Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,
in der Aprilausgabe 2022 des Demokratischen Salons finden Sie zwei Essays mit neuen Studien und Veröffentlichungen zum Antisemitismus, einen Essay von Beate Blatz über ihre Reise zu den Tuareg, ein Gespräch mit dem Leiter des Kölner Migrationsmuseums DOMiD sowie die Rezension eines Buches zur Arbeitssituation von Pflegekräften.
Sie finden wie üblich Hinweise auf Veranstaltungen zu unterschiedlichen Themen, darunter auch mehrere Veranstaltungen unter Mitwirkung des Demokratischen Salons. Wer weitere Veranstaltungen sucht, auch zu Themen rund um Russland und die Ukraine, schaue auf die Seite der Bundesstiftung Aufarbeitung. Die meisten Veranstaltungen finden digital statt und können zu einem späteren Zeitpunkt im youtube-Kanal der Stiftung verfolgt werden. Meine weiteren Leseempfehlungen bieten eine subjektive und vielleicht auch zufällige Auswahl von Hintergrundinformationen zum Thema Russland und Ukraine, auch aus den Bereichen Kultur und Wirtschaft.
Das Editorial:
„Man muss Diktatoren wie Putin oder den Mullahs im Iran immer auch glauben, was sie sagen. Sie kündigen ihre Verbrechen ja stets unverblümt an. In unserer manchmal gutgläubigen Welt ist das Gespür dafür leider verloren gegangen.“ (Daniel Donskoy im Gespräch mit Ralf Balke, in Jüdische Allgemeine 31. März 2022)
In den US-amerikanischen Medien dominieren drei Verschwörungszerzählungen, die Erzählung der Corona-Leugner, hinter Impfkampagnen stecke „The Great Reset“, die Erzählung von „The Big Lie“ zur angeblich Trump gestohlenen Wahl und seit wenigen Wochen die Erzählung vom gedemütigten russischen Volk, wie sie Tucker Carlson und die Fox News verbreiten. Wir dürfen davon ausgehen, dass mehr als die Hälfte der Anhänger*innen der „Grand Old Party“ diesen drei Erzählungen Glauben schenken. Umso bedrohlicher ist die Nachricht, dass Donald J. Trump 2025 wieder in das Weiße Haus einziehen könnte. Es sind noch etwa 30 Monate bis zur nächsten Präsidentschaftswahl, aber beruhigen kann das nicht. Und das Ergebnis der französischen Präsidentschaftswahl vom 24. April 2022 ist noch offen, auch wenn wir das Ergebnis der ersten Runde vom 10. April 2022 vorsichtig als Entwarnung verstehen dürften.
Wir erleben immer wieder, wie erfolgreich Lügen wirken. Dies gelang George W. Bush und seinem Freund Tony Blair mit der Behauptung, es gäbe Massenvernichtungswaffen im Irak, es gelang Boris Johnson mit dem Brexit, es gelang Viktor Orbán am 3. April 2022 mit der Lüge, die Opposition wolle Sozialleistungen streichen und militärisch in den Krieg der Ukraine gegen Russland eingreifen. Wer die Medien beherrscht, hat es leicht, Lügen unwidersprochen zu verbreiten. Über die diversen Lügen Putins muss ich gar nicht reden. Er beherrscht das gesamte Arsenal: die Gegner werden als Nazis, Faschisten beschimpft, ihnen wird Völkermord unterstellt, es soll Forschungsstätten zur Herstellung von biologischen und chemischen Waffen geben, alles natürlich auf Befehl der USA. Und wer sich gegen den Krieg ausspricht, wird als Agent der USA und ihres Vasallen EU bezeichnet oder als Agent einer Lobby von Homosexuellen. Gayropa ist schon längere Zeit ein Kampfbegriff der russischen Nomenklatura. Memorial wurde ebenso wie andere zivilgesellschaftliche Akteure zerschlagen, ausländische Stiftungen wurden des Landes verwiesen. Putin ist es binnen kurzer Zeit gelungen, ein autoritäres System in ein totalitäres System zu verwandeln. Viele Menschen jubeln ihm und seinem Krieg in diversen inszenierten Veranstaltungen zu. Symbol ist ein Zeichen, das dem letzten Buchstaben des lateinischen Alphabets ähnelt.
Hilft eine ehrliche Aufarbeitung der Geschichte gegen solche Lügen und Inszenierungen? Vielleicht, aber man muss eine solche Aufarbeitung auch zulassen. Und das ist mitunter selbst in freiheitlich-demokratischen Staaten schwierig. Ein drastisches Beispiel für Realitätsverweigerung bot die Bundesregierung im Jahr 2000, als das damals von Hans-Henning Schröder geleitete Ostwissenschaftliche Institut in Köln aufgelöst wurde. Bundeskanzler war Gerhard Schröder, der Putin als „lupenreinen Demokraten“ schätzte. Hans-Henning Schröder sagte in einem Gespräch mit Ludwig Greven in der Aprilausgabe der Zeitung „Politik & Kultur: „2000 wurde das von mir geleitete Ostwissenschaftliche Institut aufgelöst. Und es gab von außen keine Nachfrage. Politiker sagten mir: Jetzt ist dort Demokratie, da brauchen wir euch nicht mehr, wir fragen die jetzt selbst.“
Eine andere Strategie gegen ehrliche Aufarbeitung ist die Verschleierung. Heather A. Conley schrieb in ihrer Analyse „The Kremlin Playbook“, dass die Russen überrascht gewesen sein müssen, wie leicht der Westen zu kaufen war. Im Gespräch mit Thomas Kirchner in der Süddeutschen Zeitung sagte sie: „Es funktionierte so: Wenn Russland eine größere Investition in einem Land tätigte, brauchte es die Zustimmung der dortigen Regierung, es ging meist um hohe Staatseinnahmen. Die Politik kümmerte sich dann darum sicherzustellen, dass niemand das Projekt stoppen konnte. Je stärker der politische Einfluss wurde, umso größer wurden die Investitionen, und die Abhängigkeit wuchs.“ Als Beispiele nennt sie Ungarn, Bulgarien, Montenegro und die Fähigkeit der russischen Behörden, über Umwege, beispielsweise über die Niederlande, die wahre Herkunft der Investitionen zu verschleiern. Die lokale Ebene profitierte und war leicht zu beeindrucken. So lief es bei Nordstream und die mecklenburgisch-vorpommersche Landesregierung freute sich. Ein drastisches Beispiel ist „Londongrad“, wo Boris Johnson russische Oligarchen freudig begrüßte, einem von ihnen sogar einen Sitz im Oberhaus verschaffte.
Zum Verschleiern gehören immer zwei, jemand, der verschleiert, und jemand der nicht hinschaut. Ein wichtiger Akteur war Frank-Walter Steinmeier. Der Tagesspiegel erinnerte am 4. April 2022 an eine Rede, die er am 15. August 2016 in Jekaterinburg gehalten hatte. Er sagte: „(…) wenn endlich eine Zeit des Wiederaufbaus in Syrien kommt, dann sollten besonders Deutschland und Russland Hand in Hand arbeiten – in Palmyra, in Aleppo oder in Homs, um nur diese Beispiele zu nennen. Ich bin überzeugt: Wenn wir gemeinsam Verantwortung für das kulturelle Erbe der Menschheit in dieser Krisenregion übernehmen, dann leisten wir zugleich einen Beitrag für eine kulturelle Annäherung zwischen unseren Ländern. Von deutscher Seite haben wir in dem Projekt „Stunde Null“ unsere Kräfte hierfür gebündelt und ich würde mich sehr freuen, wenn Russland das Angebot der Zusammenarbeit annehmen würde!“ War das naiv oder grob fahrlässig? Die Bilder von Steinmeyer und Sergej Lawrow, die die ZEIT am 5. April 2022 veröffentlichte, lassen vermuten, dass jedes Problembewusstsein verdrängt wurde.
Manche manchen sich jetzt einen schlanken Fuß, beispielsweise Friedrich Merz, der in der ZEIT vom 30. März 2022 im besserwisserischen Ton des Hochbegabten mit Entscheidungen von Angela Merkel abrechnete, mit der Abschaltung der Atomkraftwerke, der Verweigerung der NATO-Mitgliedschaft von Georgien und der Ukraine. Was hilft es jedoch, mit dem Finger auf andere zu zeigen? Vier Finger der Hand zeigen immer auf einen selbst zurück. Lenz Jacobsen schrieb in dem bereits zitierten ZEIT-Artikel vom 5. April 2022: „Denn hemmungslos empören kann sich über die Kuschelei der beiden nur, wer schon damals eine andere Haltung hatte als der Außenminister. Wer es damals schon besser wusste. Bei allen anderen fällt ein Teil der Empörung auf sie selbst zurück.“
Manuela Schwesig sagte am 31. März 2022: „Wie viele andere Menschen auch, hätte ich mir nicht vorstellen können, dass Putin die Ukraine angreift.“ Wenig später äußerte sich Frank-Walter Steinmeyer ähnlich. Sehr spät, und ohne die Hartnäckigkeit des ukrainischen Botschafters in Berlin, Andrij Melnyk, hätte er möglicherweise weiterhin geschwiegen. Aber was geschah in Grosny, in Georgien, mit der Krim, mit dem Donbass? Was war mit den Morden an Boris Nemzow, Boris Beresowski, Alexander Litvinenko, Sergej Magnitski, Natalja Estemirowa, Anna Politkowskaja, Juri Schtschekotschichin und etlichen weiteren Putin-Kritikern, den Anschlägen auf Sergej und Julia Skripal, Aleksej Nawalny, Pjotr Wersilow und Dmitrij Bykow (eine Aufstellung des Tagesspiegel)?
Die Art und Weise, in der manche Politiker*innen sich heute schwer tun zuzugeben, dass sie Putin falsch eingeschätzt haben, weil sie nicht wahrhaben wollten, dass der Teufel auch mal durch andere Türen kommen könnte als in den Zeiten des Kalten Krieges, gäbe genügend Anlass dazu. Malte Lehming am 4. April 2022 im Tagesspiegel: „Kaum ein Haupt bleibt ohne Asche“. Schnelles Vergessen scheint zu regieren, zwei Jahre nach der Annexion der Krim war es beim damaligen Bundesaußenminister schon so weit. Fast 70 Prozent der Deutschen glaubten noch im November 2019, dass von Putin keinerlei Gefahr ausgehe. Wir erleben eine russische Armee, deren Ziel zu sein scheint, alle Menschen, die sie nicht als Befreier bejubeln, aus der Ukraine zu vertreiben und diejenigen, die sich nicht vertreiben lassen, zu vernichten. Das war in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien nicht anders.
Malte Lehming fordert Ehrlichkeit vor der Geschichte: „Aus seiner eigenen Vergangenheit sollte Deutschland drei Lehren gezogen haben: Nie wieder Angriffskriege. Nie wieder Massenmorde. Nie wieder Tyrannei. Spätestens seit 2014 hätte das Verhältnis zu Russland durch diese Lehren geprägt sein müssen. War es aber nicht. Der Wille zum Wegschauen war stärker als die Verpflichtung zum Hinschauen. Illusionen über Putin kann sich nun keiner mehr machen. Warum der Realitätsschock so lange gedauert hat, muss dringend geklärt werden.“ Dazu gehört auch, dass die Mittel der deutschen Friedensbewegung nicht geeignet sind, Putins Truppen Einhalt zu gebieten. Diejenigen, die in den kommenden Ostermärschen wie in den vergangenen Jahren Schilder mit sich führen, in denen der Austritt aus der NATO gefordert wird, sollten vielleicht einmal darüber nachdenken, was ein solcher Schritt tatsächlich bedeutet, nicht nur für Deutschland, für Polen, für die baltischen Staaten, für alle, die von russischen Waffen bedroht sind. Robert Habeck hatte Recht, als er schon vor längerer Zeit Waffenlieferungen an die Ukraine forderte. Möglicherweise wäre das ein deutliches Zeichen gewesen, das Putin verstanden hätte.
Und jetzt? Sabine Brandes kommentierte in der Jüdischen Allgemeinen vom 24.3.2023 die Rede von Volodymyr Selenskyj vor der Knesset: „Es ist sicher eine der größten Ängste, die Selenskyj hat: dass die Welt gleichgültig wird. Vielleicht nicht heute oder morgen. Aber werden wir in einem Monat noch weinen, wenn wir die Bilder der verzweifelten Menschensehen? Werden wir in einem Jahr noch spenden, um das größte Leid zu lindern? Werden wir unsere Länder und Häuser öffnen, wenn weitere Millionen von Geflüchteten ankommen? Oder werden wir zur Tagesordnung übergehen und die Menschen in der Ukraine ihrem Schicksal überlassen“ Ich erlaube mir zu ergänzen: wir tun weder Ukraine noch Russland keinen Gefallen, wenn wir pauschal alle Russ*innen in Kollektivhaftung nehmen. Was ist mit all den mutigen russischen Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und Intellektuellen? Wollen wir wirklich eine Kollektivschulddebatte? Wir sollten uns nicht nur mit der Ukraine solidarisch erklären, sondern auch mit allen Russ*innen, die sich gegen das totalitäre Regime des russischen Staatspräsidenten wenden. Der Überfall Putins bedroht alle Demokrat*innen, unabhängig von der Nationalität.
Zurück zum Anfang dieses Editorials. Was mag geschehen, wenn Donald J. Trump oder ein gleichgesinnter Kandidat die US-Präsidentschaftswahl 2024 gewinnt? Meines Erachtens zeigt diese Aussicht, vor welcher Aufgabe die Europäer wirklich stehen. Zur Vorstellungskraft von Politiker*innen sollte auch die Fähigkeit gehören, sich auch auf Worst Case Szenarien vorzubereiten. Wirtschaftliche Unabhängigkeit von russischen Rohstoffen ist die eine Seite, militärische Unabhängigkeit die andere. Wirtschaftliche Macht alleine wird nicht ausreichen, wenn in den USA ein unberechenbarer und autoritären Versuchungen zugeneigter Präsident regiert. Es ist an der Zeit, dass Europa außen- und sicherheitspolitisch autark wird. Das stellt die NATO nicht in Frage, sondern stärkt sie.
Solange Deutsche und andere Europäer*innen weiterhin ängstlich und wankelmütig, mitunter geradezu weinerlich auf sich fixiert agieren, weil Benzin- und Lebensmittelpreise steigen, bleiben sie erpressbar. Das weiß Putin. Er weiß auch, wovor wir uns fürchten. Doch Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Putin und die Rechtspopulist*innen dieser Welt wissen, wie sie sich eine solche Stimmung zunutze machen. Auch solche Szenarien müssen wir bedenken: sonst schlägt das Pendel schnell wieder in die andere Richtung aus, die Ukraine verschwindet aus öffentlichem Bewusstsein und Berichterstattung, die Klimakrise scheint dies ohnehin schon zu tun. Die Art und Weise, in der zurzeit manche Politiker*innen versuchen, die berechtigten Hinweise von Andrij Melnyk abzumoderieren, sind dann nur der Anfang einer Entwicklung. Schaden nehmen werden die freiheitlichen Demokratien des Westens.
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Rubriken Kultur und Migration: In dem Essay „Konkrete Vielfalt Migration“ habe ich das Buch „Das Gedächtnis der Migrationsgesellschaft“ von Manuel Gogos über die Vorgeschichte von DOMiD vorgestellt. Jetzt habe ich mit dem Leiter von DOMiD, Robert Fuchs, gesprochen. Der Titel der Dokumentation unserer Begegnung „DOMiD – ein Museum neuen Typs“ geht auf einen Kommentar der künstlerischen Direktorin der Bundeskulturstiftung, Hortensia Völckers, zurück. Robert Fuchs hat über das Heiratsverhalten von deutschen Auswanderern im 19. Jahrhundert in den USA promoviert und stellt Parallelen zum Verhalten von Migrant*innen in Deutschland fest. In Anlehnung an Naika Foroutan spricht er von verschiedenen „Heimigkeiten“, die sich mit der Zeit ergaben. „Migration“ gibt es ebenso wie „Heimat“ oder „Kultur“ nur im Plural. Ziel des Museums ist es, gleichzeitig Erinnerungs- und Begegnungsort zu werden, in dem Menschen ihre Geschichte erzählen, sodass sich eine gemeinsame Erzählung von Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten entwickeln kann. Robert Fuchs beschreibt die vielfältige Unterstützung des Projekts durch staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure, darunter verschiedene Stiftungen und nicht zuletzt der Kölner Integrationsrat mit seinem Vorsitzenden Tayfun Keltek. Das komplette Gespräch finden Sie hier.
- Rubrik Weltweite Entwicklungen: Meine Gastautorin Beate Blatz hat schon mehrere Reisen in Regionen unternommen, die in der öffentlichen Berichterstattung wenig bekannt sind. In der südlichen Sahara leben die Tuareg. Titel ihres Essays: „Wer sind die Blauen Männer?“ Beate Blatz beantwortet diese Frage und berichtet von einer Reise vom Februar 2022. Sie bietet ein differenziertes Bild einer Gruppe von Menschen, die eine eigene Sprache, eine eigene Kultur, eine eigene Geschichte haben, die aber von mehreren Seiten missachtet, diskriminiert, ausgeschlossen werden. Auf der einen Seite wirkte die Kolonialisierung durch die üblichen europäischen Verdächtigen, auf der anderen Seite sorgten die Konflikte zwischen den Mehrheitsgesellschaften der in der post-kolonialen Zeit entstandenen Staaten und den Tuareg für Zündstoff. Die Tuareg hatten immer wieder den Ruf der Rebellen, die sie oft genug auch waren. Letztlich sehen wir in Europa die Tuareg und die jeweiligen politischen Verhältnisse aus europäischer Perspektive. Der von Edward Saïd diagnostizierte „Orientalismus“ wirkt nach wie vor. Eine Art Nationalheld ist Mano Dayak, dessen Autobiographie Beate Blatz vorstellt. Auch die Musik der „Blauen Männer“ lohnt sich zu hören, Hinweise und Links im Text. Den vollständigen Reisebericht finden Sie hier.
- Rubrik Antisemitismus und Shoah: Die Frage ist berechtigt, warum es so viele Forschungsarbeiten zum Antisemitismus gibt, deren Wirkung im Kampf gegen Antisemitismus jedoch viel zu oft ausbleibt. In dem Essay „Strategiewechsel – Warum wir anders über Antisemitismus sprechen sollten“ stelle ich Zugänge vor, die vielleicht helfen könnten, dies zu ändern oder sich zumindest dessen bewusst zu werden, dass und warum die jüdische Perspektive viel zu oft ignoriert wird. Wir brauchen einen Strategiewechsel, wenn wir den Kampf gegen den Antisemitismus gewinnen wollen, in der Sprache und in unseren Handlungen. In meinem Essay stelle ich mehrere Ansätze für einen solchen Strategiewechsel vor. Lesenswert sind beispielsweise Judith Coffeys und Vivien Laumanns „Gojnormativität“ und David Nirenbergs „Antijudaismus“. Beide Bücher befassen sich mit Metaphern und Framing des Antisemitismus, durchaus auch in Analogie zur Analyse von Krankheit als Metapher bei Susan Sontag oder zu Ansätzen der Queer-Theorie, die als Methode verstanden Perspektiv- und Strategiewechsel ermöglichen. Dies hat auch Konsequenzen für die deutsche Erinnerungskultur. Ich habe den Essay mit Texten aus dem Buch „Frag uns doch!“ von Marina Weisband und Eliyah Havemann Den vollständigen Essay finden Sie hier.
- Rubrik Antisemitismus: Antisemitismus ist nicht nur – wie August Bebel formulierte – „der Sozialismus der dummen Kerls“. Er ist auch unter Intellektuellen, unter Wissenschaftler*innen, unter Lehrkräften verbreitet, oft auch ohne dass diese sich darüber im Klaren sind, was sie da eigentlich denken. In meinem Essay „Selbstverschuldete Hilflosigkeit – Zum zweifelnden Umgang mit Antisemitismus bei demokratischen Eliten“ stelle ich Forschungsarbeiten von Christof Wolf und Michael Höttemann vor, die Studierende und Politiklehrkräfte befragt haben. Zur Einführung habe ich eine Typologie vorliegender Studien versucht. Erschreckend sind Unwissen und Hilflosigkeit der Befragten, sodass sich die Frage stellt, ob wir nicht grundlegende Veränderungen in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften sowie in den Studienangeboten diverser Fächer an den Universitäten brauchen. Die Frage ist rhetorisch. Zurzeit hängen Quantität und Qualität viel zu sehr von der persönlichen Initiative von Lehrkräften in Schulen und Hochschulen ab. In Schulen herrscht „curriculare Obdachlosigkeit“, die Erklärungen von KMK und Zentralrat der Juden werden weitgehend ignoriert, antisemitisch konnotierte Umwegkommunikation über Israel ist an der Tagesordnung. Auch diesen Essay mit Argumenten von Marina Weisband und Eliyah Havemann Den vollständigen Essay finden Sie hier.
- Rubriken Pandemie und Treibhäuser: Der deutsche Pflegenotstand ist nicht erst in der Pandemie entstanden. Es gab ihn schon lange, doch die Pandemie machte ihn sichtbar. Die Pflegekräfte wurden beklatscht, aber eine nachhaltige und spürbare Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen blieb aus. Ein Ansatz zur Erklärung ist der „Care-Feminismus“, aber jedoch eben nur ein Ansatz unter mehreren. Richtig interessant wird eine Analyse des „Care-Feminismus“ in der Verbindung mit Klassismus. Frédéric Valin hat für sein im Verbrecher Verlag erschienenes Buch „Pflegeprotokolle“ professionelle Pflegekräfte befragt. Kritisch zu bewerten sind nicht nur die Arbeitsbedingungen, sondern auch die mangelnde gewerkschaftliche Vertretung, die auch durch die Zersplitterung der Szene der Träger bedingt ist. Ich habe das Buch unter dem Titel „Who cares?“ Die vollständige Rezension finden Sie hier.
Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
- Kollateralschäden in der Willkommenskultur? Dies ist der Titel einer digitalen Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen am April, 18 – 20 Uhr, die ich als Moderator unterstütze und an deren Konzeption ich mitgewirkt habe. Meine Gesprächspartner*innen sind Sergej Prokopkin, Neue Deutsche Medienmacher, Anastasia A. Tikhomirova, Journalistin, Moderatorin und Redakteurin u.a. für taz, ZEIT-online und Jungle World sowie Olga Rosow, Leiterin der Sozialabteilung der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf. Thema sind – so der Untertitel – „Fatale Nebenwirkungen des Krieges um die Ukraine“, Übergriffe auf russischstämmige Menschen in Deutschland, eine Art Sippenhaft für russische Künstler*innen, Wissenschaftler*innen oder Studierende. Zu klären wäre auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Geflüchteten aus Ukraine und Russland zu den Geflüchteten aus außereuropäischen Ländern, von denen viele schon seit Jahren auf eine Klärung ihres Status warten. Das Programm finden Sie hier, den Link zu Ihrer Teilnahme unter dieser Adresse. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Die Landeszentrale bietet auf ihrer Internetseite weiteres Hintergrundmaterial.
- Ökologische Kinderrechte und BNE: Am April 2022 moderiere ich ein Podiumsgespräch im Rahmen einer gemeinsamen Veranstaltung von UNICEF, Education Y, dem Netzwerk Kinderrechtsbildung, der DASA Arbeitswelt Ausstellung und dem Ministerium für Schule und Bildung NRW. Es geht um die Frage, wie sich die in der UN-Kinderrechtskonvention verbrieften Kinderrechte und die Sustainable Development Goals (SDG) zueinander verhalten. Vorgestellt werden Dokumente wie diverse KMK-Beschlüsse, die nordrhein-westfälische Leitlinie BNE und Praxisbeispiele, u.a. von Germanwatch e.V., dem Kindermuseum: Mondo Mio!, dem DASA: Kid-Influencer, dem World Future Council und der Libellen Grundschule Dortmund. Die Veranstaltung findet zwischen 9.00 Uhr und 16 Uhr live in der DASA Arbeitswelt Ausstellung in Dortmund statt. Das detaillierte Programm finden Sie hier, zur Anmeldung geht es hier.
- Kinderrechte und Ganztagsbildung: Am Mai 2022, 19 – 21 Uhr, bieten das Netzwerk Kinderrechte, UNICEF, Education Y und der Demokratische Salon: die digitale Informationsveranstaltung „Kinderrechte in der Ganztagsbildung – Wie Kinder ihre OGS gestalten – neue Chancen mit dem Rechtsanspruch“ an. Sie schließt an die erfolgreiche Veranstaltung zum Rechtsanspruch vom 2. November 2021 an. Thema ist die Beteiligung der Kinder an Konzeption und Umsetzung im Sinne der Forderung des 15. Kinder- und Jugendberichts nach einer kinder- und jugendorientierten Ganztagsbildung. Zugesagt haben Ulrich Deinet, Hochschule Düsseldorf, Lisa Stroetmann, Koordinatorin des Netzwerks der Kinderrechteschulen in Nordrhein-Westfalen, Gerd Landsberg, geschäftsführendes Präsidiumsmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Anne Lütkes, Vorsitzende des Vereins Kinderfreundliche Kommune und Boris Preuß, Abteilungsdirektor in der Bezirksregierung Köln. Vorgestellt werden Praxisbeispiele. Zu Programm und Anmeldung geht es hier. Ergänzend empfehle ich einen Blick auf die Seite des Instituts für Soziale Arbeit und dessen Projekt „Auf dem Weg zur jugendorientierten Ganztagsbildung“.
Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:
- Buchpremiere „Offene Wunden Osteuropas“: Das Buch „Offene Wunden Osteuropas – Reise zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ von Franziska Davies und Katja Makhotina erscheint am 28. April 2022, dem diesjährigen Yom HaShoah (Holocaust Remembrance Day), bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt. Die Buchpremiere findet am April 2022 um 19 Uhr im NS-Dokumentationszentrum München statt. In neun Kapiteln werden Erinnerungsorte und sich erinnernde Menschen vorgestellt, von denen wir in Deutschland viel zu wenig wissen (wollen). Anmeldung per e-mail ist erforderlich, Stichwort: „Offene Wunden“. Die Premiere kann auch im livestream verfolgt werden. Wer in Bonn und Umgebung wohnt, kann sich einen weiteren Termin vormerken. Das Buch wird am 4. Juli 2022 in Anwesenheit der Autorinnen im Gustav-Stresemann-Institut (GSI) in einer Veranstaltung von GSI, Verein Wissenskulturen und Demokratischem Salon: vorgestellt. Lesenswert auch ein Text von Franziska Davies im Merkur-Blog mit dem Titel „Deutschland, die Ukraine, Russland und das Erbe des Deutschen Kolonialismus in Osteuropa“.
- Aktionsplan „Neue Chancen für Kinder in Deutschland“: Das digitale Kick-Off des Aktionsplans findet am und 6. Mai 2022 unter Beteiligung von Bundesministerin Anne Spiegel und EU-Kommissar Nicolas Schmit statt. Der Nationale Aktionsplan soll von Armut und sozialer Ausgrenzung bedrohten Kindern und Jugendlichen Zugang und Teilhabe zu Erziehung und Betreuung, Bildung, Gesundheit, Ernährung und Wohnraum garantieren. Grundlage ist die Ratsempfehlung zur Einführung einer Europäischen Garantie für Kinder, die im Juni 2021 einstimmig von den Mitgliedstaaten angenommen wurde. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Wettbewerb „L’Chaim: Schreib zum jüdischen Leben in Deutschland!“: Diesen bundesweiten Wettbewerb haben Kulturstaatsministerin Claudia Roth, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Felix Klein, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland Josef Schuster sowie Olaf Zimmermann als Sprecher der Initiative kulturelle Integration ausgelobt. Der Schreibwettbewerb läuft bis zum Juni 2022. Es stehen Preisgelder in Höhe von 12.500 Euro zur Verfügung, der erste Preis ist mit 5.000 Euro dotiert. Die feierliche Prämierung findet am 6. Oktober 2022 in Berlin statt. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Perspektiven des Religionsunterrichts: Am 24. März 2022 fand in Bonn Bad Godesberg die zweite einer Veranstaltungsreihe der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Bonn und des Vereins für transkulturelle Bildung ANqA e.V zum Thema „Religion im Alltag“ Im Oktober 2021 diskutierten Religionslehrer*innen aus Judentum, Christentum und Islam (in der Reihenfolge ihrer Entstehung genannt), im März Schüler*innen. Ich habe beide Veranstaltungen moderiert. Bei der zweiten Veranstaltung musste der jüdische Schüler leider absagen. Die christliche und die muslimische Schülerin, beide aus Bonn, betonten, dass Ihnen ihre Religion Bedeutung vor allem für ihr eigene Lebensgestaltung gibt. Dafür brächten sie auch gerne ein Stück Disziplin auf, beispielsweise beim Fasten. Religion sei eine Kraftquelle ihres persönlichen Lebens, die sie als befreiend und stärkend erfahren. Es gehe um die Frage, das eigene Leben im Einklang mit Bibel oder Koran zu gestalten. Schwierig werde es, wenn Verständigung nicht möglich oder nicht gewollt wäre. Übereinstimmend erwähnten sie die Nächstenliebe, den Respekt in der Begegnung mit anderen, Ehrlichkeit, ihren Wunsch, niemanden wegen des Glaubens zu diskreditieren. Beide sahen zwischen den drei monotheistischen Religionen keine grundsätzlichen Gegensätze. Jede*r habe eine eigene „Wahrheit. Die Unterschiede lägen nicht im Glauben, sondern in den Ritualen und der Art des Zusammenlebens. Grundwissen über die jeweils andere Religion sei vorhanden, aber Wissen genüge nicht. Beide wünschten sich mehr Begegnung und Austausch mit Jugendlichen (und Erwachsenen) der jeweils anderen beiden Religionen. Schule könnte helfen, auch mit überkonfessionellen Begegnungen im Rahmen des Lehrplans oder mit außerunterrichtlichen Begegnungen. In der Diskussion wurde auch auf möglichen Schüleraustausch mit Israel oder Programme wie „Meet a Jew“ verwiesen. (Für die Unterstützung bei dieser Zusammenfassung danke ich Pfarrer Ernst Ulrich Thomas.)
- Filmpremiere „8×2 Jüdische Perspektiven“: Die Uraufführung des Dokumentarfilms fand am 31. März 2022 im Leo-Baeck-Saal der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf statt. SABRA hat den Film im Rahmen des Festjahres „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“ produziert. Der Film zeigte Begegnungen von jeweils zwei jüdischen Menschen, die miteinander über ihr Leben, ihre Erfahrungen und ihre Auffassung über das Judentum sprechen. Nach der Filmpremiere gab es zwei Gesprächsrunden, eine mit dem Projektteam und zwei Protagonist*innen des Films sowie eine mit Gästen aus der Bildungs- und Kulturszene. Die Kernbotschaften: Tikun Olam ist das gemeinsame Ziel und nur über den Dialog sind Selbst- und Welterkenntnis möglich. Sylvia Löhrmann, die Generalsekretärin des für die Ausgestaltung des Festjahres gegründeten Vereins, verwies auf Martin Buber, der dies bereits formuliert habe. Jede Woche präsentiert SABRA auf der Seite von MALMAD weitere Materialien. Der Film kann ebenso wie einzelne Episoden und Materialien für pädagogische Veranstaltungen bestellt werden.
Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:
- Unbekannte Orte der NS-Gewalt: Die Bonner Historikerin Katja Makhotina hat gemeinsam mit Studierenden unbekannte Orte der NS-Gewalt in Bonn und in der Bonner Umgebung besucht und auf einer Internetseite beschrieben. Titel des Projekts: „Leerstellen – Lehrstätten? Orte der NS-Gewalt in Bonn/Köln – Seminar zur Spurensuche“ Es handelt sich um Orte der Erinnerung an das Schicksal von Kriegsgefangenen, Zwangsarbeiter*innen, sowjetischen Soldat*innen, um Friedhöfe, Klöster, Kriegsgefangenenlager. Ausführliche Informationen zu jedem einzelnen Gedenkort finden Sie hier.
- Zeitzeug*innen: Unter dem Titel „Geschichten, die das Leben schreibt“ stellte Ellen Draxel in der Süddeutschen Zeitung die Münchner „Living Library“ 17 Münchner*innen können „ausgeliehen“ werden. Ziel ist es, Menschen kennenzulernen, die ihre Geschichten erzählen, Geflüchtete aus verschiedenen Regionen, eine Transfrau, eine Aktivistin für Menschenrechte. Ellen Draxel zitiert Lea Sedlmayr, die Initiatorin der „Living Library“: „Über Flüchtlinge beispielsweise redet jeder, nur mit ihnen leider wenige“. Das Projekt wurde vom Kulturzentrum Bellevue di Monaco entwickelt. Den Artikel der Süddeutschen finden Sie hier.
- Kriegsschuld: Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte am 23. März 2022 einen Essay von Waleri Pajuschkin mit dem Titel „Trage ich Mitschuld?“ Der Autor beschreibt die Dilemmata russischer Journalist*innen, Künstler*innen und Intellektueller. „Damit es zum Krieg kommt, schreibt Tolstoi, muss sich der Willen Tausender Menschen summieren mit Tausenden Umständen und Millionen von menschlichen Taten.“ Wird man schuldig, wenn man Steuern zahlt, wenn man mit den Kindern die Freizeit verbringt statt gegen den Krieg zu demonstrieren? Was ist mit den Generälen, was mit den sogenannten einfachen Bürger*innen, was mit den Intellektuellen? Sind die Dilemmata auflösbar? „Mit einem Wort, ich wünsche mir ein internationales Tribunal, denn die Formalisierung der Schuld und eine Bestrafung würden mich endlich befreien von den ständig an mir nagenden Mitleidsgefühlen für Getötete und Flüchtende, von der Scham ihnen gegenüber.“ Den vollständigen Essay finden Sie hier.
- Kulturkrieg: Für die „Weltkunst“ hat Simone Sondermann die ukrainische Künstlerin Dariia Kuzmych Sie sagt: „Das Ganze ist auch ein Kulturkrieg. Für mich ist die Idee einer russischen Avantgarde eine Lüge, darunter sind viele geklaute Namen von Künstlern aus anderen Völkern. Kasimir Malewitsch war ein Pole, der in Kiew geboren wurde, er stammt aus einer ukrainisch-polnischen Familie, das hat mit Russland nichts zu tun. Der hat an meiner Kunstakademie in Kiew unterrichtet, er ist kein Russe. Und solche Fälle gibt es viele.“ In dem sehr bewegenden Gespräch berichtet Dariia Kuzmych vom Leben unter der ständigen Bedrohung durch russisches Militär, durch Raketenangriffe, vom Überleben in unzureichend geschützten U-Bahn-Schächten und Kellern. Sie spricht über ihre künstlerische Arbeit, betont die Notwendigkeit von Routinen, die den Tag strukturieren, wie beispielsweise in ihrem Fall das Nähen, und bittet inständig, auf „Westplaining“ zu verzichten. Das vollständige Interview finden Sie hier.
- Hilfen für den Kulturbereich: Der Deutsche Kulturrat hat Hilfen seiner Mitgliedsorganisationen für ukrainische Künstler*innen gebündelt.
- Schule in der Ukraine: Eine Übersicht über das ukrainische Schulsystem bietet das Deutsche Schulportal.
- Russische Forscher*innen: Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 4. März 2022 über zwei Briefe von russischen Wissenschaftler*innen gegen Putins Krieg. Den ersten Brief unterschrieben 7.400 Menschen (Stand 4.3.2022), den zweiten 350 Mathematiker*innen. Den Bericht des Tagesspiegel finden Sie hier. Auf der Plattform change.org gibt es einen weiteren Brief von russischen Studierenden. Sie schreiben: „In einem Krieg gibt es keine Sieger – nur gebrochene Familien und endlose Schmerzen. Das Thema offen anzusprechen ist das Mindeste, was wir gerade machen können. Schweigen ist das Einverständnis.“
- Geschichtspolitik: Der selbsternannte Staatshistoriker Wladimir Wladimirowitsch dürfte manche seiner Zuhörer*innen beeindrucken. Wer wissen will, was dahinter steckt, sollte sich intensiv mit den historischen Hintergründen befassen. Martin Schulze Wessel, einer der renommierten Osteuropa-Experten, hat dies in einem Interview getan, das auf der Internetseite der LMU München veröffentlicht worden ist. Martin Schulze Wessel sorgt auch dafür, dass unangemessene Vergleiche der aktuellen politischen Lage, beispielsweise zur Friedenspolitik der frühen 1970er Jahre oder zum Zweiten Weltkrieg, aufgelöst werden. Das komplette Interview finden Sie hier.
- Saschas Krieg: Alice Bota veröffentlichte am 15. Februar 2022 eine Reportage über das Leben eines ukrainischen Soldaten, der seit über acht Jahren in der Ostukraine im Einsatz ist, den Tod von Freunden erlebt, und von seiner Frau, die feststellt, dass sich ihr Mann verändert hat, dass sie in ständiger Anspannung lebt. Alice Bota berichtete am 29. März 2022 in einer Veranstaltung der „Freunde der ZEIT“, dass Sascha nach wie vor kämpft, Darina und die Kinder inzwischen in Berlin sind und von ihr unterstützt werden. Die Reportage vom 15. Februar finden Sie hier, das Gespräch der Veranstaltung vom 29. März hier.
- Kriegsverbrechen: Für ihr Buch „Sie kam aus Mariupol“ erhielt Natascha Wodin mehrere Preise, darunter den Preis der Leipziger Buchmesse. Gegenstand des Buches waren das Schicksal ihrer Mutter als Zwangsarbeiterin, ihre eigene Kindheit als „Displaced Person“, der Suizid der Mutter. In ZEIT online veröffentlichte sie am 30. März 2022 den Text „Mein Mariupol“, in dem sie schreibt: „Mir ist, als träfe meine Mutter noch einmal das Äußerste an Leid, als triebe man sie noch einmal in den Tod. Seit Tagen verfolgen mich Bilder aus dem Bericht einer in der Stadt eingeschlossenen Frau, der mich über Umwege erreicht hat. Mir ist, als hätte meine Mutter mir geschrieben: In den Pausen zwischen den Bombardierungen gehe ich auf die Straße… Ich muss meinen Hund ausführen. Er wimmert, zittert, versteckt sich hinter meinen Beinen… Der ganze Hof ist mit mehreren Schichten Asche, Glasscherben, Plastik, Metallsplittern bedeckt… Gegenüber brennt ein Treppenhaus. Die Flammen haben fünf Stockwerke gefressen und kauen langsam am sechsten. In einem Zimmer brennt ein kleines Feuer, gemütlich wie in einem Kamin…“ Und sie schreibt: „Ich verstehe das Wort Kriegsverbrechen nicht. Gibt es einen Krieg ohne Verbrechen?“ Den vollständigen Text finden Sie hier.
- Putins Schwäche: In allen Debatten um die Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen gegen Putins Russland wird darüber gestritten, ob und wie diese Maßnahmen wirken und ob es ggf. Nebenwirkungen gibt, die wir vermeiden sollten. Die Journalistin Ulrike Herrmann gab am 15. März 2022 in ihrem Vortrag „Die Ökonomie des Krieges“ einen exzellenten Überblick. Ihre These: Kriege werden durch Wirtschaft entschieden. Sie belegt, dass Russland außer Rohstoffen (Öl und Gas), Grundnahrungsmitteln (Weizen, Kartoffeln, Zwiebeln) und militärischen Gütern keine für den Export geeigneten Waren zu bieten habe. Russland sei autark, aber es sei ein armes Land, das pro Kopf mit 28.000 $ weniger Einkommen habe als beispielsweise Rumänien (28.000 $). Von 630 Mrd. $ im Ausland befinden sich 300 $ im Westen, Mittel, die Russland wegen der Blockaden nicht verwenden könne. Putin könne zur Finanzierung des Krieges nur Rubel drucken, für die es nichts zu kaufen gebe, sodass es zu einer großen Inflation käme. Ein sofortiger Stopp der Energielieferungen von westlicher Seite könne jedoch zu einer Rezession und zu politischen Unruhen im Westen führen. Diese Gefahr dürfe nicht unterschätzt werden. Daher gelte es, einerseits die Abhängigkeit von russischen Rohstoffen zu verringern, ein nur schrittweise möglicher Prozess, sowie auf Energiefresser zu verzichten. In der ihrem Vortrag folgenden Diskussion gibt Ulrike Hermann einen Ausblick auf China, das kein Interesse haben könne, Russland zu unterstützen, da ein Wettrüsten dazu führen würde, dass sich Japan, Vietnam, Südkorea ebenfalls Atomwaffen verschafften. Russland sei kein attraktiver Markt für China, Taiwan wäre durch Putins Vorgehen sicherer als vorher. Den vollständigen Vortrag finden Sie hier.
- Syrien, Probelauf für die Ukraine? Am 15. März 2022 erinnerte Lamya Kaddor MdB in einer Presseerklärung daran, dass der friedliche Aufstand in Syrien vor elf Jahren begann. „Nach mehr als einem Jahrzehnt Krieg, davon sieben Jahren russischer Intervention in Syrien, wiederholt sich das furchtbare Szenario dieser erbarmungslosen Kriegsführung samt erstickender Propaganda vor unseren Augen in der Ukraine.“ Das Regime des Diktators Assad sei wirtschaftlich und politisch bankrott. „Nach Angaben des Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten benötigen mehr als 13 Millionen Menschen humanitäre Hilfe in Syrien, und 90 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut. Mehr als 5,5 Millionen Syrerinnen und Syrer leben weiterhin als Flüchtlinge außerhalb ihres Heimatlandes, (…). 6,7 Millionen sind Flüchtlinge im eigenen Land, davon alleine 2,5 Millionen Kinder. (…) Russland ist laut den Daten des Syrischen Menschenrechtsnetzwerks (SNHR) seit 2015 für fast 7000 getötete syrische Zivilist*innen direkt verantwortlich, davon mehr als 2000 Kinder. Ohne die Rückendeckung durch Russlands Luftwaffe und Militärberater wäre diese Lage nicht denkbar.“ Lamya Kaddor fordert die Ahndung russischer Kriegserbrechen in Syrien und Ukraine.
- Terroranschläge auf israelische Zivilisten: In einer weiteren Presseerklärung vom 30. März 2022 erklärte Lamya Kaddor MdB: „Der dritte Terroranschlag innerhalb einer Woche gegen israelische Zivilisten muss uns aufrütteln. Feige Attacken gegen wehrlose Menschen sind aufs Schärfste zu verurteilen und durch nichts zu rechtfertigen – unabhängig von wem und mit welcher Begründung. Wir trauern mit den Familien der Opfer und sprechen ihnen unser tiefes Mitgefühl aus.“ Sie verwies darauf, dass zwei der Attentäter sich mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) identifizierten, ein weiterer den Al-Aqsa-Brigaden nahestand. „Alle Stimmen aus der arabisch-israelischen Gemeinschaft haben die Anschläge scharf verurteilt und den IS als das gebrandmarkt, was er ist: eine menschenverachtende Terrororganisation. (…) Die Al-Aqsa-Brigaden sind der bewaffnete Arm der Fatah-Bewegung des palästinensischen Präsidenten Mahmoud Abbas, während Abbas selbst den jüngsten Anschlag ebenfalls verurteilte. Doch Abbas muss sich nun deutlich auch politisch von den Al-Aqsa-Brigaden distanzieren.“ Die Terroristen – so Lamya Kaddor wollen jeden Dialog zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn zunichtemachen. Sie verwies darauf, dass am 28. März „ein historischer Gipfel in Israel mit den USA, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Marokko statt(fand), um über eine neue regionale Sicherheitsarchitektur und die Wiederbelebung israelisch-palästinensischer Gespräche zu beraten. (…) Die Mehrheit der Menschen will endlich Frieden – für sich und ihre Familien.“ Ein weiterer Anschlag dieser Art geschah am 7. April 2022.
- Russisches Erdgas: Wer sich ausführlich über die Gasversorgung in Deutschland informieren möchte, greife zu LÜKEX 18 auf der Seite des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe. Alle erforderlichen Informationen, auch zu Notfallplänen und Simulationen, finden Sie hier.
- Digital Service Act gegen Kriegspropaganda als Wirtschaftsfaktor: In einer Presseerklärung verwies Alexandra Geese MdEP am 23.3.2022 darauf, dass Kriegspropaganda inzwischen ein Wirtschaftsfaktor geworden wäre, ähnlich wie auch die Anliegen von COVID-Leugnern und Impfgegner*innen. Da diese bestimmte Netzwerke und Kanäle stark nachfragen, ist Werbung dort höchst attraktiv. Dem soll der Digital Service Act Die damit verbundene Regulierung soll dazu beitragen, dass Medienverbote wie zuletzt beispielsweise gegen Russia Today, die es in einer freiheitlichen Demokratie eigentlich nicht geben sollte, nicht mehr erforderlich sind.
- Demokratiebildung in Deutschland: Einen Überblick über die Entwicklung der Demokratiebildung in Deutschland nach 1989 bieten Klaus Waldmann und Benedikt Widmaier, im Journal für politische Bildung, auch bezogen auf den Kinder- und Jugendbericht. Beispielsweise lesen wir, dass die Bundeszentrale für politische Bildung sich ursprünglich nur an Erwachsene richtete, Jugendliche (noch nicht Kinder!) erst seit 1999 einbezog. Der Überblick endet in einem kleinen Ausblick auf das von der Ampelkoalition angekündigte Demokratiefördergesetz. Andererseits ist der Text auch interessant in den Punkten, die nicht berücksichtigt werden. Es fehlen leider Hinweise auf diverse KMK-Empfehlungen, beispielsweise die 2018 beschlossene Weiterentwicklung der Empfehlung zur Demokratiebildung, oder die Programme zur Entwicklung der Demokratie und zur Stärkung von Kinderrechten in Schulen, vom Förderprogramm „Demokratisch Handeln“ bis zum Kinderrechteprogramm in Nordrhein-Westfalen und der Entwicklung von Kinderfreundlichen Kommunen. Ebenso fehlt leider eine Differenzierung zwischen Ansätzen der Primär- und Sekundärprävention gegen Extremismus, Antisemitismus usw. Ein weiterer Aspekt, der beachtet werden müsste, ist die dringliche Forderung nach institutioneller, zumindest über mehrere Jahre verlässlicher Förderung von Einrichtungen der Demokratiebildung in den Ländern und in den Kommunen, nicht zuletzt aber auch die Frage nach dem Stellenwert historisch-politischer Bildung in den Schulen. Insofern ist diese Zusammenstellung im Journal für politische Bildung symptomatisch für die Wahrnehmungsdefizite vieler Akteur*innen in der außerschulischen Bildung.
- Weltklimabericht 2022: Wenn wir so weitermachen, landen wir bei einer Erderwärmung von 3 Grad. Der Weltklimabericht 2022 wurde am 4. April 2022 der Weltöffentlichkeit (hat die Welt zugeschaut?) präsentiert. Die Präsentation dauert etwa zwei Stunden und ist hier zu sehen.
- Madeleine Albright sel.A.: Sie starb am 23. März 2022 im Alter von 84 Jahren. 2018 erschien im DuMont Buchverlag, Köln, die deutsche Übersetzung ihres im selben Jahr in den USA bei HarperCollins, New York, veröffentlichten Buchs „Faschismus – Eine Warnung“. Das Buch enthält ein Kapitel über Putin, den „Mann des KGB“. „Putin ist nur deshalb kein ausgewachsener Faschist, weil er es nicht nötig hat. Stattdessen studierte er als Minister- und Staatspräsident Stalins Handbuch des totalitären Politikers und unterstrich darin interessante Passagen, um darauf zurückzugreifen, wenn es ihm angebracht erscheint.“ Von Madeleine Albright stammt auch der Satz „Gut gegen Böse ist keine Strategie“, Titel eines Artikels in der Financial Times (zitiert nach Nora Bossong, Vier Versuche über das Böse, in: N.B., Auch morgen – Politische Texte, Berlin, Suhrkamp, 2021). Dieser Text bezog sich auf die Nah- und Mittelost-Strategie der US-Regierung bezog. Gepasst hätte er auch auf manch andere Politiken des Westens in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten. Lesenswert der Nachruf im Tagesspiegel von Juliane Schäuble.
- Falsche Prioritäten nach der Pandemie: Der Berliner Tagesspiegel berichtete am 4. April 2022, dass das Land Berlin den Verfügungsfonds, aus dem Schulen eigenständig Projekte finanzieren konnten, auf Dauer von 15 Mio. EUR auf 2 Mio. EUR pro Jahr gekürzt wird. Die Mittel für Theaterpädagogische Projekte – bisher 323.000 EUR – werden ganz gestrichen. Ich habe bisher keine entsprechende Übersicht gefunden, aber nach aktuellen Hinweisen aus verschiedenen Bundesländern drängt sich der Eindruck auf, dass im Zuge der Pandemie außerunterrichtliche Aktivitäten – vom Besuch des Theaters über die Pflege eines Biotops und Sozialpraktika bis zum Besuch einer Gedenkstätte – ebenso deutlich reduziert wurden wie mit dem Unterricht eng verbundene Aktivitäten an anderen Lernorten. Wie hieß es doch? Lernen mit Kopf, Herz und Hand? „Lebensbildung“ (mit diesem schönen Begriff warb die ehemalige nordrhein-westfälische Schul-, Jugend-, Kultur- und Sportministerin Ute Schäfer) war vorgestern?
(Alle Zugriffe im Internet erfolgten zuletzt zwischen dem 31. März und dem 8. April 2022).
Ich wünsche allen meinen Leser*innen viel Gewinn beim Lesen und Nachdenken! Mein herzlicher Dank gilt all denen, die mich auf die ein oder andere der oben genannten Empfehlungen hingewiesen haben oder mich durch Anregungen, Gespräche, Korrekturen so diskussionsfreudig unterstützen. Ich würde mich freuen, wenn diejenigen, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, dort auf den Demokratischen Salon: hinweisen.
Angesichts der bevorstehenden Festtage wünsche ich Frohe Ostern und Chag Pessach Sameach! Und vielleicht ergibt sich während des Ramadans auch das ein oder andere gemeinsame Fastenbrechen.
In etwa vier Wochen melde ich mich wieder.
Ich grüße Sie / euch alle herzlich.
Ihr / Euer Norbert Reichel
P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitte ich um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.