Links – Rechts – Mitte

Zur französischen Präsidentschaftswahl

Ein Klassiker der deutschsprachigen Lyrik ist Ernst Jandls Gedicht, demzufolge es ein „Illtum“ sei, dass man „lechts“ und „rinks“ nicht verwechseln könne. Dies gilt nicht nur im Straßenverkehr, sondern wohl auch in der Politik. Wer sich – es war einmal – auf der Seite sich als „links“ verstehender Parteien verortete, reibt sich mitunter die Augen ob ihres neoliberalen Kurses. Und manche, die sich früher auf der rechten Seite eingeordnet hätten, werden diesen Begriff nie wieder verwenden, weil als „rechts“ nur noch rechtsextremistische beziehungsweise mit rechtsextremistischen Inhalten liebäugelnde Parteien bezeichnet werden.

Es hatte allerdings schon in früheren Zeiten ein Geschmäckle, sich als „rechts“ oder „links“ zu bezeichnen. Wer sich eher auf der rechten Seite verortete, bezeichnete die eigene Partei als Partei der „Mitte“, wer sich auf der linken Seite wiederfinden wollte, verschwieg verschämt diese Zuordnung, weil er*sie nicht mit linksextremen und linksextremistischen Anschauungen in Verbindung gebracht werden wollte. Im Selbstbild regieren in Deutschland durchweg Parteien der „Mitte“, im Grunde selbst dort, wo die Partei Die Linke Teil einer Regierung ist. Der Begriff der „Mitte“ sagt inzwischen genauso viel oder so wenig aus wie „rechts“ und „links“. Die Autor*innen des von Eva Berndsen, Katharina Rhein und Tom David Uhlig 2019 im Berliner Verbrecher Verlag herausgegebenen Buches „Extrem unbrauchbar“ haben all diese Begriffe ausgesprochen anregend dekonstruiert.

Die französischen Parlamentswahlen des Jahres 2022 haben das Rechts-Links-Schema völlig durcheinandergebracht, nicht deshalb, weil rechte und linke Parteien nicht mehr voneinander unterscheidbar wären, also alle „Mitte“ wären. Dies lässt sich von Frankreich nun wirklich nicht behaupten. Wohl aber ist Frankreich ein Musterbeispiel dafür, dass jemand, der gerne eine eher linke Partei wählen möchte, diese nicht wählen kann, weil sie oder zumindest ein Teil dieser Partei Positionen vertritt, die man eher auf der rechten Seite vermutete. Das galt schon für Labour unter Jeremy Corbyn, der mit antisemitischen Positionen zumindest kokettierte. Dies gilt auch für La France Insoumise, deren Vorsitzender Jean-Luc Mélenchon nicht müde wird, die Europäische Union mit ähnlichen Worten in Frage zu stellen wie dies Marine Le Pen mit ihrem Rassemblement National tat. Ebenso war unklar, welche Position ein Ministerpräsident Jean-Luc Mélenchon zur NATO und zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine vertreten würde.

James McAuley hat sich in der New York Review of Books vom 21. April 2022 zu dieser Entwicklung angesichts der Präsidentschaftswahlen in Frankreich geäußert, der Titel seines Essays lautete „A Failure of Imagination“. Er beschreibt eine verwirrte französische Linke, die in einem Land mit sehr hohen Sozialstandards lebt, aber seit den 1980er Jahren, spätestens seit der Präsidentschaft von François Hollande, die Rücknahme, zumindest den Versuch der Rücknahme dieser Standards erlebte, eine Entwicklung, die sich unter Emmanuel Macron fortsetzte. Es entstanden instabile, aber dennoch wirksame Protestbewegungen wie Nuit debout oder sogenannten Gelbwesten. Davon profitierte jedoch vor allem die Partei von Marine Le Pen, die die ehemaligen kommunistischen und sozialistischen Hochburgen eroberte. Ausgesprochen hohe Verkaufszahlen hatte die Analyse von Didier Eribon mit dem Titel „Retour à Reims“, die 2009 bei Flammarion erschien und in mehrere Sprachen übersetzt wurde, auch in die deutsche. Die ehemaligen Wähler*innen der Kommunisten suchten ihr Glück beim Front beziehungsweise Rassemblement National – sofern sie überhaupt zur Wahl gingen.

Jean-Luc Mélenchon profilierte sich als Gegenbewegung und war bei den Wahlen des Jahres 2022 auch recht erfolgreich, während die Sozialisten abstürzten. Das Ergebnis der sozialistischen Präsidentschaftskandidatin Anne Hidalgo war vernichtend. Den Siegeszug des Rassemblement National in den ehemals linken Hochburgen konnte jedoch auch Mélenchon nicht rückgängig machen. Linke Parteien haben sich in ihren eigenen Widersprüchen verfangen, weil sie im Zeichen der „laïcité“, die zur DNA der französischen Politik gehört, sich allzu oft den Argumenten der Rechten anschloss.

James McAuley zitiert als Beispiel Elisabeth Badinter, die ähnlich argumentierte wie in Deutschland Alice Schwarzer, die es in Deutschland zur Lieblingsfeministin der BILD-Zeitung gebracht hat. Sie inszenierte sich als Freiheitskämpferin für muslimische Frauen, mit denen sie aber selbst nicht spricht. Die Parteien der rechten Seite haben Parteien der traditionellen Linken dafür gewonnen, Zuwanderung und Islam als das eigentliche Übel zu betrachten. Auch in der deutschen SPD gab es solche Stimmen, als die dänische Sozialdemokratie für ihre Koppelung von Sozialpolitik und Anti-Migrationspolitik mit einem Wahlsieg belohnt wurde. Identitätspolitik schlägt Sozialpolitik, allerdings nicht im Sinne einer Verabsolutierung von Minderheitspositionen, sondern im Sinne von Abgrenzung und Exklusion. Der Islam geriet genauso ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit wie das Gendersternchen. Populär sind Argumentationsmuster wie die von Sahra Wagenknecht mit dem von ihr repräsentierten Teil der Partei Die Linke, die ebenso nationalaffin – um nicht zu sagen nationalistisch – argumentiert wie Jean-Luc Mélenchon. Die Parteien der rechten Seite verstehen es einfach besser, die Gegner zu benennen, und Parteien der linken Seite eifern ihnen nach.

Wen wählen, was tun? Ich gestehe, dass ich als jemand, der die neoliberale Vernachlässigung jeder Sozialpolitik oft genug kritisiert, in Frankreich die Partei Emmanuel Macrons gewählt hätte. Die Gefahr, dass eine vorgeblich linke Partei sich antieuropäisch, nationalistisch, voller Ressentiments gegen Minderheiten positioniert, war mir zu groß. So hätte ich den im Grunde nach wie vor neoliberalen Kurs von Emmanuel Macron in Kauf genommen. Vor einer ähnlichen Entscheidung stünden Menschen, die denken wie ich, in Polen. Die dortige Regierungspartei mit dem schönen Namen „Recht und Gerechtigkeit“ (Prawo i Sprawiedliwość, kurz PiS) hat ein umfangreiches Sozialprogramm aufgelegt, von dem viele Menschen profitieren, während die liberale Opposition Platforma Obywatelska sich nicht gerade durch engagierte Sozialpolitik auszeichnet. Dennoch dürften viele grundsätzlich liberal und sozial eingestellte Menschen sie wählen, weil sie den rechtsnationalistischen, antirechtsstaatlichen und gegenüber Minderheiten äußerst repressiven Kurs der PiS nicht unterstützen wollen. Mehrheiten gewinnen sie damit trotzdem nicht, Sozialpolitik ist der Mehrheiten garantierende Köder der PiS. Der Kollateralschaden für den liberalen Rechtsstaat ist erheblich. Ebenso in Ungarn: dort drohte Viktor Orbán, die Opposition würde soziale Errungenschaften zurücknehmen. Viel Gelegenheit zum Widerspruch hatte die ungarische Opposition nicht. Ihr Spitzenkandidat hatte gerade einmal fünf Minuten Zeit, sich im staatlichen Fernsehen zu äußern.

Carolin Emcke hat in einem Gespräch mit Jana Glaese, das in der Sonderausgabe des philosophie Magazins zu Camus (Nr. 21 / 2022) veröffentlicht wurde, meines Erachtens diese Dilemmata treffend analysiert: „Es sind eher diejenigen gescheitert, die glaubten, die Demokratie sei gesichert und stabil, nur weil sie sicher und stabil leben können. Oder diejenigen, die glaubten, es reichte, sich nur für die Nöte des eigenen Stamms, der eigenen Klientel, der eigenen Provinz zu interessieren.“ Das Hemd ist vielen näher als der Rock! Und genau dies führt zu den bekannten Wahlentscheidungen von Menschen, die – vereinfacht gesprochen – mehr Sorge haben, dass sie die Mieten, die Ernährung, die Energiekosten nicht mehr bezahlen könnten als dass sie die Missachtung von Minderheiten, den Antisemitismus oder gar die Auswirkungen der Klimakrise fürchteten. Carolin Emcke fährt fort: „So werden soziales Unbehagen oder Ängste ausgebeutet und in antidemokratische, rassistische, antiaufklärerische Ressentiments kanalisiert.“ Mit Recht verweist Carolin Emcke an anderer Stelle (Für den Zweifel, Gespräche mit Thomas Strässle, Zürich, Kampa, 2022) auf „strukturelle Ähnlichkeiten zur heutigen Zeit“ in der Analyse von Leo Löwenthals Falsche Propheten.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2022, Internetlinks wurden am 26. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)