Wenn die Wütenden zornig werden
Nichts verbindet mehr als ein gemeinsamer Feind
Cornelia Koppetsch unterscheidet in ihrem Buch „Die Gesellschaft des Zorns – Rechtspopulismus im globalen Zeitalter“ (Bielefeld, transcript, 2019) „Wut“ von „Zorn“. Wut ist spontan, unorganisiert, Zorn jedoch systematisch und auf nachhaltige Wirkung angelegt. Das macht „Zorn“ zur politischen Waffe.
Die zentrale These dieses Buches lautet, dass der Aufstieg der Rechtsparteien eine aus unterschiedlichen Quellen gespeiste Konterrevolution gegen die Folgen der skizzierten Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozesse darstellt.“ Die acht Kapitel des Buches werden in einem übersichtlichen Abschnitt der Einleitung zusammengefasst und vorgestellt.
Es lohnt sich dieses Buch im Zusammenhang mit zwei weiteren Büchern zu lesen, mit dem letzten Buch von Carlo Sprenger sel.A. „Diese verdammten liberalen Eliten – Wer sie sind und warum wir sie brauchen“ (Berlin, edition suhrkamp, 2019), und mit Pankaj Mishras, „Das Zeitalter des Zorns – Eine Geschichte der Gegenwart“ (Frankfurt am Main, S.Fischer, 2017, englischer Originaltitel: „The Age of Anger“).
Wir gegen die anderen
Zorn ist – so Cornelia Koppetsch – die conditio humana einer „Parallelöffentlichkeit“, gebildet von Menschen, die „Politik nicht nur dazu (nutzen), ihre Interessen zu fördern, sondern auch dazu, ihre Identität zu definieren – getreu dem Motto: ‚Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.“ Es geht um „die Begründung und Verteidigung eines als gefährdet wahrgenommenen ‚Wir‘ in der globalen Moderne.“
„Get back control“ und vergleichbare Parolen sollen dem gefühlten „kollektiven Kontrollverlust“ trotzen, unter dem eine relativ große Gruppe von Menschen zu leiden behauptet. Diese Gruppe sucht ein Gegenmittel gegen den „Souveränitätsverlust von Nationalstaaten“ und den „Dominanzgewinn ökonomischer gegenüber politischen Akteuren“ und glaubt ihr Heil in einer „Re-Politisierung“ zu finden, „in einem für Liberale befremdlichen Rahmen.“ Das Gegenmittel heißt Illiberalismus oder Exklusion.
Im Grunde wird die alte Frage Lenins: „Wer wen?“ umgewertet. „Die Anhänger der politischen Lager unterschieden sich (…) weniger im Prinzip als in den Methoden der Ausschließung.“ Die Methoden reichen von der bloßen Diffamierung, der Hate Speech bis zur offenen Kriminalisierung und der Androhung von Deportationen, deren Vorstufe die Inhaftierung von Opponierenden und zu Deportierenden, Abzuschiebenden, „Volksfeinden“, in eigenen Einrichtungen, die dann gerne euphemistisch „Zentren“ genannt werden.
Um Exklusion durchzusetzen, bedarf es wirksamer „Barrierebildungen“, Grenzschutz und Grenzkontrolle nach außen und nach innen, denn nicht nur von außen zu- und einwandernde Migrant*innen, sondern auch die diese begrüßenden, versorgenden, zumindest verstehenden Liberalen innerhalb der eigenen Grenzen müssen bekämpft werden.
Die Sündenböcke – Re- und Selbstethnisierung
Carlo Sprenger sel.A. hat das Dilemma beschrieben: „Je tiefer jemand auf der sozioökonomischen Leiter steht, desto wichtiger ist die Zugehörigkeit zu Großgruppen für sie oder ihr Selbstbewusstsein (…). Und nationale, ethnische und religiöse Identitäten basieren nun einmal auf Traditionen, auf deren Alter, ihrem Loyalitätszwang und nicht selten ihrem vermeintlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Territorium. Infolgedessen fühlen sich besagte Menschen weit stärker von historischen Veränderungen und dem Zuzug von Migrantinnen aus fremden Kulturen bedroht (…)“.
Die bei allen rechtspopulistischen und rechtsextremistischen Parteien und Gruppierungen festzustellende Hass auf Migrant*innen hat somit einen einfachen Grund. Die Migrant*innen sind die „Sündenböcke“ par excellence. Cornelia Koppetsch: „Die Sozialfigur des Migranten vereinigt in sich, wie keine andere Figur, grenzüberschreitende Mobilität, kulturelle Fremdheit, identitäre Hybridität und transnationale Verflechtungen.“
Dabei ist es unerheblich, wie viele Ein- und Zuwandernden es tatsächlich gibt, ob sie jemandes Existenz bedrohen und welchen sozialen Status sie selbst haben. Carlo Sprenger referiert Daten, denen zufolge in den vergangenen Jahren mehr Mexikaner*innen aus den USA aus- statt eingewandert sind und dass die eingewanderten nicht die Jobs der alten weißen Industriearbeiter übernommen haben sondern Dienstleistungen ausüben, für die sich niemand sonst bereiterklärt.
Aber was haben die alten weißen Industriearbeiter, die so gerne als für Rechtspopulismus besonders empfänglich beschrieben werden, verloren? Stefan Lessenich hat in „Neben uns die Sintflut – Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis“ (Berlin, Hanser, 2016) beschrieben, wie die „westlichen“ Gesellschaften die Folgekosten ihres Lebensstils auf die sogenannten Schwellen- und Entwicklungsländer abwälzen, deren Rohstoffe sie für ihren Wohlstand ausbeuten. Von dieser Ausbeutung profitierten lange Zeit auch die „unteren“ Klassen, denen es somit gelang, immer jemanden zu finden, der niedriger stand als sie.
Heute, im Zeitalter der „Völkerverständigung“ und der „Globalisierung“, gilt dies nicht mehr. „Folgerichtig zielt rechtspopulistischer Protest in den europäischen Ländern und den USA nun auf die Wiedererlangung der ‚Ausbeutungsprämie‘, d.h. die Wiederaufrichtung von Grenzen und auf die Wiederherstellung ethnonationaler Privilegien.“ Soziale Konflikte, Betriebsschließungen oder Verlagerung von Produktionsstätten in sogenannte Billiglohnländer, all dies wird ethnisiert, politisch korrekte Sprache verworfen.
So ist das „America First“ des amtierenden amerikanischen Präsidenten nichts anderes als die Ethnisierung eines durch Globalisierung entstandenen Konflikts, den zu steuern er nicht bereit ist, sodass jede Verhandlung in eine Art „Kalten Krieg“ ausartet, in dem die (auch von ihm) ausgebeuteten „Rednecks“ sich wieder als „Herren“ auf der Gewinnerseite fühlen dürfen. Ob sie tatsächlich profitieren oder angesichts der durch die sogenannten “Strafzölle“ erhöhten Kosten den Preis der Auseinandersetzungen zahlen müssen, spielt dabei keine Rolle.
Und dies funktioniert auch in die andere Richtung. Auffällig ist in den Einwanderungsländern der Europäischen Union, vor allem in den ehemaligen Kolonialmächten, zu denen auch Deutschland gehört, dass sich die Kinder und Enkelkinder der in den 1950er und in den 1960er Jahren eingewanderten Menschen, in Deutschland die Kinder und Enkel*innen der sogenannten „Gastarbeitergeneration“, selbst ethnisieren. Cornelia Koppetsch nennt dies eine „‚trotzige‘ Re-Ethnisierung in der dritten Generation von Einwanderern, die plötzlich eine muslimische Identität betonen, die für viele vorher eher eine Nebensache war.“ So bestärken sich Rechtspopulisten und radikale Muslime gegenseitig in ihrer Haltung.
Nicht nur im Westen: Nichts Neues
Pankaj Mishra referiert die Geschichte verschiedener Populismen als Geschichte eines „revolutionären Messianismus“, der oft auch mit der Bereitschaft zum „Martyrertum“ verbunden war. Dies gilt für den nationalistisch-deutschen Widerstand gegen Napoleon, den beispielsweise Theodor Körner als „Kreuzzug“ und „heil’gen Krieg“ verherrlichte. „Dieser ‚heil’ge Krieg‘ – der erste im nachchristlichen Europa – ging dem islamischen Fanatikern zugeschriebenen Dschihad gegen den militärischen und kulturellen Imperialismus um viele Jahrzehnte voraus.“
Zwischen den Ereignissen des Jahres 1813 und dem 11. September 2001 gibt es keinen Kausalzusammenhang, aber Parallelen: „Ein junger Mann aus der Kairoer unteren Mittelschicht, der gerade an seiner Diplomarbeit an seiner Diplomarbeit über Stadtentwicklung saß, war einer jener chancenlosen Migranten, die in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts ‚Wart nur ab!‘ vor sich hin murmelten. Er befasste sich in seiner Abschlussarbeit mit der auf den Bau von Autobahnen und modernen Wolkenkratzern beruhenden Zerstörung eines Bezirks der alten syrischen Stadt Aleppo und rief zum Abriss aller neuerrichteten Gebäude auf, um die traditionelle Nachbarschaft aus Hinterhofbehausungen und Marktständen zu erhalten. Für ihn gehörte das zur Wiederherstellung islamischer Kultur. Seine Diplomarbeit, die er an einer Hamburger Universität einreichte, brachte ihm Bestnoten ein. Ein paar Monate später erfuhr derselbe junge Mann, der Mohammed Atta hieß, dass man ihn auserwählt hatte, eine Mission zu leiten, deren Ziel die Zerstörung der bekanntesten Wolkenkratzer Amerikas war.“
Urvater der europäischen Varianten dieser Ausformung von Totalitarismus und Terrorismus war Jean-Jacques Rousseau, der – so Pankaj Mishra – „die emotionale Grundlage für einen militanten kulturellen Nationalismus“ formulierte. Das Gefühl erlebter Demütigung wird mit einer „Lust an grandioser Politik“ bekämpft. Als Beispiele nennt Pankaj Mishra u.a. Gabriele D’Annunzio und den sogenannten „Islamischen Staat“. Bezogen auf die beiden ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts wirkt dieses Modell weltweit, im hinduistischen Nationalismus Indiens wie im Nationalismus in den USA und in anderen „westlichen“ Gesellschaften, in Russland, in der Türkei, in Brasilien, überall dort, wo Parteien, Bewegungen oder Einzelpersonen zur Stärkung des eigenen Selbstbewusstseins vor allem Hass auf alles, was anders ist als sie, zu schüren verstehen.
Als Gegenbild zu Rousseau zitiert Pankaj Mishra Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche, deren Prophezeiungen im 20. Jahrhundert Wirklichkeit wurden. Heinrich Heine: „Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erschienen möchte.“ Friedrich Nietzsche: „Es wird Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat.“ Und im 21. Jahrhundert?
Identitätspolitik und Klassismus
Cornelia Koppetsch verweist auf den „Vergleich religiös-fundamentalistischer und rechtspopulistischer Protestbewegungen“, u.a. bei Pankaj Mishra: „Es handelt sich in beiden Fällen um (…) Milieus, die durch Urbanisierungs-, Feminisierungs- und Industrialisierungsprozesse Privilegien verloren hatten oder zu verlieren drohten und (…) für eine Beschränkung der Rechte von Frauen sowie eine repressive Familien- und Sexualmoral eintraten, wodurch sie gleichsam symbolisch Rache an den Modernisierungsgewinnerinnen nehmen konnten.“
Einen wesentlichen Unterschied zwischen rechten und linken Protestbewegungen sieht Cornelia Koppetsch darin, dass es sich bei den rechten Bewegungen um Menschen „überwiegend aus sozial absteigenden Gruppen“ handelt, bei linken Bewegungen „eher aus aufstiegsorientierten, aber im Aufstieg blockierten Gruppen“. Die einen sehen die Hauptbedrohung in den von unten aufsteigenden oder aufgestiegenen Gruppen, paradigmatisch Ein- und Zuwandernde sowie Frauen, die andere in den von oben ihren Aufstieg verhindernden Eliten. Ein Unterschied liegt darin, ob es um „Grenzen zwischen oben und unten“ (eher linke Auffassungen) oder „Grenzen zwischen innen und außen“ (eher rechts) geht. Natürlich gibt es auch Mischformen, die beide Grenzziehungen in ihr Welt- und Politikverständnis einbeziehen.
Insofern ist es nichts Neues, dass „Identitätspolitik“ so wichtig ist: Sie „ist kein Spezifikum rechtspopulistischer, rechtsnationaler oder fundamentalistischer Bewegungen, sondern es begleitete auch den Prozess der Klassenbildung im 19. und 20. Jahrhundert.“ Mehrfach verweist Cornelia Koppetsch auf Pierre Bourdieu, der „symbolische Konflikte um Anerkennung und soziale Abgrenzung“ in seine Beschreibung der „Klassenkämpfe“ mit einbezieht. „Geschmacks und Lebensstilfragen“ werden damit eine eminent „politische Frage“.
Pankaj Mishra „Und noch etwas geschieht in Gesellschaften, die sich durch Chancengleichheit definieren. Da sie den Anspruch erheben, meritokratisch und egalitär zu sein, drängen sie den Einzelnen, sich mit anderen zu vergleichen und sich selbst in einer allumfassenden Hierarchie der Werte und der Kultur einzuordnen. Da echte Mobilität nur wenigen gelingt, tritt die Suche nach eindeutigen Beweisen für eine überlegene Stellung und Identität an die Stelle des Ideals eines erfolgreichen Lebens für viele. Das stärkt letztlich die gnadenlose Dichotomie zwischen ‚uns‘ und ‚denen‘, die das Fundament des modernen Nationalismus bildet.“
Und je nach ‚Geschmack‘ sind Muslime und Juden die Propagandisten einer weltweiten Verschwörung. Dabei erweist es sich als besonders praktisch und nicht nur für einfache Gemüter ausreichend, bestimmte religiöse Praktiken des Islam, Kopfbedeckung, Beschneidung und Schächtung, zu inkriminieren und das Judentum – ohne es explizit zu erwähnen – mitzutreffen. Der Islam wird „als homogen, statisch, doktrinär und immun gegenüber jeder Veränderung porträtiert.“ Die Debatten um „Heimat“ und „Genderpolitik“ sind zwei weitere Varianten dieses Diskurses.
Paradigmatisch für aktuelle Debatten um ein exkludierendes Verständnis von Politik wird zurzeit, 30 Jahre nach dem 9. November 1989, „das Verhältnis von Westdeutschen zu Ostdeutschen“ diskutiert. Cornelia Koppetsch: „In der Perspektive der Angehörigen des westdeutschen Establishments, die sich überdies davon freisprechen, für die Entstehung und den Erfolg des Populismus in signifikantem Maße mitverantwortlich zu sein, wird Rechtspopulismus gerne ‚den anderen‘ zugeschrieben, indem man ihn gewissermaßen als Fremdkörper betrachtet, der auf autoritäre Einstellungen und Dispositionen vermeintlich unzureichend sozialisierter Gruppen – ‚der Arbeiter‘ oder ‚der Ostdeutschen‘ – zurückzuführen sei.“ Es wären eben die „Demokratiedefizite der Ostdeutschen“, die „noch ‚aufholen‘ müssten, um westdeutsche Fähigkeiten des friedlichen, demokratischen Zusammenlebens zu erlernen.“ Ein Spiel von „Ausgrenzung und Gegenausgrenzung“ mittels „ethnonationaler Kategorien“. Der Westdeutsche, der Ostdeutsche, der Türke, der Flüchtling, das ist die behauptete und mehr oder weniger bewusst gelebte Hierarchie.
Erodierende Mitte
Wo bleibt die Mitte, deren „Verschwinden“ nicht nur die Bielefelder und Leipziger Mitte-Studien (in Leipzig jetzt passenderweise als „Autoritarismusstudie“ firmierend) konstatieren? Cornelia Koppetsch erinnert daran, dass es die sogenannte „Mittelschicht“ noch gar nicht so lange gibt. Sie ist „ein neues Kollektivsubjekt“ des 20. Jahrhunderts, das der Pazifizierung der Klassengegensätze viel zu verdanken hat. „Wohlstand für alle“, das Heilsversprechen der Sozialdemokratie, eine Parole, die ein konservativer Politiker prägte, der schon in den 1950er Jahren eine Art Sozialdemokratisierung der CDU betrieb, den sogenannten „rheinischen Kapitalismus“, dessen Trägerin besagte „Mittelschicht“ war.
Eine Paradoxie liegt nunmehr darin, dass „die Mittelschichten in den westlichen Demokratien in den letzten drei Jahrzehnten nicht nur geschrumpft (sind), auch in Anteil am Gesamteinkommen ist gesunken, wohingegen die Reichen an ökonomischer Stärke gewinnen konnten.“ Und wer es in dieser neuen Konstellation nicht schafft, sich wirtschaftlich erfolgreich zu positionieren, ist selbst dran schuld. Risiken werden erfolgreich „in die private Verantwortung“ rückdelegiert. Das macht zunächst wütend.
Die Gewinner*innen der globalisierten Wirtschaft sind diejenigen, die Ein- und Zuwanderung positiv bewerten, „globale Eliten“ nutzen „die neue migrantische service class“. Unter diesem Aspekt wird leicht verständlich, warum rechtspopulistische (und re-ethnisierte islamistische) Bewegungen Frauen gerne wieder am Herd sehen wollen. Ihr Ziel ist es, dass Frauen in die Rolle der „service class“ zurückkehren, möglichst viele Kinder bekommen und damit die Migrant*innen überflüssig machen. Die Liberalen sind der Feind, der die Migrant*innen ins Land holt, und Frauen von ihren „natürlichen“ Aufgaben entfremdet und jede erdenkliche Minderheit verwöhnt. Die Liberalen sind die Heimatlosen, die Heimatverächter, die „Anywheres“, die „Elite“, die nichts von den „Sorgen“ der „Somewheres“ hören will.
Der Selbstzweifel der Liberalen
Die liberale Elite, die „Anywheres“, sind der neue Klassenfeind der „Somewheres“. Mit dieser Dichotomie knüpfen Cornelia Koppetsch und Carlo Sprenger an David Goodhart an (The Road to Somewhere – The Populist Revolt and the.Future of Politics, London, Hurst & Company, 2017). Carlo Sprenger: „Als Nigel Farage (…) vor einigen Jahren sagte, er fühle sich unwohl in einem Zug, in dem niemand mehr Englisch spräche, hielten das viele Beobachterinnen für billige Rhetorik (was insofern zutrifft, als Farage selbst sicher nicht zu den ‚Somewheres‘ gehört). Sie übersahen dabei, dass Farage einen Nerv getroffen hatte: Umfragen zeigten bald, dass etwa siebzig Prozent der Briten seiner Meinung waren – ein Anteil, der ziemlich genau jenem entspricht, den Goodhart für die Gruppe der ‚Somewheres‘ veranschlagt.“
Aber die Liberalen stellen sich auch selbst in Frage (zu dem Thema lohnt sich nicht zuletzt die Lektüre von Nora Bossongs Roman „Schutzzone“, Berlin, Suhrkamp, 2019). Carlo Sprenger illustriert das Dilemma der Menschen, die sich als liberal, tolerant und weltoffen definieren, am Beispiel von fünf Patient*innen, die als „liberale Kosmopoliten“ alle Voraussetzungen hätten, sich in dieser Welt zurechtzufinden und durchzusetzen. Aber das gelingt ihnen nicht, denn sie verkennen ihre „Isolation“:
Mehrere Patient*innen Carlo Sprengers litten an ihrer Herkunft, die sie „als beengend, ja beinahe erdrückend (empfanden)“. Für sie „war es eine ungeheure Erleichterung, als sie herausfanden, dass es Länder, Kontinente und Kulturen umspannende Netzwerke gab, in die sie sich einklinken konnten. Kosmopolitismus wird dadurch mehr als nur praktische Weltläufigkeit und ein Werkzeug zum Erfolg: Er wird das Zentrum einer Identität.“ Und in dieser „Identität“ „bemerken sie nicht, dass sie selbst eine Art ‚Stamm‘ darstellen, auch wenn es sich um einen globalen Stamm ohne eindeutig definiertes Territorium handelt. Ihre Sorgen um den Planeten (…) stoßen daher oft nicht auf Sympathie, sondern werden als eine Art Diktat einer globalen Elite abgelehnt. Das wiederum verstärkt ihrerseits ein Gefühl der Isolation, weil sie sich keiner lokalen Gemeinschaft wirklich zugehörig fühlen.“
Aus dem Gefühl der „Isolation“ entsteht das schlechte Gewissen. Von einem Patienten berichtet Carlo Sprenger, wie er sich in überkommene Verhaltensmuster zurückzog. So war „sein Lebensstil zwar kosmopolitisch, sein Innenleben aber überhaupt nicht liberal“, auch und gerade in Ablehnung seiner eigenen Homosexualität, die er erst zu bearbeiten, jedoch nicht zu akzeptieren verstand, als er sich dem Katholizismus wieder zuwandte.
Die Debatten um den „Veggie-Day“ und den Diesel-Betrug der Automobilkonzerne funktionierten genau nach diesem Muster. Diejenigen, die durchaus hätten begründen können, warum weniger Fleisch und das Einhalten von Schadstoffbegrenzungen allen Menschen nutzen würde, trauten sich nicht, die Konsequenzen ihrer Ein- und Ansichten offensiv zu debattieren, sondern pflegten ein schlechtes Gewissen und isolierten sich selbst.
Und damit spielen sie denjenigen, die nicht zweifeln, in die Hände: „Politiker wie Viktor Orbán bekennen sich voller Stolz zum Konzept der ‚illiberalen Demokratie‘ – mit anderen Worten: zu einer Diktatur der Mehrheit, ohne Einschränkungen durch eine unabhängige Justiz, eine freie Presse, Forschungs- und Lehrfreiheit oder eine offene Zivilgesellschaft.“
Den Vorwurf des „Kosmopolitismus“ gab es in der Vergangenheit übrigens auch von anderer Seite, so in den stalinistischen Prozessen der 1930er und der frühen 1950er Jahre. Und er wurde mit der Vermutung einer jüdischen Verschwörung verknüpft, beispielsweise im Moskauer Ärzte-Prozess. Wie gesagt: Nichts Neues.
„Wenn die oben nicht mehr können“
Wer glaubt, dass sich rechtspopulistische Parteien, wie beispielsweise die AfD, mit der Zeit mäßigen – so wie das auf der linken Seite die Grünen und inzwischen auch die Linke taten und tun – täuscht sich. Kritik an mangelndem Programm und mangelnder Konkretisierung beispielsweise sozialpolitischer Vorstellungen läuft ins Leere. Cornelia Koppetsch: „Die ideologische Unschärfe ist indes die Voraussetzung dafür, unterschiedliche Milieus zusammenzubringen und ein Bündnis etwa zwischen den bürgerlichen Gegnern kosmopolitischer Lebensformen und den prekären Verlierern zu schmieden. Damit liegen bei der aktuellen Rechtsbewegung alle wichtigen Inhaltsstoffe einer politischen Rechtsbewegung vor.“
Ich erlaube mir erneut Lenin zu zitieren: „Revolutionen finden statt, wenn die unten nicht mehr wollen und die oben nicht mehr können.“ (für diesen Gedanken danke ich Martin Sabrow). Der Rechtspopulismus wird sich immer weiter radikalisieren, wenn er neue Anhänger*innen unter denen findet, die nicht mehr wollen. Der Grund ist einfach: es geht ihnen eben nicht um ein zukunftsfähiges Konzept einer gerechten Gesellschaft, sondern um die Wiederherstellung ihrer Privilegien, und da interessiert es nicht, ob die mutmaßlich Privilegierten, die sogenannten „Eliten“ ebenso wie die zugewanderten „Migranten“, in ihren Menschenrechten beeinträchtigt werden oder nicht.
Noch können die oben, auch wenn es – siehe die Debatten um Zustand und Zukunft von CDU und SPD – Auflösungserscheinungen zu geben scheint. Aber das kann sich ändern. Die bereits zitierten Mitte-Studien belegen nicht, dass es mehr Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild gibt, sondern, dass einzelne Aussagen, die zu einem solchen Weltbild gehören, von immer mehr Menschen geteilt werden. Ein schleichendes Gift.
Cornelia Koppetsch: „Sollten sich die neuen Gemeinschaften unter dem Einfluss von politischen Unternehmern in Zornkollektive verwandeln, könnten Kränkung, Wut und Hass eine Gefährdung für das Zivilisationsniveau von Gesellschaften im Ganzen darstellen.“
Und da die Wütenden und Zornigen inzwischen nicht nur in einem Land ohne Einfluss, sondern in vielen Ländern, davon einigen mit viel Einfluss auf die internationalen Entwicklungen, ihre Anhänger*innen zu finden scheinen, sollten wir eine Warnung ernstnehmen, die Helmut Schäfer, Edmund Stoiber, Horst Teltschik, Günter Verheugen und Antje Vollmer am 12. April 2018 in der FAZ formulierten. Sie warnten vor der „Gefahr eines dritten und letzten Weltkrieges“.
Eine ihrer Hauptsorgen: außenpolitische Ignoranz in Deutschland und der Europäischen Union. Ihre Forderung: „Wir sollten eine Politik entwickeln, die sich ausschließlich am internationalen Recht und an der gemeinsamen Verantwortung für das Schicksal der gesamten Menschheit ausrichtet. Deutschland und die Europäische Union sollten dazu die Initiative ergreifen. Die Idee einer gesamteuropäischen Partnerschaft ist zwar nicht neu, aber wartet auf Verwirklichung.“ Anders gesagt: Was fehlt, ist eine Art liberaler Internationalismus, der die diversen nationalen Illiberalismen einzuhegen und erfolgreich zu bekämpfen versteht.
Norbert Reichel, Bonn
(Erstveröffentlichung im November 2019, Internetlinks wurden am 17. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)
P.S.: Alexander Cammann berichtet unter dem Titel „Schwebendes Verfahren“ in der ZEIT vom 14. November 2019 von Plagiatsvorwürfen gegen Cornelia Koppetsch, die die Jury des Bayerischen Buchpreises erhoben hatte. Die Autorin „räumte nach den Vorwürfen ‚handwerkliche Fehler‘ an unterschiedlichen Stellen des Buches ein, (…)“. Alexander Cammann stellt im Untertitel seines Artikels die Frage: „Wie schwer wiegen die Plagiatsvorwürfe gegen Cornelia Koppetsch und ihr Buch ‚Die Gesellschaft des Zorns‘?“. Ich kann und will die Berechtigung dieser Vorwürfe nicht bewerten. Die Relevanz der Thesen und Aussagen des Buches ist davon jedoch unberührt. Ich hoffe, dass ich Thesen und Aussagen hier sachgerecht dargestellt habe, sodass niemand sich mit falschen Federn schmückt. Ggf. bitte ich meine Leser*innen um Hinweise, wo Korrekturen, d.h. Hinweise auf andere Autor*innen, in meinem Beitrag angezeigt sind.