarzes, schmuckloses Kleid, ihre Haare hatte sie streng hochgesteckt, eine Nickelbrille zierte ihre Nase. Sie beharrte auf der Dringlichkeit ihres Anliegens und verlangte, Chefredakteur Dr. Otto Lindner (1820-1867) zu sprechen. Irgendwann gab der Sekretär nach.
Lina kämpfte sich zu Dr. Lindner vor. Der ebenfalls aus Breslau stammende Musikwissenschaftler fand Linas Idee interessant und lächelte freundlich. Im Laufe ihres Vortrags merkte sie jedoch, dass in diesem Lächeln ein Hauch von Verachtung steckte. Was will die Kleine schon ausrichten? Sie sprach den Sechsundvierzigjährigen darauf an, er konterte: Die Sache sei eben schwierig. Er wolle nur einen Spendenaufruf drucken, wenn Lina berühmte Berliner als Fürsprecher gewinnen könne. Andernfalls würden die Leser denken, Frau Morgenstern möchte bloß für ihre eigene Familie Geld einsammeln. Lina versprach, mit Honoratioren wiederzukommen. Es muss Lina getroffen haben, dass ihre Person offensichtlich nichts galt, sondern nur renommierte Männer. Doch sie kannte keine Renommierten.
Geschickt entwickelte Lina eine Strategie der kleinen Schritte. Erst verfasste sie ein leidenschaftliches Plädoyer, dann besuchte sie das Café Kranzler, setzte sich auf die schmale Terrasse und durchforstete die ausliegenden Zeitungen nach Berliner Persönlichkeiten. Als sie in der Vossischen, in der Volkszeitung und im Beobachter an der Spree zehn vielversprechende Namen entdeckt hatte, ermittelte sie deren Adressen.
Beharrlich und mit spröder Herzlichkeit versuchte Lina, die Prominenten mit ihrem Plädoyer anzusprechen. Darunter Dr. Rudolf Virchow (1821-1901) von der Charité. Der renommierte Pathologe positionierte sich als Liberaler im Preußischen Abgeordnetenhaus gegen Bismarck. Als Lina den Arzt besuchte, bat sie ihn nicht direkt um Unterstützung, sondern fragte erst um Rat für ihr geplantes Kochbuch. Der fortschrittlich denkende Virchow mit seinen ernsten, wie aus Bronze gegossenen Gesichtszügen, hatte längst erkannt, dass sich nicht nur die Armen, sondern auch Menschen aus der unteren Mittelschicht schlecht ernährten. Er empfahl Lina, jedem Essen ausreichend Gemüse und 75 Gramm Fleisch beizumischen. Was Lina beherzigte. Dann erst fragte sie, ob er nicht als Fürsprecher der Volksküche in der Vossischen Zeitung erscheinen wolle. Er stimmte zu.
Ermutigt ging sie auf weitere Persönlichkeiten zu. Manchen Männern fiel es in dieser Zeit schwer, wie sie später in ihrer Autobiographie beschrieb, eine „Kooperation“ mit einer Frau an führender Stelle zu akzeptieren. Geschickt bot Lina an, die Angesprochenen könnten sich ihre Unterstützung mehr als eine Art von „freundlichem Hinweis“ oder „kollegialen Rat“ vorstellen. Mit dieser diplomatischen Finte gelang es ihr, einige Honoratioren zu gewinnen, darunter den Verleger Franz Duncker (1822-1888) sowie Stadtgerichtsrat Karl Twesten (1820-1870) als auch den Arzt und Schriftsteller Max Ring (1817-1901), den Sozialpolitiker Adolf Lette (1799-1868), den Fabrikanten Werner Siemens (1816-1892) und den Journalisten und ehemaligen Eisenbahndirektor Joseph Lehmann (1801-1873), der das Vertrauen vieler Behörden genoss.
Als Lina schließlich die Unterstützungserklärungen der Vossischen vorlegte, genehmigte Chefredakteur Lindner einen Spendenaufruf. Damit gelang es ihr, bis zum 8. Juni 1866 ein Gründungskapital von 5.500 Thaler (entspricht 2025 circa 200.000 Euro) einzusammeln.
Von diesem Anfangskapital wollte Lina nun Lebensmittel sowie Geschirr kaufen und einen Raum mieten. Doch sie kam an das von ihr organisierte Geld nicht heran, denn die Männer des von ihr gegründeten Volksküche-Vereins verhinderten das – nur Männer durften in dieser Zeit juristisch einen Verein oder eine Firma gründen und Geld verwalten. Diese Männer aber zweifelten plötzlich an Linas Fähigkeiten, so schnell eine Küche eröffnen zu können. Nach harten Diskussionen genehmigte ihr der Vorstand schließlich eine kleine Teilsumme. Zum Probieren. Ausnahmsweise. Sofort legte Lina los. Trotzdem konnte sie nicht sicher sein: Würden ausreichend Gäste in den kleinen, rußigen Keller kommen?
Linas Kochkünste, der Duft der Suppen und ihr Konzept zogen tatsächlich Gäste an. Die Volksküche entwickelte sich zum Erfolg, sechzehn weitere folgten. Während der Deutsch-Französische Krieg tobte, versorgte Lina auf den Berliner Bahnhöfen von der Front zurückkommende Soldaten. Sie gründete sogar Notlazarette, um die 6000 Verletzten zu betreuen, weil sich der Staat nicht kümmerte. Überraschend besuchte Königin Augusta eine Küche. Sie verkostete Linas Graupensuppe, bewunderte die Arbeit der „Ehrendamen“ und ermutigte Lina, ihren „Business-Plan“, wie man ihn heute nennen würde, zu verschriftlichen. Was Lina auch tat. Zahlreiche Städte übernahmen Linas Ideen, darunter Stockholm, Budapest, Wien und 25 anderen Metropolen.
Der Berliner Hausfrauenverein, das Universalkochbuch und eine Zeitung

Im vollbesetzten Saal des Roten Rathauses. Berliner Ilustrirte Zeitung 4. Oktober 1896. Sammlung Rekel.
Weil Nahrungsmittel aufgrund der Inflation immer teurer wurden, eskalierten in Berlin Lebensmittel-Verfälschungen: Milch wurde mit Wasser verdünnt und mit Kreide eingefärbt, Mehl sowie Gips angedickt; Butter mit Schwerspat, Borax oder Blei versetzt, um das Gewicht zu erhöhen; von Parasiten befallenes Fleisch oberflächlich gesäubert und weiterverkauft. Deshalb starben unzählige alte Menschen und Babys, Lina ertrug es kaum. Erst gründete sie zur Aufklärung ein öffentliches Lebensmittelabor, dann mit Theodor den Berliner Hausfrauenverein: Sie erwarb große Mengen an Lebensmitteln bei Bauern und verkaufte diese – als Vorläufer von Lebensmittel-Genossenschaften – günstig an Mitglieder, um die Preise niedrig zu halten. Bald schon durften sich Lina und Theodor über 2.000 Mitglieder freuen.
Der Chefredakteur der Staatsbürgerzeitung Dr. Bachler allerdings kritisierte den Verein: Dieser schädige die Händler und verkaufe schlechte Qualität. In einem Pamphlet verunglimpfte er auch die Volksküche und behauptete, Lina wolle damit bloß die Arbeiter beruhigen, damit sie nicht demonstrieren. Und er fragte: Warum organisieren gerade „geldgierige Jüdinnen“ Volksküchen statt deutscher Frauen?
Indes verfasste Lina in langen Nächten das „Universalkochbuch für Gesunde und Kranke“ mit 2732 Rezepten und über 700 Seiten. Es entwickelte sich zum Welterfolg mit elf Auflagen und zahlreichen Übersetzungen. Weitere Bücher folgten.
Gegenüber Dr. Bachler beschloss sie, den Spieß umzudrehen. Sie wollte ihn mit seinen eigenen Mittel schlagen und eine Zeitung gründen. Ausschließlich von Frauen für Frauen. Ohne Mode, Klatsch und Tratsch. Dafür mit juristischer, medizinischer und lebensmitteltechnischer Beratung als auch, um für Frauenrechte zu kämpfen. Da sie keinen Investor fand, riskierte sie die gesamten Einnahmen aus ihren Buch-Verkäufen.
Die Zensurbehörden unter Bismarck machten es bereits Männern schwer, in einer Zeitung ihre Meinung frei zu äußern. Erst recht unmöglich war es, für eine jüdische Frau eine Zeitung zu gründen! Bismarck hatte Überwachung und Zensur verstärkt, über 6.000 Staatsdiener kontrollierten in Berlin Flugzettel, Plakate und sämtliche Druckerzeugnisse, unterstützt von einer Schar „Geheimer in Zivil“. Die Berliner ätzen: „Statt Gas und Elektrizität, an jeder Ecke ein Schutzmann steht!“
Um die Zensur zu umschiffen, nutzte Lina einen raffinierten Trick: Sie gründete keine Zeitung, sondern gab bloß ein „Informationsblatt“ ihres Berliner Hausfrauenvereins heraus. Dagegen konnte kein Amt etwas haben. In Wahrheit hatte das Informationsblatt alle Merkmale einer kritischen Zeitung, die sich für Wohlfahrt und Frauenrechte einsetzte. Es war ein Journal ohne Mode, Klatsch und Tratsch. Ausschließlich von Frauen für Frauen. Darin veröffentlichte Lina Hinweise, wie Frauen dem damals üblichen Lebensmittelbetrug zu erkennen vermochten, wie sie zu einer besseren Ausbildung gelangten und ihre Rechte einklagen konnten. Vor allem kämpfte Lina darum, dass Frauen zum Abitur zugelassen werden und Universitäten besuchen durften.
Sofort wetterte Chefredakteur Dr. Otto Bachler in seiner Staatsbürgerzeitung dagegen, machte sich über das „Damenblättchen der Frau Lina“ lustig. Schon bald aber war Linas Hausfrauenzeitung ohne Klatsch und Tratsch erfolgreicher als Dr. Bachlers Gazette. Bis nach Australien gewann Lina Abonnentinnen.
In Rage lancierte Dr. Bachler in der Staatsbürgerzeitung eine Kampagne: Er unterstellte Lina, sie versetze in ihren Läden des Berliner Hausfrauenvereins Feigenkaffee mit Sägespänen und verkaufe verschimmeltes Obst. Mehr noch: Angeblich vergifte Lina in den Volksküchen sogar die Arbeiter!
Anfangs versuchte Lina, die absurden Vorwürfe zu ignorieren. Doch als andere Zeitungen die Unterstellungen ungeprüft übernahmen und über 1.000 Mitglieder aus ihrem Hausfrauenverein austraten als auch Linas Volksküchen schlechter besucht wurden, sah sie keinen Ausweg mehr. Verzweifelt entschied sie sich, gegen Dr. Bachler zu klagen.
Der Prozess

Gerichtsakte Lina Morgenstern.
Vor einem Berliner Gericht nützte Chefredakteur Dr. Bachler 1883 die antisemitische Stimmung und brachte Lina in arge Bedrängnis. Er bezichtigte sie des vorsätzlichen Betrugs und rief als Zeugen einen Feigenkaffeehändler auf, der behauptete, Lina hätte in ihren Vereinsläden tatsächlich ihrem Kaffee reichlich Mahagoni-Späne beigemischt. Lina gelang es nachzuweisen, dass der Händler dem Hausfrauenverein seinen Kaffee angeboten hatte – doch dieser war Theodor zu teuer gewesen, er hatte das Angebot abgelehnt. Nun wollte sich der Händler rächen!
Es schien den Richter zu überzeugen. Da holte Dr. Bachler einen Militärarzt in den Zeugenstand. Dieser sagte aus, Lina hätte 1870 durch falsche medizinische Behandlungen in ihren Notlazaretten den Tod von mindestens fünfzig deutschen Soldaten verschuldet. Außerdem hätte sie auch Feinde behandelt – nämlich französische Gefangene! Plötzlich stand eine Anklage gegen Lina wegen fahrlässiger Tötung, Betrug und Landesverrat im Raum. Bis zu 15 Jahre Gefängnis drohten!
Inzwischen ruinierte Dr. Bachler mit weiteren Verleumdungen in der Staatsbürgerzeitung den Ruf von Volksküche und Hausfrauenverein, sodass Lina mit ihren Vereinsläden in den Bankrott schlitterte.
Der Prozess dauerte über 15 Monate. Immer mehr Menschen behandelten Lina herablassend. Ein Netz von Missachtung und Schuldzuweisungen stülpte sich über sie und raubte ihr den Schlaf. Irgendwann verließen Lina die Kräfte. Zittern, Herzrasen, Gesichtszuckungen – wie mit 16 Jahren, als Lina die Höhere Töchterschule besuchte. Die Volksküchen, die Vereine, die Zeitung, der Prozess und ihre fünf Kinder – war es ein Zuviel an machen, wollen, verändern?
Im letzten Moment gelang es Lina, einige Soldaten in den Zeugenstand zu rufen, die sie 1870 in ihren Notlazaretten gerettet hatte. Die Männer erzählten die Wahrheit. Schließlich sprach der Richter das Urteil. Dr. Bachler wurde wegen Verleumdung zu einer Strafe von 39 Tagen Haft oder 390 Mark Geldbuße verdonnert. Lina gewann in allen Punkten und freute sich.
Doch bald fiel ihr auf: Die Not von über einer Million alleinstehenden Frauen ohne Arbeit wurde immer größer. Da entschloss sie sich, einen Schritt weiter zu gehen, politischer zu werden. Ihre neue Idee: Der 1. Internationale Frauenkongress auf deutschem Boden! Im Herbst 1896 empfing Lina mit ihren Kolleginnen über 1700 Besucherinnen aus der ganzen Welt im Roten Rathaus. 65 internationale Zeitungen berichteten neun Tage lang. Die Delegierten forderten das Wahlrecht für Frauen, Zugang zu Ausbildungen und Universitäten sowie die juristische Gleichstellung in Geschäftsangelegenheiten. Bald darauf gaben sogar konservative Politiker zu, dass mehr für Frauen getan werden müsse. In den folgenden Jahren wurde der Zugang zu Abitur und Universitäten für Frauen erleichtert, weitere Verbesserungen folgten. Langsam. Sehr langsam.
Das Geheimnis ihres Erfolgs
Wie hat es die aus einer jüdischen Familie stammende Frau geschafft, trotz Anfeindungen von Antisemiten und Männerklüngeln ein humanistisches Lebenswerk zu hinterlassen, wie sonst kaum jemand? Was waren ihre Methoden, wie konnte sie sich durchsetzen?
Lina hatte zwei große Geheimnisse: Das ihrer unglaublich modernen Ehe und das ihres fulminanten Lebenswerks. Davon erzählt meine Biografie „Lina Morgenstern – Die Geschichte einer Rebellin“, die auf über 700 Quellen beruht, viele davon neu entdeckt und erstmals veröffentlicht. Lina Morgensterns Geschichte ist eine, die Mut macht!
Gerhard J. Rekel, Berlin
(Anmerkungen: Gerhard J. Rekel ist Autor der im Verlag Kremayr & Scheriau im Jahr 2025 erschienenen Biographie „Lina Morgenstern“. Erstveröffentlichung dieses Porträts im Demokratischen Salon im November 2025, Internetzugriffe zuletzt am 2. Dezember 2025, Titelbild: Volksküche in Wien, aus: Theodor Breitwieser in der Zeitschrift Über Land und Meer 43, 1880. Wikimedia Commons.)

