Migrationshintergrund ostdeutsch
Wie man es in den Osten hineinruft, so schallt es heraus
„Mittlerweile nehme ich oft die Position des Wessis ein, der sich kritisch mit dem Staats- und Gesellschaftsgefüge der DDR auseinandersetzt und über die Ambivalenzen des Systems immer mehr wissen will. Gleichzeitig bin ich in Gesprächen mit Westdeutschen eher der Ossi, der einfordert, die DDR differenziert und nicht nur als Unrechtsstaat zu betrachten.“ (Daniel Kubak, in: Judith C. Enders / Mandy Schulze / Bianca Ely, Hg., Wie war das für euch? Die Dritte Generation Ost im Gespräch mit ihren Eltern, Berlin, Ch. Links Verlag, 2016)
Daniel Kubak ist eine*r der Zeitzeug*innen der „Dritten Generation Ost“, junge Menschen, die zur Zeit des Mauerfalls Kinder oder Teenager waren. Die drei Herausgeberinnen des zitierten Buches gehören zu den Gründer*innen eines Netzwerks, in dem sich die Angehörigen dieser Generation dafür einsetzen, dass die Debatten um das Erbe der DDR sich nicht mehr auf die DDR alleine beziehen, sondern in einer gesamtdeutschen Erzählung neu bewertet werden. Ihr Ziel: „Eine komplexere öffentliche Wiedervereinigungserzählung könnte entstehen. Das öffentliche Gedächtnis kennt heute vor allem Jubel über die wiedergewonnene Einheit Deutschlands und die Überwindung der Unfreiheit in der DDR. Was im öffentlichen Diskurs weitgehend fehlt, ist zum Beispiel eine ernsthafte Beschäftigung mit der Frage, welche Wege nach dem November 1989 noch möglich gewesen wären.“ Die Frage ist berechtigt, ob die damaligen politischen Entscheidungen tatsächlich alternativlos gewesen sind. Und ebenso gibt es „immer noch die Frage (…), wie ein diktatorisches Regime wie das der DDR durch individuelles Handeln gestützt wurde.“
Diktatur und Fortschritt
Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, die Erscheinungsformen der Erinnerung an die DDR beziehungsweise an das Leben, den Alltag und nicht zuletzt die jeweils eigene persönliche Geschichte in der DDR zu analysieren. Dies hat Martin Sabrow in seinem Buch „Erinnerungsorte der DDR“ (München, C.H. Beck, 2009) getan. Er hat drei Formen der Erinnerung der Menschen an ihr Denken und Handeln in der verschwundenen Diktatur der DDR kategorisiert. Kern ist die Frage, wie Menschen ihre Einschätzung des Gesamtsystems DDR und ihre persönlichen Empfindungen im Verlauf der Jahre nach dem November 1989 bis in die heutige Zeit hinein aufeinander beziehen.
Martin Sabrow spricht vom „Diktatur-, vom Fortschritts- und vom Arrangementgedächtnis“: „Das Diktaturgedächtnis bezieht sich auf den Unterdrückungscharakter der Diktaturen und sieht vor allem den Macht- und Repressionsapparat, aber auch den Widerstand gegen die Diktatur. Das Fortschrittsgedächtnis denkt an die eigentlich mit der Gründung der Diktatur verfolgten guten Absichten. Das wird beispielsweise bei vielen Menschen sichtbar, die die DDR oder auch andere kommunistische Regimes in ihren Anfängen als antifaschistische, antikapitalistische, letztlich humanistische Idee deuten, mit einem guten Bildungs- oder Gesundheitssystem, sozialer Absicherung, preiswerten Wohnungen etc., unabhängig von der weiteren Entwicklung zur Diktatur. Die dritte Form, das Arrangementgedächtnis trennt die eigene Biographie vom Herrschaftssystem. Ein Beispiel der DDR-Geschichte: Waren, die dort in den Läden nur selten oder gar nicht erhältlich waren, sind die eine Seite der Medaille des Arrangementgedächtnisses, die andere ist der Wert, den diese Waren aufgrund ihres Nicht-Vorhandenseins hatten.
Die von Martin Sabrow entworfene Typisierung lässt sich meines Erachtens auf andere Konstellationen übertragen, auch auf den Umgang mit der Erinnerung an die NS-Herrschaft. So ließe sich beispielsweise das „Fortschrittsgedächtnis“ auf die Elemente beziehen, die in der Nachkriegszeit und bis in die 1970er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland – von manchen heute wieder – als vermeintliche „Erfolge“ der NS-Herrschaft propagiert wurden. Dazu gehörten beispielsweise die immer wieder zitierten Autobahnen, die NS-Wirtschaftspolitik, die die Arbeitslosigkeit beseitigt haben soll, oder die NS-Kriminalitätsbekämpfung. Der erste Politiker, der mit einem solchen Lob der NS-Politik Wahlerfolge feierte, war Jörg Haider, der es sich auch nicht nehmen ließ, auf Kameradschaftsfesten ehemaliger SS-Mitglieder seine Aufwartung zu machen. 1989 gelang es der FPÖ als erster Partei in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, sich mit ihren rechtsradikalen bis rechtsextremen Inhalten an einer Regierung zu beteiligen.
Jörg Haiders Lob wurde damals in den deutschen Medien und in der deutschen Politik skandalisiert, die EU versuchte, die österreichische Regierung angesichts der Regierungsbeteiligung der FPÖ zu sanktionieren. Erfolglos, möglicherweise auch, weil viele Deutsche und manch andere Europäer*innen – damals vielleicht noch eher schweigend – der FPÖ-Linie zugestimmt haben dürften. Mit der Zeit wurden die Ansichten Jörg Haiders und seiner Partei hoffähig. In ihrer linguistischen Studie über die Sprache in den österreichischen Debatten um die Präsidentschaftskandidatur von Kurt Waldheim (1918-2007) sowie die sogenannte „Kreisky-Peter-Wiesenthal-Affäre“ kommen die Autor*innen zum Schluss: „Werden diese Formen einmal erfasst, so ist es nicht mehr möglich, Antisemitismus statistisch als rechtsradikales Phänomen zu marginalisieren. Es herrscht eben ein komplexes Zusammenspiel zwischen antisemitischen Inhalten und sprachlichen Formen, in die diese je nach Kontext verpackt werden müssen, ohne dass öffentliche Tabugrenzen verletzt werden und Sanktionen zu erwarten sind.“ (Ruth Wodak u.a.: „Wir sind alle unschuldige Täter“ – diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main, Suhrkamp, 1990).
Seit etwa 2015 waren die von Jörg Haider geprägten Tabuverletzungen auch in Deutschland wieder häufiger zu hören. Medien und Politiker*innen der verschiedenen Parteien empörten sich pflichtgemäß, doch gelang es Alexander Gauland, Björn Höcke und anderen Akteur*innen der AfD, die Relativierung und Bagatellisierung der NS-Geschichte zu verbreiten. Sie gaben sich einen bürgerlich-konservativen Anstrich, vertraten aber Positionen, die in ihrer Radikalität denen der bekannten Neo-Nazis nicht nachstanden. Sie verwiesen auf eine vorgeblich erfolgreiche „1.000jährige (sic!) deutsche Erfolgsgeschichte“, in der die NS-Verbrechen dann als unbedeutende Episode in dieser Geschichte verblassen müssten. Und selbstverständlich werden in diesem Zusammenhang die „Leistungen der deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen“ heroisiert. Heute findet zwar eine Bagatellisierung der Shoah keine gesellschaftlichen Mehrheiten mehr, eine Leugnung schon gar nicht, allerdings gibt es ausweislich der Bielefelder Mitte-Studien sowie der Leipziger Autoritarismusstudien immer wieder Mehrheiten unter den Befragten, nicht mehr über die Shoah sprechen zu wollen und den berüchtigten „Schlussstrich“ zu ziehen. Da kommen die Verweise auf eine angeblich heroische Vergangenheit deutscher Geschichte gerade recht, angesichts des katastrophalen Zustands des Geschichtsunterrichts in deutschen Schulen nicht ohne Erfolgsaussichten.
Wir sollten bei der Einschätzung solcher Äußerungen nicht vergessen, dass ein großer Teil der heutigen AfD-Funktionär*innen in den 1970er Jahren diese Positionen als Mitglieder der CDU, und in der Zeit des Streits um die mit dem Namen Willy Brandts verbundene „Ostpolitik“ auch als Mitglieder der FDP vertraten, von denen manche noch aus den Kreisen der in den 1950er Jahren in diese Partei eingetreten ehemaligen nationalsozialistischen Funktionäre kamen. Alexander Gauland war in den 1970er Jahren Mitglied und Funktionär in der CDU Alfred Dreggers, der – dies nur ein Beispiel seiner revanchistischen Beiträge – die Würdigung des Mutes und Handelns von Deserteuren im Zweiten Weltkrieg als „Beleidigung seines gefallenen Bruders“ betrachtete. Ein „Diktaturgedächtnis“ im Sinne Martin Sabrows hatten diese Politiker*innen bezogen auf die NS-Zeit nicht und in Ernst Nolte fanden sie schließlich einen wissenschaftlich renommierten Vertreter ihrer Politik. Andererseits war das „Diktaturgedächtnis“ dann doch stärker als vermutet, und Ernst Nolte konnte seine Position zumindest in der Wissenschaft nicht durchsetzen. Es reichte eben nicht aus, kommunistische Diktaturen zu verurteilen, um den Nationalsozialismus zu bagatellisieren.
Ambivalentes Arrangement
Paula Fürstenberg hat sich mit der von Martin Sabrow eingeführten Trias in ihrem Essay „Das Wetter findet immer statt“ kritisch auseinandergesetzt). Sie bezieht sich auf Christa Wolfs Kontroversen mit Günter Gaus und Manfred Stolpe über die Frage, was von der DDR bliebe, was erhaltenswert wäre, was nicht. Paula Fürstenberg hält Martin Sabrows Begriff des „Arrangementgedächtnisses“ für zu eng gefasst: „Das Problem, an dem sich mein Gehirn ganz grundsätzlich festbeißt, besteht in der Geltungskonkurrenz, mit der die Gedächtnisse gegeneinander antreten. „Meine Schwierigkeiten fangen da an, wo sowohl die öffentlichen Debatten als auch Wolfs Dialog mit Gaus und Stolpe bezüglich des Umgangs mit den DDR-Hinterlassenschaften so tun, als könne es nur eine gültige Erzählung einer Epoche geben. Als könnten nur entweder die Stasiakten oder die Literatur die Erinnerung an die DDR wachhalten. Ich bin schlicht nicht gewillt, in dieser Entweder-oder-Satzstruktur nachzudenken, nicht darüber und über nichts anderes.“
Paula Fürstenberg führt einen vierten Begriff ein, der den des „Arrangementgedächtnisses“ ersetzen soll, das „Ambivalenzgedächtnis“, sodass es – wie es sich für wissenschaftliche Typisierungen gehört – letztlich bei einer Trias bliebe. Ihre Kritik: „Wer arrangiert sich hier mit wem oder was? Schätzungsweise: der Mensch mit den gesellschaftlichen Verhältnissen. Dem Begriff wohnt ein Unterton inne, der nach Opportunismus klingt.“ In der Tat klingt „Arrangement“ ein wenig nach „Opportunismus“, positiv gewendet jedoch auch nach Kompromiss. Ob die Gründe für einen solchen Kompromiss als edel bezeichnet werden könnten oder vielleicht doch eher als „fauler Kompromiss“ zu hinterfragen wären, bleibt offen, da unkonkret. Ging es um das „nackte Überleben“, um Schutz der Familie, um persönliche Vorteile? Die Frage nach den Motiven müsste im Einzelfall beantwortet werden.
Markus Meckel und Martin Gutzeit haben zahlreiche in der Regel schwer zugängliche Dokumente der „Opposition in der DDR“ (Untertitel des gleichnamigen Buches: „Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit – kommentierte Quellentexte“, Köln, Bund-Verlag, 1994) zusammengestellt. In seiner Einleitung mit dem Titel „Aufbrüche“ reflektiert Markus Meckel das Verhältnis von „Staat“ und „Gesellschaft“: „In der DDR waren Staat und Gesellschaft nicht unterschieden, waren zum Eigentum der SED geworden, die sich anmaßte, das Wohl der Menschen aus historischer Notwendigkeit zu kennen und entsprechend über sie zu verfügen. So verschwammen die Begriffe von Staat und Gesellschaft und wurden mit der SED-Herrschaft identifiziert. Das hatte die doppelte Folge, dass im Bewusstsein der Menschen ‚Staat‘ eine von ihnen abgelehnte Wirklichkeit wurde – mit allen schlimmen Folgen für ein demokratisches Bewusstsein.“
Die Verwechslung beziehungsweise Identifikation von „Staat“ und „Gesellschaft“ prägt dann auch die Erinnerung an das eigene Verhalten in den Zeiten der Diktatur. Wer sich in einer Diktatur gegen bestimmte Elemente dieser Diktatur ausspricht, wird immer mit der Frage konfrontiert, wie weit er*sie eigentlich gehen sollte und könnte, was der „Staat“ zuließe, was die „Gesellschaft“ akzeptiere. Die durch das Wissen um die Aktivitäten der Stasi verursachte Unsicherheit ließ „Gesellschaft“ geradezu zwangsläufig als gängelnden, überwachenden und sanktionierenden „Staat“ erscheinen, dem man*frau sich nur sehr schwer entziehen konnte.
Irgendwann war bei manchen Bürger*innen der DDR vielleicht dann doch der antidiktatorische Rubikon überschritten und es gab keinen Weg mehr zurück in das „Arrangement“ mit „Staat“ beziehungsweise „Gesellschaft“. Am diesseitigen Ufer des Rubikons geht es jedoch in der Tat stets darum, wie bereit jemand ist, Ambivalenzen eines Pro und Contra, einer vielleicht sogar dialektischen Beziehung zwischen Pro und Contra auszuhalten, vielleicht mal seinen Fuß in den Rubikon hineinzuhalten, aber auf keinen Fall ganz hinein- oder sogar hindurch zu laufen. In diesen Widersprüchen vollzieht sich der Alltag in einer Diktatur. Paula Fürstenberg spricht daher von „Ambivalenzen“, sie hätte auch von Paradoxien oder von bis in Persönlichkeitsspaltung reichenden Dilemmata sprechen können. Auflösbar sind diese in einer Diktatur nicht: „Ja, ich halte den Reflex, Ambivalenzen auflösen zu wollen, für einen der fatalsten menschlichen Irrtümer.“
Im Umgang mit solchen „Ambivalenzen“ wäre vielleicht ein Blick in Bücher und Aufsätze von Thomas Bauer hilfreich, der unter verschiedenen Aspekten, auch im Hinblick auf die von Religionen geforderte Toleranz beziehungsweise aus religiöser Dogmatik mitunter abgeleitete pflichtige Intoleranz, den Begriff der „Ambiguitätstoleranz“ entfaltet (z.B. in „Die Vereindeutigung der Welt“, Stuttgart, Reclam, 2018). Diesen „Spannungszustand“ möchte Paula Fürstenberg erhalten und diskutieren, sie schlägt mit leicht ironischem Unterton vor, dass jemand über dieses Thema promovieren möge, mit offenem Ergebnis. Für eine kritische Reflexion der deutschen Erinnerungskultur wäre eine solche theoretische Arbeit sicherlich von Interesse, möglicherweise sogar in internationalem Vergleich. Ein Ergebnis dürfte vorhersehbar sein: nur Weniges ist eindeutig
Vielleicht sollten wir den Begriff des „Ambivalenzgedächtnisses“ als Element eines längeren dialektischen Prozesses verstehen. Das von Martin Sabrow beschriebene „Arrangementgedächtnis“ beschreibt den Status Quo von Gedächtnis und Erinnerung bei Menschen (nicht nur) aus der DDR, das von Paula Fürstenberg postulierte „Ambivalenzgedächtnis“ eine Perspektive, mit der sich eine intensive Auseinandersetzung und Aufarbeitung mit der Vergangenheit gestalten ließe. Und dazu gehört eben auch eine Reflexion darüber, ob und wie sich Erfahrungen von Menschen in einer Diktatur gleichen und welche Alternativen sie bei ihren Alltagsentscheidungen tatsächlich haben beziehungsweise gehabt hätten.
Deutscher Orientalismus
Um die in diesem Essay Eingangs genannten Fragen zu beantworten, wäre nicht zuletzt ein Interesse erforderlich, diese Fragen überhaupt beantworten zu wollen. Schon über dieses Interesse lässt sich jedoch streiten. Denn ob sich die Deutschen im Jahr 2021 als Ost- und Westdeutsche einordnen ließen oder sich so charakterisieren lassen wollen, darf bezweifelt werden. Dazu gab es viel zu viele Umzüge, von Ost nach West, von West nach Ost, zu viele neue Freundschaften, wenigstens ist uns der Begriff der ost-westdeutschen „Mischehe“ erspart geblieben. Andererseits wird in den Medien, in alltäglichen Gesprächen, aber durchaus auch in der ein oder anderen wissenschaftlichen Arbeit eine „ostdeutsche“ Identität behauptet. Eine „westdeutsche“ Identität hingegen wird selten vermutet, und wenn, dann ausschließlich im Hinblick auf etwas, dass in der ostdeutschen Identität aus „westlicher“ Sicht als problematisch angesehen wird. Eine binäre Sicht auf das, was „deutsch“ sein könnte, durchzieht die meisten innerdeutschen Debatten.
So darf bezweifelt werden, ob die Deutschen sich als „Gesamtdeutsche“ definieren lassen und vor allem, ob sie sich als solche verhalten (wollen). Ist wirklich – so wie Willy Brandt hoffte – „zusammengewachsen, was zusammengehört“? Es ließe sich durchaus darüber diskutieren, ob sich diese legendäre Formel nur auf Deutschland oder auch auf Europa beziehen ließe, Heiko Maas hat dies in einem am 3. Oktober 2020 veröffentlichten Text getan. Mir geht es hier jedoch primär um das Verhältnis von „Ost“ und „West“ in Deutschland, allerdings möglicherweise durchaus heuristisch für eine „gesamteuropäische“ Sicht.
Nach meiner Wahrnehmung ist „gesamtdeutsch“ eine Kategorie, die noch seltener verwendet wird als die Kategorie „westdeutsch“. Gibt es eine Verständigung über eine „gesamtdeutsche“ Geschichtsschreibung, eine „gesamtdeutsche“ Literatur, „gesamtdeutschen“ Alltag? Will das überhaupt jemand? Oder ist die Kategorie „gesamtdeutsch“ in der allgemeinen Formel „deutsch“ aufgegangen? Oder schwingt bei dem Begriff „deutsch“ vor allem erst einmal eine „westliche“ Sicht mit, an die sich „Ostdeutsche“ anzupassen hätten?
Am Wohnort kann es nicht liegen, ob und wenn ja wie solche Fragen gestellt und beantwortet werden sollten. Es gibt viele Menschen, die von Ost nach West oder in umgekehrter Richtung von West nach Ost gezogen sind, ostdeutsche Regionen sind für Menschen aus dem Westen attraktive Urlaubsziele. Doch auch hier ist Sprache verräterisch: ein Rheinländer in der Uckermark oder auf Rügen ist immer noch ein Rheinländer, jemand aus der Uckermark oder Rügen im Rheinland kommt nach wie vor aus dem „Osten“. Markus Meckel schreibt in dem bereits zitierten Text, „dass sie sich im Westen selbst genug waren.“ Für Menschen aus dem Gebiet der untergegangenen DDR ergab sich im westdeutschen Diskurs eine neue Spielart des von Edward Saïd eingeführten Begriffs des „Orientalismus“. Im westdeutschen und westeuropäischen Diskurs über Polen, Ungarn, Russland wirkt dieser „Orientalismus“ dann auf europäischer Ebene.
Die Typisierung eines Menschen als „Ostdeutsche*r“ ist ein gängiges Klischee in der Berichterstattung über Ostdeutschland. Viele Entwicklungen in Ostdeutschland oder wie manche heute noch sagen, in den fünf neuen Bundesländern sowie im Osten Berlins werden in den Medien ebenso gängig auf die Vergangenheit in der DDR bezogen. Diese wird beispielsweise immer wieder beschworen, wenn es darum geht, den Zuwachs der Stimmenanteile einer rechtspopulistischen, in vielerlei Hinsicht rechtsextremistischen Partei zu erklären. Als wenn es im „Westen“ nie solche Zuwächse gegeben hätte und auch in den späten 2010er Jahren nicht gäbe! Mitunter wird der Eindruck erweckt, als gäbe es in Ostdeutschland geradezu durch die DDR-Geschichte genetisch bedingte Voraussetzungen für Verhaltensweisen, die im allgemeinen „westlichen“ Verständnis für nicht akzeptabel erklärt werden.
Die Frage, ob es eine Ostidentität gäbe, ist aber nicht nur eine Frage, die sich aus der Sicht des „Westens“ stellt. Sie ist auch eine Frage von Ostdeutschen an sich selbst. Mandy Schulze, eine der drei Herausgeber*innen von „Wie war das für euch?“ schreibt: „Ich glaube, die Identität als eine Gruppe, als Ossis ist bei den Ostdeutschen viel ausgeprägter als bei den Bundesbürgern in den alten Ländern. Da wurde man durch die Wende nicht automatisch zum Wessis (sic!) gemacht, auch nicht medial. Der Osten dagegen wurde zur identitätsstiftenden Größe.“
Aber vielleicht sollten wir in der Geschichte noch einige Jahre oder Jahrzehnte zurückschauen, denn der westdeutsche „Orientalismus“ hat Tradition. Letztlich bleibt es bei der Spiegelung, die wir aus den Zeiten der Koexistenz zweier deutscher Staaten zwischen 1948 und 1990 kennen. So wie vier Jahrzehnte lang in der DDR der „Westen“ für alles Unheil dieser Welt, Kapitalismus, Faschismus, Imperialismus, verantwortlich gemacht wurde, waren sich im „Westen“, in der damaligen Bundesrepublik Deutschland, deren offizielle Repräsentant*innen ihr Land ungern mit BRD abkürzen ließen, fast alle einig, dass alles Übel aus dem „Osten“ drohe. Wer in der BRD sich kritisch äußerte, wurde schnell gemahnt, er möchte doch „nach drüben“ gehen, wer dies in der DDR tat, riskierte Freiheit und Leben. Vielleicht war das der zentrale Unterschied: der Wechsel von West nach Ost war ungefährlich, der Wechsel von Ost nach West lebensgefährlich.
Vielleicht ist die Schlussfolgerung erlaubt, dass im „Westen“ für die Entwicklung einer „gesamtdeutschen“ Identität das Interesse und der Wille, im „Osten“ die Distanz zu sich selbst fehlen, letztlich aber immer die (ausgesprochene) Identität Ost nicht von der (unausgesprochenen) Identität West getrennt werden kann. Vorläufiges Fazit: „Man kann den Osten unmöglich ohne den Westen denken. Ostdeutsch und westdeutsch sind kein einfaches Gegensatzpaar, sondern eine Dichotomie, ein Zweigeteiltes, das sich auf ein prägendes geschichtliches Ereignis bezieht – auf die Revolution in der DDR und die darauf folgende Vereinigung beider deutschen Staaten.“
Ein falsches Leben im falschen
Die Initiator*innen der „Dritten Generation Ost“ berichten von dem „Unverständnis, das einem oft begegnet, wenn man darauf hinweist, dass man auch in der DDR gut gelebt haben kann“. Im „Westen“! Ein solcher Hinweis wird sehr schnell als Verharmlosung der Diktatur interpretiert. Differenzierungen, Ambivalenzen? Fehlanzeige. Anja M., 1978 geboren, versucht im Gespräch mit ihren Eltern diesen Ambivalenzen auf den Grund zu gehen. Es geht Anja M. nicht um gegenseitige Beschuldigungen, sondern um „gegenseitige Anerkennung“, „nicht, weil ich wissen will, wer recht oder unrecht hatte, nicht weil ich eine Schablone für mein eigenes Leben brauche. Sondern die persönlichen Erfahrungen der Mutter, des Vaters oder der Tante sind mir wichtig, damit ich mich in dem familiären, gesellschaftlichen und geschichtlichen Kontext, in dem ich aufgewachsen bin, orientieren kann und mir meine eigene Meinung bilden kann, meine eigenen Werte entwickeln kann.“
Anja M. berichtet, dass ihre Frage, warum der Vater Mitglied der SED geworden sei, mit dem pauschalen Vorwurf beantwortet wird: „Du redest ja schon wie die Wessis!“ Und wenn die Eltern Pegida befürworten, mutmaßlich AfD wählen, eskaliert der Generationenkonflikt. „Pegida wurde für uns der Anlass, dem anderen innerhalb einer Stunde an den Kopf zu werfen, was sich in den letzten Jahren angestaut hatte.“ Doch warum sind Pegida und die AfD für so viele Menschen so attraktiv? Bianca Ely: „Pegida und AfD (…) führen eine identitäre Selbstverständigungsdebatte darüber, wer oder was die Deutschen sind. Sie schaffen in dem Sinne ein klares Angebot.“ Die Wahrnehmung der aktuellen Wirklichkeit wird ebenso wie die Erinnerung an die vergangene relativiert, Exklusion schafft das Selbstbewusstsein, das verloren gegangen zu sein scheint, weil mit dem Untergang der DDR auch die eigene Selbstsicherheit verloren gegangen ist, in einem Land zu leben, das zwar die Bewegungsfreiheit, Wunschlebensläufe und -karrieren erheblich einschränkte, aber auf der anderen Seite Sicherheit bot. Bianca Ely interpretiert die „rassistische Zuspitzung“ der politischen und gesellschaftlichen Debatten in Ostdeutschland, damit, dass „dieser innerdeutsche Dialog über Erinnerungsdiskurse in Ost und West und dem vermeintlich geteilten Narrativ nach dem Fall der Mauer genau jetzt fehlt.“ Von Martin Sabrows drei Typen der Erinnerung bleibt letztlich eine nationalistisch zugespitzte Variante des „Fortschrittgedächtnisses“.
Anja M. muss erfahren, dass ihre Eltern schweigen, weil sie offenbar befürchten, ein falsches Leben im falschen geführt zu haben. „Wir glauben oft, andere, die anderen, reden so viel Falsches über uns, dabei haben wir noch nicht einmal miteinander geredet, wir Ostdeutschen, Väter und Mütter und Kinder, über das Falsche, was wir voneinander denken und über das, was wir einander fragen sollten.“ Und die Hemmschwellen sind groß. Isabel Gebel, 1980 geboren, sagt, dass sie mit der Zeit habe lernen müssen, das Schweigen ihrer Eltern „auszuhalten“. „Ich bin angekommen in der Bundesrepublik, gut ausgebildet, etabliert, vernetzt und habe so gut wie nichts mehr gemein mit meinen Eltern. Das macht ihnen Angst, sie fühlen sich minderwertig, und sie zeigen es nicht, sondern sie schweigen oder versuchen, im Gespräch zu bleiben, indem sie über das Wetter reden.“
Selbst der Umzug aus der Plattenbausiedlung kann zum Statement eines schlechten Gewissens werden, das dann – nach dem Umzug – in eine Diskriminierungserfahrung umgedeutet wird. Anja M.“ „Meine Eltern wollten nicht in den Ruinen eines untergegangenen Landes leben. Denn das wurde sie, unsere Platte, begehrt zu DDR-Zeiten, danach brauchbar nur noch für die, die wirklich keine andere Wahl hatten, bald nach der Wende: eine Ruine.“ So sprachen auch Menschen aus dem „Westen“ über die ostdeutsche „Platte“, als wenn es solche Bauten im Westen nicht gäbe. Köln-Chorweiler, der Dortmunder Hannibal oder das Märkische Viertel in Berlin ließen sich bei genauem Hinsehen durchaus mit Berlin-Marzahn oder Berlin-Lichtenberg vergleichen. Gute Wohnungen, gemessen an den Bedürfnissen der Menschen in den 1950er und 1960er Jahren. Und dennoch durften die Kinder aus den Vierteln mit den Einfamilienhäusern im Grünen nicht mit den Kindern in diesen Vorstädten spielen. Dafür sorgte schon das gegliederte Schulsystem. Die attraktiveren Altbauten vom Prenzlauer Berg wurden erst nach 1989 renoviert und wieder bewohnbar, allerdings bezahlbar nur für Zugezogene aus dem „Westen“. Auch das ist Migrationsgeschichte.
Migrantisierung ohne Migration
Franziska Olm, 1982 geboren, bezeichnet sich als „Migrantin. Ich bin eine 39jährige Frau mit Migrationshintergrund. Als deutsch eingegliedert. Nie angekommen. Fremd.“ Wohin? Nach vorn schauen. Sich was ausdenken.“ Ein Zeitzeuge, der unter dem Pseudonym Jakob Prings firmiert, spricht von den Klischees „Ossi“ und „Wessi“ als „komplexen sozialen Kategorien“. Er bildet in Analogie zum Begriff der „blackness“, den Begriff der „easterness“ und stellt fest: „Die Wendeerfahrungen Ostdeutscher werden immer häufiger mit Migrationserfahrungen verglichen, oder es wird auf eine Transformationskompetenz angespielt, die Ostdeutschen und Migranten der zweiten und dritten Einwanderergeneration gemeinsam sei.“ 1990 gab es für alle Menschen in der bis zum 3. Oktober 1990 noch vorhandenen DDR neues Geld, nach dem 3. Oktober neue Pässe und in fast allen Lebensbereichen neue Gesetze und Regelungen. Niemand in der DDR kannte eine Steuererklärung oder Lebensversicherung, jetzt musste man*frau sich damit zurechtfinden. Eine Gebrauchsanweisung gab es nicht. Insofern gab es schon so etwas wie Migrationserfahrung ohne Ortsveränderung.
Das in Berlin ansässige von Naika Foroutan geleitete Deutsche Zentrum für Integrations und Migrationsforschung (DEZIM-Institut) hat 2019 erste Ergebnisse einer Bevölkerungsbefragung zum Vergleich der Befindlichkeiten von Menschen in Ostdeutschland und Migrant*innen in Deutschland veröffentlicht. Als Migrant*innen werden in der Studie in der Regel „Muslim*innen“ genannt, eine meines Erachtens passende Wahl, weil in Deutschland in der Regel (fast) alle Migrant*innen von den eingesessenen Deutschen als „Muslim*innen“ identifiziert und bezeichnet werden. Es geht weniger um die Religion als um das Andere, das Fremde, das möglicherweise sogar Feindliche in denen, die als Migrant*innen identifiziert werden, selbst dann, wenn sie selbst niemals migriert sind.
Die Parallelen in den Lebensverhältnissen sind offensichtlich: „Das Lohnniveau ist nach wie vor geringer, die Arbeitslosigkeit höher und in Elitepositionen und an der Spitze von Wirtschaft und Politik gibt es eine deutliche Repräsentationslücke: In den Vorständen der DAX-Unternehmen, im derzeitigen Bundeskabinett und in Führungspositionen wie Universitätspräsidien, Richterämtern oder Medienunternehmen generell sind Personen aus Ostdeutschland unterrepräsentiert. Dies alles gilt, sogar in verstärktem Maße, auch für die Situation der Bevölkerung mit Migrationshintergrund. Auch für diese lässt sich, über die Zeit und vor allem über die Generationen, zwar eine deutliche Tendenz zu einer zunehmenden Teilhabe und Partizipation in gesellschaftlichen Kernbereichen wie Arbeitsmarkt oder Bildungssystem feststellen. Jedoch besteht auch für diese soziale Gruppe nach wie vor eine erhebliche Chancen-Lücke und eine ebenso ausgeprägte Unterrepräsentation, wenn es um die tatsächlichen Spitzenpositionen geht.“ Die Kernbegriffe lauten „Chancen-Lücke“ und „Unterrepräsentation“.
Und das sind keine diffusen Gefühle, sondern belastbare Fakten. DEZIM präsentiert eine Fülle von Forschungen zum Thema und fordert eine „systematische Verbindung von Ostdeutschland- und Migrationsforschung“. Untersucht wurden nicht nur soziale Verhältnisse, beispielsweise im Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch erfahrene Abwertung und Diskriminierung, beispielsweise im Vergleich der Erfahrungen von Ostdeutschen und Muslim*innen. Im Ergebnis stellt die Studie „Opferstilisierung“, „Extremisierung“ und „Migrantisierung“ fest.
Ergebnisse zum Thema „Opferstilisierung“: „Wird die strukturelle Ungleichheit thematisiert, dann will die Gesellschaft das nicht wahrhaben: Die Thematisierungen der strukturellen Schieflage gehen mit dem Vorwurf einer Opferrolle einher. / 41,2% der Westdeutschen finden, dass Ostdeutsche sich ständig als Opfer sehen. Diese Zahl liegt sogar über dem entsprechenden Wert für die Muslim*innen (36,5%). / Gleichzeitig scheint dieser Opfervorwurf auch von Ostdeutschen internalisiert zu sein, da hier fast ein Drittel (28,5%) ebenfalls diesem Stereotyp zustimmen. / Schließlich werfen Ostdeutsche Muslim*innen ähnlich stark vor (39,1%), sich ständig als Opfer zu sehen, wie es die Westdeutschen tun.“ Es gibt somit nicht nur die (im doppelten Wortsinn zu verstehende) Annahme eines Opferstatus, sondern auch eine Opferkonkurrenz zwischen Ostdeutschen und Muslim*innen zumindest aus Sicht der befragten Ostdeutschen.
Wie man es in den Osten hineinruft, …
Die Westdeutschen werfen Ostdeutschen und Muslim*innen gleichermaßen eine Neigung zu extremistischen Ansichten vor. Das Phänomen der Opferkonkurrenz wird dadurch verstärkt, dass Ostdeutsche noch häufiger als Westdeutsche Muslim*innen eine Nähe zu extremistischen Ansichten unterstellen. Westdeutsche werfen schließlich beiden Gruppen fehlende Integrationsbereitschaft vor. Für die Ostdeutschen lautet die Formulierung, sie wären „noch nicht im heutigen Deutschland angekommen“. Die Ostdeutschen werden somit „migrantisiert“.
Die Frage, ob Westdeutsche „im heutigen Deutschland angekommen“ sind, stellen sich diese jedoch nicht. Bisher habe ich eine solche Fragestellung nicht einmal in wissenschaftlichen Publikationen gefunden. Dieses Defizit lässt sich gut an der Frage nach dem „gleiche(n) Zugang zu gesellschaftlichen Positionen“ gemäß Art. 3 GG illustrieren. Die Autor*innen der DEZIM-Studie sprechen von einer „Positionenschranke“: „Fast 40% der Ostdeutschen (37,3%) glauben jedoch, sie haben nicht den gleichen Zugang zu Positionen. / Westdeutsche nehmen den ungleichen Zugang von Ostdeutschen zu gesellschaftlichen Positionen kaum wahr (18,6%).“ Es ließe sich angesichts dieses Ergebnisses durchaus von einer Art verbreitetem „Rust-Belt-Bewusstsein“ in Ostdeutschland sprechen, dem keine Problemwahrnehmung aus Westdeutschland (beziehungsweise aus den demokratischen Hochburgen an Ost- und Westküste) entspräche. Anders gesagt: so wie Ost- und Westküste in den USA sich „Rust Belt“ und „Bible Belt“ konstruieren, konstruieren Westdeutsche ihr Ostdeutschland. Gelungenes Priming oder wie man*frau es in den Osten hineinruft, so schallt es heraus.
Mit den „Muslim*innen“, einer Gruppenidentität, die im Grunde mehr oder weniger allen aus dem im Alltagssprachgebrauch „orientalisch“ genannten Raum nach Deutschland ein- und zugewanderten Menschen zugeschrieben wird, gibt es jedoch eine Gruppe, die in West- und Ostdeutschland gleichermaßen wenig populär wahrgenommen wird. Aus westdeutscher Sicht ist die Furcht vor einem Aufstieg von Muslim*innen in Führungspositionen erheblich höher als die Furcht vor einem Aufstieg von Ostdeutschen, sie ist allerdings bei Ostdeutschen erheblich weiter verbreitet als bei Westdeutschen, sie liegt durchweg nur knapp unter der 50%-Marke. Der „Teilhabekonflikt“ ist signifikant: „Ein nicht unwesentlicher Teil der Bevölkerung äußert die Befürchtung, dass soziale Aufstiege von unterrepräsentierten Gruppen dazu führen könnten, dass diese mehr Forderungen stellen – was zur Folge haben könnte, dass der eigene soziale Status oder die soziale Position (Privilegien) infrage gestellt werden.“ Untersuchenswert wäre, ob diese Sorge in der westdeutschen Bevölkerung nur bei bestimmten sozialen Schichten festgestellt werden kann, sodass sich dort wie auch in Ostdeutschland vor allem die Frage nach einer „Opferkonkurrenz“ stellt. Ich wage die Vermutung, dass diese Sorge in der westdeutschen Bevölkerung quer durch alle Schichten nachweisbar ist, selbst in liberalen Milieus. Aber es gibt letztlich keine nennenswerte Abwehr des Aufstiegs von Ostdeutschen durch Westdeutsche.
Doch wie ließen sich diese Probleme lösen? Ein gängiger Lösungsansatz ist in Analogie zur Förderung von Frauen in Führungspositionen die Einführung einer Quote. Eine Migrant*innenquote wird zurzeit ebenso diskutiert wie eine Ostquote. Diese könnte in Ostdeutschland bei einer Abstimmung eine Mehrheit erreichen. In Westdeutschland wäre das nicht der Fall. Dass jedoch „politische Steuerung“ erforderlich ist, wird in Ost- und in Westdeutschland übereinstimmend konstatiert. Solidarität unter marginalisierten Gruppen wäre sicherlich hilfreich, doch eine Solidarität mit „Muslim*innen“ ist bei Ostdeutschen nicht feststellbar. Im Gegenteil: die Zustimmungswerte zu Gruppierungen wie PEGIDA und AfD ergeben sich aus einem doppelten Ressentiment: gegenüber den (westdeutschen) Eliten, die einem zustehende Chancen verweigern, sowie gegenüber migrantischen, sprich: „muslimischen“ Gruppen, die als Konkurrent*innen angesehen und daher abgelehnt und bekämpft werden.
Fazit: Eine Sensibilität für ostdeutsche Befindlichkeiten, ein Eingeständnis ostdeutscher Benachteiligung – all dies gibt es bei Westdeutschen kaum. Westdeutsche „ignorieren (…) die Wunden der Wiedervereinigung.“ Ob daraus eine Gefahr für die freiheitliche deutsche Demokratie entstehen könnte, lässt sich nur vermuten. Die DEZIM-Studie hält es für möglich, „dass den Menschen die demokratiefeindliche Grundlage ihrer Einstellung nicht bewusst ist. Es gibt Hinweise auf paradoxe und dissonante Einstellungen, die demokratische Grundrechte infrage stellen.“ Markus Meckel hat die Ursache benannt: „Der Einigungsvertrag wurde ein bürokratisches Meisterwerk zum Anschluss eines nicht passfähigen Reststücks Deutschland.“ Die „Migrantisierung“ Ostdeutschlands, der westdeutsche „Orientalismus“ hatten dort ihren juristischen Ausgangspunkt. „Ambiguitätstoleranz“ verschwindet ebenso aus dem Blick wie eine gesamtdeutsche Sicht auf die Geschichte von 1945 bis heute.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2021, Internetlinks wurden am 15. September 2022 noch einmal auf ihre Richtigkeit überprüft.)