Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,
In der Augustausgabe 2022 des Demokratischen Salons finden Sie ein Gespräch mit Henning Flad über Christentum und Rechtsextremismus, einen Vortrag von Sandra del Pilar über Wunderkammern der Geschichte, ein Portrait des aus dem Libanon stammenden Universalgelehrten Amin Maalouf, einen Essay über Christine G. Krügers Analyse der Dockarbeiterstreiks gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Hamburg und London, die Empfehlung zur Lektüre des einzigen Buchs der nach über 80 Jahren wiederentdeckten R.B. Bardi sowie eine Rezension des Plädoyers von René Cuperus für eine europäische Realpolitik.
Wie üblich finden Sie unsere Hinweise auf Veranstaltungen, Kurznachrichten und weitere Empfehlungen für Lektüren, Podcasts, Ausstellungen. Im Editorial geht es um aus unserer Sicht unangemessene Reaktionen der Politik auf Klimakrise und Krieg, die man auch als Variante erfolgreichen Klassenkampfs von oben bezeichnen könnte, eine merkwürdige Art politischer Feigheit vor dem Freund. Viele Bürger*innen sind erheblich weiter als die politisch Verantwortlichen zu glauben scheinen und denken durchaus im Sinne J.F. Kennedys darüber nach, was sie für tun könnten, um unsere Demokratie zu schützen und Frieden zu schaffen.
Das Editorial:
Am 13. Mai 1940 hielt Winston Churchill im britischen Unterhaus eine Rede, die unter dem Motto „Blood, Sweat and Tears“ in die Geschichte einging. “I say to the House as I said to ministers who have joined this government, I have nothing to offer but blood, toil, tears, and sweat. We have before us an ordeal of the most grievous kind.”
Am 13. Mai 1940 hatte Hitler noch nicht die Sowjetunion überfallen, die USA waren noch keine Kriegspartei, die Briten mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Am 13. Mai 1940 war ein Sieg über Nazi-Deutschland noch nicht absehbar. Churchills Rede wurde legendär, sie vereinte und motivierte das britische Volk.
Churchills Rede hat ihren Platz in unserem kollektiven Gedächtnis legendärer Reden. In dieser Tradition spricht Wolodymyr Selenskyj seit dem 24. Februar 2022 zu seinen ukrainischen Mitbürger*innen und so spricht er auch vor den Parlamenten der ihn unterstützenden „westlichen“ Welt und anderswo. Churchill sprach von „many, many months of struggle and suffering“. Es wurden etwa fünf Jahre, 60 Monate.
Vielleicht dachte Olaf Scholz bei seiner „Zeitenwende“-Rede vom 27. Februar 2022 an Churchill. Vielleicht. Alle seine folgenden Reden scheinen eher den Zweck zu verfolgen, Mühsal, Tränen, Schweiß und Blut zu vermeiden, zumindest den Eindruck zu vermitteln, dass die Bürger*innen in Deutschland von all diesen Unbilden verschont bleiben. Es begann mit dem Streit um die Lieferungen sogenannter „schwerer Waffen“, den der Bundeskanzler mit dem Hinweis bereicherte, man dürfe nicht Kriegspartei werden und müsse einen Nuklearkrieg verhindern. Im Subtext ließe sich heraushören, dies bedeute, wir müssten das Blut der Ukrainer*innen in Kauf nehmen, um nicht selbst zu bluten.
Robert Habeck und Christian Lindner prophezeiten, dass „wir alle“ angesichts der steigenden Lebensmittel- und Energiepreise „ärmer“ würden, spezifizierten jedoch nicht, wen sie meinten. Christian Lindner kehrte sehr schnell zu seiner bekannten Klientelpflege zurück. Robert Habeck dachte darüber nach, wie wir alle Energie sparen könnten, doch wurde dies in den Medien auf den Vorschlag reduziert, kürzer zu duschen. Olaf Scholz zuckte mit den Schultern („Nö“), aus der SPD thematisierte nur Saskia Esken explizit die Lage der Menschen, die ohnehin kaum über die Runden kommen.
Der FDP-Vorsitzende hingegen knüpfte an einen gescheiterten Vorgänger an, der „spätrömische Dekadenz“ anprangerte. Er sprach von „Gratismentalität“. Und mit der Doppelformel „Geringverdiener und arbeitende Mitte“ stritt er allen Menschen, die aus welchen Gründen auch immer nur wenig Geld verdienten, ab, dass sie überhaupt arbeiteten. Es ist das alte Lied: „Leistungsträger“ ist nur wer viel Geld verdient. Gewinne aus Hedge-Fonds, Boni für scheiternde Manager*innen, „Übergewinne“, Mitnahmeeffekte für Monopolisten – alles leistungsgerecht. „Leistungsträger“ sind offenbar auch diejenigen, die für etwa 10 Prozent der CO2-Ausstöße verantwortlich sind, die „Superreichen“, über deren Lebensstil Berit Dießelkämper am 2. August 2022 im Zeit-Magazin berichtete. Die neuerlichen Vorschläge des Bundesfinanzministers kommentierte Zacharias Zacharakis am 10. August 2022 in der ZEIT: „Für Geringverdienende gibt’s halt nichts.“ Berit Dießelkämper schrieb, es wäre eigentlich Zeit für einen Aufstand. Was wir erleben verdient durchaus den Namen: Klassenkampf von oben.
Waltraud Schwab brachte diese Entwicklungen unter dem Titel „Auf Konsum reduziert“ auf den Punkt (nachzulesen in „Das Parlament“ vom 25. Juli 2022): „Die Schlangen an den Flughafen-Check-Ins sind ein gutes Zeichen. Das Tamtam darüber ist indes das letzte Aufbäumen einer verwöhnten Gesellschaft. Ein Flug nach London – tausend Euro – ein Skandal! Als wäre ein Recht auf billiges Fliegen in Gefahr. Alle fragen: Wie konnte es so weit kommen? Niemand fragt: Warum sollten Flugreisende ein Anrecht darauf haben, keinen klimagerechten Preis zu bezahlen und nicht warten zu müssen? Über die immer länger werdenden Schlangen der Hungrigen vor den Ausgabestellen der Tafeln gibt es keinen Aufschrei. Was ist wichtiger: nicht zu hungern oder nicht fliegen zu können?“
Ich wage zu behaupten, Bürger*innen und Wirtschaft sind weiter als der Bundeskanzler und sein Finanzminister. Irgendwie habe ich den Eindruck, als pflegten manche Politiker*innen eine Art Feigheit vor dem Freund. Die Zahlen für die Einsparung von Energie bewegen sich gegenüber den Vorjahren um einen Wert von etwa 15 Prozent, der öffentliche Personen-Nahverkehr ist überfüllt, aber durch das 9-EURO-Ticket attraktiv. Daran ließe sich anknüpfen. Ich wünsche mir offene Debatten. Weniger Fleischkonsum, damit das für Tierfutter verwendete Korn für Brot verwendet werden kann und so ganz nebenbei Nutztiere mehr Platz haben? Ein Tempolimit, um Benzin zu sparen? CO2-Abgabe für Flugreisende? Umwandlung der vor allem Menschen mit hohen Einkommen entlastenden Pendlerpauschale und des sogenannten „Tankrabatts“ in einen Mobilitätszuschuss für geringer Verdienende? Abschaffung der Steuervorteile für Kerosin (8 Mrd. EUR!)? Abschaffung des Dienstwagenprivilegs (5 Mrd. EUR!)? Übergewinnsteuer? Realistische Preise für Fleischkonsum und Urlaubs-Mobilität? Mir fiele noch einiges ein, zum Beispiel das eigentlich längst überholte Ehegattensplitting, die Einführung spürbarer Steuern auf Vermögen und Finanztransaktionen. Ich halte gesellschaftliche Mehrheiten für all diese Vorschläge für möglich. Wenn man sie nur systematisch diskutierte. Es geht eben ganz einfach um Priorität für eine Entlastung kleiner und mittlerer Einkommen (so auch die „Wirtschaftsweise“ Veronika Grimm) und um Solidaritätsbeweise der Menschen mit hohen und höheren Einkommen.
Lebensmittel und Energie waren und sind im Grunde zu billig, pardon: es heißt ja preisgünstig, preiswert. Wir profitieren in Deutschland ohnehin schon lange Zeit von Lebensmittel- und Energiepreisen, die deutlich unter dem Niveau vergleichbarer Staaten liegen, beispielsweise Frankreich, Schweiz oder Israel. Aber damit das so bleibt, fordern FDP und CSU mehr oder weniger unverhohlen den Wiedereinstieg in die Atomenergie und die Aufhebung angeblich die Landwirtschaft einschränkender Umweltauflagen. Vor allem die Debatte um die Kernkraft ist eine Scheindebatte. Brennstäbe und Uran aus Russland? Stillliegende Atomkraftwerke wegen Kühlwassermangel? Ist Kernkraft denn wirklich billige Energie? Welcher Abgeordnete wäre bereit, in seinem Wahlkreis ein Atomkraftwerk bauen zu lassen? Und wozu? Damit die Heizlüfter, die zurzeit wie vor zwei Jahren Toilettenpapier gehortet werden, auf Hochtouren laufen können?
Die Grünen sind bereit, ihnen völlig gegen den Strich gehenden Übergangslösungen zuzustimmen und dennoch gelingt es der FDP und anderen, sie als Dogmatiker*innen zu brandmarken, selbst aber auf den eigenen Dogmen zu bestehen. Ein Tempolimit auf den Autobahnen? Nicht einmal als befristete Maßnahme wird dies eingeräumt, obwohl die Mehrheit der Bürger*innen es nach den gängigen Umfragen befürwortet. Es könnte sich ja verstetigen. Windräder in Bayern? „Verspargelung der Landschaft“ drohte der ehemalige Bäumestreichler Markus Söder. Im Jahr 2021 hat Bayern acht Windräder genehmigt.
Carolin Emcke bezog sich in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juli 2022 auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz: „Wer auch in Zukunft Freude am Leben haben und seine Autonomie genießen will, muss den Klimaschutz vorantreiben. Für die FDP hätte das eine Einladung sein können, sich von der autodestruktiven Verengung auf jenen entpolitisierten Liberalismus zu verabschieden, der sich allein auf die Verteidigung individueller Rechte (und Privilegien) eines als Mitte verklärten Milieus beschränkt. Das Urteil hätte die FDP nutzen können, um sich das Thema der ökologischen Transformation anzueignen und als ureigenste liberale Agenda mit Leidenschaft und Dringlichkeit voranzutreiben.“
Noch einmal Zacharias Zacharakis: „Es ist das Grundprinzip einer Solidargemeinschaft, hier Ausgleich zu schaffen.“ Ein sozialer und ökologisch grundierter Liberalismus – das wäre doch mal was! Und hier passt vielleicht die Botschaft jener legendären Rede, in der John F. Kennedy ausrief: „Don’t ask what your country can do to you, ask about what you can do for your country.“ NR
Die neuen Texte im Demokratischen Salon:
- Rubriken Treibhäuser und Antisemitismus: Die schier endlose Geschichte von Antijudaismus und Antisemitismus hat ihre Wurzeln nicht zuletzt in christlichen Kontexten. Henning Flad, Projektleiter einer zivilgesellschaftlichen Organisation, der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus (BAG K + R) informierte im Gespräch mit Norbert Reichel über Wurzeln und Erscheinungsformen der neuen Rechten, das Verhältnis der Kirchen zu diversen rechten Parteien und Fraktionen sowie die Bedeutung des Antisemitismus in diesen Kontexten. Titel der Dokumentation: „Die Kirchen und die neue Rechte“. Die Kirchen sind Teil der Lösung und Teil des Problems. Henning Flad spricht die Dilemmata offen an, auch im Kontext der nach wie vor virulenten Enterbungstheologie Er unterscheidet zwischen neuheidnischen vorchristlichen und christlich motivierten Akteuren, nennt fließende Übergänge, beispielsweise in PEGIDA. Thema sind auch die „Baseballschlägerjahre“, Song-Texte im Rechtsrock, Radikalisierungen im Zuge der seit 2015 gewachsenen Fremdenfeindlichkeit, sowie die Verbürgerlichung des Outfits und Auftretens rechtsaffiner Menschen. Henning Flad stellt fest: „Grundsätzlich kann christliche Ethik eine Menge gegen Rechtsextremismus bewirken.“ Die BAG K + R leistet in diesem Sinne Vorbildliches. Die vollständige Dokumentation des Gesprächs finden Sie hier.
Rubriken Kultur und Opfer und Täter*innen: In ihrem Vortrag „In der Wunderkammer der Geschichte – Artificialia gegenwärtiger Vergangenheiten“, eine Vorabpublikation des Bandes einer Tagung vom Mai 2022 in Hilden, schreibt Sandra del Pilar über Entdeckungen in der Sammlung ihres Mannes Thomas sowie im Keller des Wilhelm Morgner Museums in Soest, die sie anregten, genauer hinzuschauen, ganz im Sinne von Andrei Tarkowski, der darauf verwies, dass wir oft nur „schauen“, aber nicht „sehen“. Sie veränderte die entdeckten Zeichnungen und Druckgrafiken, sodass sie aktuelle Ereignisse wiedergeben, so entstehen Bilder der Grenze zwischen den USA und Mexiko oder der Zwillingstürme von New York City. Dort wo vorher ein Fisch lag, liegt jetzt eine Waffe. Im Straßburger Kaiserpalast liegt der Kopf Lenins, der in der Spandauer Zitadelle aufbewahrt wird. Die Künstlerin wird mit ihrem Zeichenstift zur Bilderstürmerin, sie entdeckt Parallelen des Portraits eines Mädchens in einer Menzelzeichnung mit Greta Thunberg, entgiftet eine im Wilhelm Morgner Museum in Soest lagernde Büste Adolf Hitlers. Ihr Anliegen: „Geschichte soll sich, ebenso wie der Kulturbegriff als etwas Prozesshaftes kenntlich machen.“ Das Elend sogenannter kultureller Aneignung löst sich in der Konfrontation von Original und Bearbeitung auf. Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
- Rubrik Kultur: In ihrem Text „Chimären der Gegenwart“ wirbt Beate Blatz für die Lektüre einer Neu-Entdeckung. Es handelt sich um das Buch „Der Kaiser / die Weisen und der Tod“ von B. Bardi, die 1878 als Rachel Berdach in Budapest geboren wurde. Es ist ihr einziges Buch, das lange als verschollen gab. Sie ist eine Zeitgenossin von Sigmund Freud, der seinerzeit – beeindruckt von dem „geheimnisvoll-schönen Buch“ – ein Vorwort für die zweite Auflage schrieb. Handelnde – oder besser miteinander konversierende Personen – sind der Stauferkaiser Friedrich II., Jacob Charif Ben Aron, Arzt und Rabbiner, die namentlich nicht genannten Bischöfe von Mainz und Augsburg, der Legat Roms in Sizilien, der Sultan El Kamil und schließlich Abu Sina, auch Avicenna genannt. Sie lebten nicht in derselben Zeit, aber durch ihre Gespräche erleben wir auch heute jederzeit aktuelle und erhellende Gedanken zur Theologie, zum Verhältnis von Judentum, Christentum und Islam, zur gegenseitigen Sicht auf „Okzident“ und „Orient“, sofern diese Begriffe überhaupt taugen, um die Durchdringung dieser Welten zu beschreiben. Die vollständige Rezension lesen Sie hier.
- Rubrik Weltweite Entwicklungen: Wird Europa bedroht, fordern aufgeregte Politiker*innen und Intellektuelle mehr Europa. Dies erinnert an den Streit um die Formel der „Ever closer union“ in den Europäischen Verträgen, die David Cameron streichen wollte und deren Streichung möglicherweise den Brexit verhindert hätte. Doch dies ist Spekulation. Der niederländische Wissenschaftler und Publizist René Cuperus versucht in seinem Buch „7 Mythen über Europa“ eine „Europäische Realpolitik“ zu beschreiben, die den Streit um mehr oder weniger Europa vielleicht auflösen könnte. Ist Europa – so fragt René Cuperus – als eine Vergrößerung Deutschlands mit seinem Föderalismus denkbar? Eher nicht, vielleicht doch eher als eine Vergrößerung Belgiens. Europa ist „ein hybrides Projekt von Konföderation und Föderation“, in dem offen bleibt, ob sich die Bürger*innen „miteinander verbunden“ fühlen. Und Deutschland muss seine Rolle als wirtschaftlich stärkster Staat annehmen und darf sich nicht in die Rolle einer größeren Schweiz hineinträumen. Das ist – in den Worten von Timothy Garton Ash – „the new German question“. „Wirtschaft, Geopolitik und Sicherheit“ müssen zusammengedacht werden, damit Europa nicht „verzwergt“. „Stark nach außen, sanft nach innen“ – das ist der Kern der „Realpolitik“, die René Cuperus vorschwebt, mit der autoritäre Versuchungen abgewendet werden könnten. Die vollständige Rezension von Norbert Reichel lesen Sie hier.
- Rubriken Levantinische Aussichten und Migration: Was wissen wir über den Libanon, was wissen wir über die Levante? Beate Blatz stellt in ihrem Essay „Die Reisen des Herrn Maalouf“ den im Libanon geborenen und in Frankreich lebenden ausgesprochen vielseitigen Autor Amin Maalouf vor, inzwischen Mitglied der Académie française. Im Untertitel bezeichnet sie ihn als „Schriftsteller, Journalist, Librettist, Analytiker, Visionär“. Leider gibt es nicht viele deutsche Übersetzungen, aber neben den französischen Originalen einige englische und sogar türkische und spanische. Amin Maalouf bildet in seinen Büchern, die als Roman wie als Essay gelesen werden können, die vielen Verbindungen zwischen den Identitäten der Menschen im Festlandeuropa, in der Levante, rund um das Mittelmeer als Kulturräume ab. Er portraitiert Kirchenväter, Philosophen, Theologen, überblickt einen Zeitraum von 2.000 Jahren, er schreibt über die Kreuzzüge aus arabischer Sicht, er lässt in biographisch konzipierten Romanen Menschen einen Weg durch die Wirrnisse ihrer Zeit suchen. Der Titel eines dieser Romane „Les désorientés“ mag als Gegenbild zu „Les déracinés“ des faschistoiden Maurice Barrés gelesen werden, es enthält ein Plädoyer für Demokratie und Liberalismus, für Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten. Erleidet unsere Gesellschaft Schiffbruch, wie sein 2019 erschienenes Buch „Le naufrage des civilisations“ vermuten lässt? Den vollständigen Essay finden Sie hier.
- Rubrik Treibhäuser: Was bewirken Streiks? Christine G. Krüger, Historikerin an der Universität Bonn, hat in ihrem Buch „Die Scylla und Charybids der socialen Frage“ die Streiks der Dockarbeiter in London und Hamburg Ende des 19. Jahrhunderts analysiert. Norbert Reichel empfiehlt die Lektüre des Buches in seinem Essay „Sicherheitsdialektik – Reform und Revolution – Vexierbilder des Traums von einer Sache“. In der Tat geht es um Fragen der Sicherheit, die Sicherheit der Arbeiter, die ein auskömmliches Leben mit fairen Arbeitsbedingungen wünschen, die Sicherheitskonzepte der Gewalt der „classes dangereuses“ befürchtenden Bürger und Politiker, die Frage nach der Interaktion zwischen verschiedenen Sicherheitskonzepten in der politischen Auseinandersetzung oder anders gesagt in dem, was durchaus als „Klassenkampf“ bezeichnet werden könnte. Allerdings ist Klassenzugehörigkeit nie eindeutig. Wir treffen auf angeworbene Streikbrecher, eine Art „Lumpenproletariat“, wir erleben, wie Frauen ausgeschlossen werden, andere sich aktiv in die Streiks einbringen, wir erleben das steigende Interesse bürgerlicher Schichten an einer wissenschaftlichen Untersuchung von Arbeitsbedingungen der Arbeiterschicht. Es entstehen „Sicherheitsgemeinschaften“, „Verantwortungshierarchien“, „Transformationsprozesse“. Doch wer ist der Odysseus zwischen Scylla und Charybdis und wie entwickelt sich im Sinne von Rosa Luxemburg die „geschichtliche Dialektik“ mit ihren „Widersprüchen“ und „Notwendigkeiten“? Was steckt hinter dem „Traum von einer Sache“, von dem Karl Marx 1843 schrieb? Den vollständigen Essay lesen Sie hier.
Veranstaltungen mit Beteiligung des Demokratischen Salons:
Zwei Buchvorstellungen „Offene Wunden Osteuropas“ in Bonn und in Düsseldorf: Das Buch „Offene Wunden Osteuropas – Reise zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs“ von Franziska Davies und Katja Makhotina erschien am 28. April 2022, dem diesjährigen Yom HaShoah (Holocaust Remembrance Day), bei wbg Theiss in Darmstadt. Die nächsten Buchvorstellungen finden am 5. Oktober 2022 um 20 Uhr in der Bonner Thalia-Buchhandlung am Markt sowie am 25. Oktober 2022 um 18 Uhr in Düsseldorf in der Stadtbibliothek (direkt hinter dem Hauptbahnhof) statt. Das Buch präsentiert in neun Kapiteln Erinnerungsorte und sich erinnernde Menschen, von denen wir in Deutschland viel zu wenig wissen. Näheres im Essay „Sternenstaub im Wind“. Die Anmeldeadresse finden Sie hier.
- Macht über Geist und Körper – Unterdrückte Literatur in und aus der DDR und ihre Geschichte nach 1989: Unter diesem Titel diskutiert Norbert Reichel am 19. Oktober 2022, 18.30 Uhr im Gustav-Stresemann-Institut (GSI) in Bonn mit Ines Geipel, Autorin mehrerer Bücher zur unterdrückten Literaturgeschichte der DDR und Professorin an der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin sowie der Bonner Literaturwissenschaftlerin Kerstin Stüssel. Anlass ist die Neuauflage des Buches „Gesperrte Ablage“, das Ines Geipel ausführlich vorstellen wird. Im Mittelpunkt stehen Edeltraud Eckert, Jutta Petzold, Thomas Körner und Radjo Monk, repräsentativ für unterschiedliche Dekaden der DDR. Petra Kalkutschke und Rolf Mautz, freie Schauspieler*innen, u.a. in Bonn wirkend, werden Texte der Autor*innen lesen. Partner des Demokratischen Salons sind neben dem GSI der Verein Wissenskulturen e.V., die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Theatergemeinde Bonn. Zur Sprache kommt auch das in diesem Jahr von Ines Geipel veröffentlichte Buch „Schöner neuer Himmel“. Die Bonner Buchhandlung Bartz sorgt dafür, dass Bücher erworben werden können. Ines Geipel ist bereit zu signieren, es gibt einen kleinen Empfang. Die Anmeldeformulare finden Sie hier. Die Veranstaltung ist eine Live-Veranstaltung mit Publikum.
Weitere Veranstaltungen, Ausstellungen und Wettbewerbe:
- Postsowjetische Identitäten: Der Minsk-Club Bonn lädt am 16. August 2022, 19 Uhr zu einem Abend zum Thema „Russland – Ukraine – Belarus: Trennendes und Gemeinsames“ in das Antiquariat Walter Markov in Bonn, Breite Straße 52, ein. In der Ankündigung schreiben die Veranstalter*innen: „Die Sowjetunion hatte kaum erkennen lassen, wie sich die heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus voneinander unterschieden haben. Nach dem Ende der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert waren die Ostslawen Jahrhunderte lang in Sprache, Kultur und Politik getrennte Wege gegangen, haben unterschiedliche Prägungen erfahren. Mit dem Erstarken des Moskauer Reiches ab dem 16. Jhd. gerieten auch Weißrussland und die Ukraine unter den zentralen Moskauer Einfluss.“ Eintritt: 9 EUR (incl. Brot, Wasser, Wein). Die Veranstaltung wird voraussichtlich wiederholt.
- Rassistische Ausschreitungen: Die Mordanschläge von Rostock-Lichtenhagen und der rechtsextreme Brandanschlag von Mölln jähren sich 2022 zum 30. Mal. Dies sind nur zwei Ereignisse in einer Reihe brutaler Übergriffe auf Menschen vor allem mit Migrationsgeschichte, die in den 1990er-Jahren Deutschland erschütterten. Die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur lädt für den 18. August 2022 um 18 Uhr zu einer Veranstaltung ein, in der die freie Journalistin Anh Tran mit fünf Expert*innen und Zeitzeug*innen diskutiert, konkret Ibrahim Arslan, Überlebender des Anschlags von Mölln, politischer Bildungsreferent und Autor, Valentin Hacken, Mitglied des Sprecherteams von Halle gegen Rechts – Bündnis für Zivilcourage, Daniel Kubiak, Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin), die Filmemacherin und Publizistin Angelika Nguyen (Filmemacherin und Publizistin sowie ) und Awet Tesfaiesus MdB. Programm und Anmeldung zur live-Teilnahme finden Sie hier, der Livestream lässt sich auch nach der Veranstaltung hier verfolgen.
- #nazihintergrund?! – Workshop zu familienbiografischer Recherche: Der Workshop findet am 22. August 2022, 17:00 – 21:00 Uhr im zakk (Fichtenstr. 40, Düsseldorf-Flingern) statt. Er richtet sich an alle, die Interesse haben, Fragen an die eigene Familiengeschichte während der Nazi-Zeit zu stellen. Gab es Täter*innen, Mitläufer*innen, Verfolgte oder Helfende unter den Vorfahren? Welche Erzählungen und Erinnerungen werden von Generation zu Generation weitergegeben? Welche Rolle spielen Themen wie Schuld, Scham und Verantwortung? Bei dieser Veranstaltung vom Düsseldorfer Edelweißpiratenfestival im zakk in Kooperation mit dem Erinnerungsort Alter Schlachthof wird konkret gezeigt, wie recherchiert werden kann. Weitere Informationen finden Sie hier. Anmeldungen sind hier möglich.
- Vielfalt ist die beste Gesellschaft: Unter diesem Motto wird am 26. August 2022 um 18 Uhr in der Zentralbibliothek hinter dem Düsseldorfer Hauptbahnhof nach zweijähriger Pandemiepause die Respekt-und-Mut-Ausstellung eröffnet, Thema „Etappen, Konflikte und Anerkennungskämpfe der Migration“. Nihat Oztürk (Mosaik e.V.) wird als Kurator der Ausstellung mit Senem Aksun (Multikulturelles Forum) werden die 20 großformatigen Tafeln der Ausstellung im Detail vorstellen. Organisator ist Respekt und Mut / Düsseldorfer Appell in Zusammenarbeit mit Mosaik e.V., Multikulturelles Forum und Stadtbüchereien Düsseldorf – KAP 1. Zur Eröffnung sprechen der Düsseldorfer Oberbürgermeister Stephan Keller und Staatssekretär Lorenz Bahr-Hedemann. Musikalische Begleitung und Catering sind vorbereitet. Anmeldungen bis zum 19. August 2022 bitte hier.
- African Book Festival: Vom 26. bis zum 28. August bietet das Festival zahlreiche Debatten und Einblicke in die zeitgenössische Literatur des afrikanischen Kontinents. In Berlin treffen sich afrikanische und afroeuropäische Autor*innen. Kurator ist der südafrikanische Autor Lidudumalingani, dessen Ideen, Visionen und Arbeiten Sie in einem Gespräch mit Alexandra Antwi-Boasiako erleben können. Das diesjährige Thema „Yesterday. Today. Tomorrow“. Informationen über die Teilnehmer*innen finden Sie hier, darunter ist auch Margaret Busby, Herausgeberin der Anthologien „Daughters of Africa“ (1992) und „New Daughters of Africa“ (2019). Weitere Informationen und Anmeldung finden Sie hier.
- Jüdische Einwanderung in Deutschland: Die Deutsche Gesellschaft e.V. lädt ein zur Veranstaltung „Eine besondere Einwanderungsgeschichte – Die Migration und Integration jüdischer Einwanderinnen und Einwanderer in Deutschland nach 1990. Es beteiligen sich Olga Grjasnowa, Dimitrij Belkin und Sigmount Königsberg sowie verschiedene Repräsentant*innen jüdischer Gemeinden, Pädagog*innen, Wissenschaftler*innen und Künstler*innen. Abraham Lehrer und Gideon Joffe eröffnen, Shelly Kupferberg Die Veranstaltung findet am 31. August 2022 von 11 bis 17 Uhr in der Neuen Synagoge, Berlin, Oranienburger Straße statt. Weitere Informationen zu Programm und Anmeldung finden Sie hier.
- 1. September 1939: Peter Oliver Loew, Direktor des Deutschen Polen-Instituts (DPI) Staatsministerin Claudia Roth und Paweł Gronow, Geschäftsträger a.i., Botschaft der Republik Polen in Deutschland, eröffnen am 1. September 2022 um 16 Uhr auf dem Gelände der ehemaligen Kroll-Oper in Berlin eine Gedenkveranstaltung mit Lesungen von Ausschnitten aus persönlichen Zeitzeugnissen der Opfer der deutschen Besatzung Polens auf Deutsch und Polnisch, die das DPI ausgewählt hat. Das polnische Duo Maniucha & Ksawery begleitet musikalisch. Anmeldung ist nicht erforderlich.
- Kommunale Demokratie neu denken: Dies ist der Titel einer Tagung, zu der die Stiftung Mitarbeit einlädt. Sie beginnt am 23. September 2022 um 16 Uhr und endet am 25. September um 12.30 Uhr. Ort ist das Gustav-Stresemann-Institut in Bonn. Die Bonner Oberbürgermeisterin Katja Dörner wird eröffnen. In mehreren Workshops werden Praxisbeispiele für mehr Beteiligung der Bürger*innen, für die Bildung von Netzwerken am Beispiel konkreter kommunaler Aufgaben vorgestellt und diskutiert. Das Programm verspricht: „Das lokale gesellschaftliche Handeln macht den Unterschied (…). Es gilt, Einwohner/innen und gesellschaftliche Akteure einzubeziehen, ihre Potenziale und Ideen zu nutzen und einen übergreifenden demokratischen Austausch zu etablieren. Es gilt, Konflikte zu bearbeiten, gemeinsam gute Lösungen zu finden und diese umzusetzen. Kurzum: Wir müssen lernen, voneinander und miteinander zu lernen – und wir haben dafür wenig Zeit.“ Weitere Informationen und Anmeldekonditionen finden Sie hier.
- Sowjetische Vergangenheit und bundesrepublikanische Gegenwart der Nachfolgegeneration russlanddeutscher Aussiedler: Dies ist das Thema der Veranstaltung „Gestern ‚Die Mitgebrachten‘ – heute ‚Generation PostOst‘“, zu der die Deutsche Gesellschaft e.V. am 3. Oktober 2022 in das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold einlädt. Die Tagung findet von 10 Uhr bis 19.30 Uhr statt. Es geht – so die Ankündigung – um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Lebenserfahrungen von „Aussiedlerkindern“ und „Wendekindern“. Zu Wort kommen „Angehörige dieser Generationen selbst (…), die – im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern – ihre Sprache(n) gefunden haben. Sie artikulieren ihre eigenen Lebensvorstellungen in Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Politik.“ Weitere Informationen finden Sie hier, um Anmeldung wird bis zum 1. September 2022 gebeten.
- Angriff von Rechts: Das Kompetenznetzwerk Rechtsextremismus führt am 6. Oktober 2022, ab 9.00 Uhr in Berlin im bUm eine ganztägige Tagung zum Thema „Demokratiefeindlichkeit und die extreme Rechte“ durch. Das Programm verspricht: „Gewalt gegen Vertreter*innen der Demokratie gehört in manchen Gegenden beinahe zum Alltag, bei der Delegitimierung zivilgesellschaftlicher Arbeit ist dies schon lange der Fall. Gleichzeitig stilisieren sich manche Rechtsextreme zu den einzig wahren Hüter*innen der Demokratie. Das ist besonders paradox, weil gerade die Ablehnung demokratischer Werte und Verfahren neben Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus den Anschluss des organisierten Rechtsextremismus an bürgerliche Kreise ermöglicht. Diesen gefährlichen Zusammenhang zwischen rechtsextremer und bürgerlicher Demokratiefeindlichkeit gilt es offenzulegen und gemeinsam zu bekämpfen.“ Weitere Informationen demnächst auf der Internetseite des Kompetenznetzwerks. Dort finden Sie auch weitere Informationen zu Aktivitäten und Veranstaltungen des Netzwerks.
- Stipendienprogramm „Memory Work“: Die Beauftragte für Kultur und Medien hat für das bei der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur angesiedelte Internationale Stipendienprogramm „Memory Work“ Sondermittel in Höhe von 750.000 EUR für das Jahr 2022 zur Verfügung gestellt. Dank dieser Mittel kann die Stiftung, Stipendien für geflüchtete Akteure der Zivilgesellschaft aus Russland, der Ukraine und Belarus zur Verfügung zu stellen. Die Stipendien können ab sofort mit einer Laufzeit längstens bis 31. Dezember 2022 beantragt werden. Hier der Ausschreibungstext und hier das Antragsformular. Weitere Informationen über diese Adresse, ebenso über diese.
- Kriegslandschaften: Die Fotokünstlerin Mila Teshaieva präsentiert unter dem Titel im Museum Europäischer Kulturen Berlin ihre Fotoausstellung „Splitter des Lebens“. Die Ausstellung ist bis zum 15. Januar 2023 geöffnet. Die Künstlerin versteht sich nicht als Kriegsfotografin, sondern will zeigen, wie Menschen im Krieg leben. Ihr Kriegstagebuch ist auf der Plattform decoder.org erschienen. Der Berliner Tagesspiegel berichtete. Weitere Hinweise zur Ausstellung finden Sie hier.
Kurznachrichten und weitere Empfehlungen:
- Geschichte eines TV-Senders in Russland: In der ARD-Mediathek ist eine beeindruckende Dokumentation über die Geschichte des Senders DoschdTV zu sehen, Titel: „F@ck this Job – Abenteuer im russischen Journalismus“. Der Sender begann als Live-Style-Sender und entwickelte sich zu einem hochpolitischen Sender, in dem live und engagiert von Demonstrationen gegen Putin, gegen die Einnahme der Krim, gegen den Krieg berichtet wurde. Die Schikanen gegen die Journalist*innen werden ebenso gezeigt wie die erforderlichen Umzüge angesichts der steigenden Bedrohung. Inzwischen hat der Sender seine Arbeit angesichts der Strafandrohungen des Putin-Regimes eingestellt. Es ist auch die persönliche Geschichte der Chefin des Senders, Natascha Sindeewa, die jedoch viel mehr ist als eine Biographie. Es ist die Biographie eines Landes und einer immer härter handelnden Diktatur. Ich darf versprechen: jede Minute lohnt sich. Die Dokumentation finden Sie hier.
Jüdische Geschichte in Venedig: Das Bonner Verlags-Comptoir, geleitet von Arnold Maurer, veröffentlicht regelmäßig Bücher rund um Venedig. Neu erschienen ist ein Buch zum ältesten Ghetto der Welt, dem venezianischen Ghetto. Autor ist Giovanni Distefano, die deutsche Übersetzung übernahm Ursula Sharma. Das sehr ansprechend ausgestattete Buch bietet eine Chronik, Bilder und Hintergrundinformationen, Zeichnungen von Marina Skepner zum jüdischen Leben sowie zum immer wieder virulenten Anti-Judaismus und seinen Auswirkungen. Weitere Informationen finden Sie hier.
- Ruangrupa: Antisemitismus war die grundlegende Krankheit der documenta fifteen. Eine andere Krankheit war der paternalistischer Kolonialismus, den die Leitung gegenüber dem Kollektiv der Kurator*innen aus Indonesien pflegte. Robin Detje beschrieb am 19. Juli 2022 in der Süddeutschen Zeitung die westliche Überheblichkeit einer an überkommende Geniekults erinnernden Praxis im „westlichen“ Kulturbetrieb. Wir erlebten unübersehbaren Antisemitismus in einigenr auf der documenta fifteen gezeigten Werke, Ignoranz gegenüber jüdischen und israelischen Künstler*innen, gegenüber den Argumenten des Zentralrats der Juden, aber der Verdacht liegt nahe, dass dies alles auch ein Ergebnis des Verhaltens der Leitung der documenta fifteen ist, die vielleicht sogar eine Gruppe aus der sogenannten „Dritten Welt“ instrumentalisierte, um dann die unschuldig Betroffenen zu spielen? Dieser Verweis auf eine denkbare Instrumentalisierung entschuldigt oder relativiert nichts. Im Gegenteil: es ist falsch verstandener Respekt vor Menschen aus den ehemals von Europa kolonisierten Ländern, wenn wir dortigen Antisemitismus für harmloser hielten als Antisemitismus in Deutschland oder anderen europäischen Ländern. Antisemitismus ist Antisemitismus ist Antisemitismus oder in den Worten von Monika Schwarz-Friesel „Die Wiederholung der Wiederholung der Wiederholung“! Die Zeitung Politik & Kultur wird in der September-Ausgabe ausführlich berichten.
- Frauen für den Frieden: Die Bundeszentrale für politische Bildung hat am 14. Juli 2022 einen Beitrag von Eva Quistorp veröffentlicht, Titel „Die Waffen nieder? Der Streit um das Erbe der Friedensbewegung der 1980er Jahre in einem von Putins Angriffskrieg bedrohten Europa“. Eva Quistorp ist eine der Initiatorinnen* von „Frauen für den Frieden“. Sie schreibt über ihre Familiengeschichte, ihre Weggefährt*innen, mit denen sie Demokratiebewegungen in Ost und West unterstützte, sowie die Geschichte der Debatten über Kriegseinsätze der deutschen Bundeswehr in den vergangenen 30 Jahren. Sie kritisiert, dass auch die Friedensbewegung die Aggression des Putin-Regimes, so sichtbar sie in den vergangenen 15 Jahren schon war, nicht wahrhaben wollte. Sie schließt mit einem Verweis auf einen Text von Ralf Fücks vom 13. Juli 2022: „Wenn der Westen nicht die Kraft hat, Putin in der Ukraine zu stoppen, ist der nächste Vorstoß nur eine Frage der Zeit. (…) Nicht zuletzt wird ein Kuhhandel mit Russland massive Verwerfungen innerhalb der EU und der Nato hervorrufen. Bereits heute sehen unsere Verbündeten in Mittel- und Osteuropa mit wachsender Irritation auf Deutschland. In ihren Augen ist die zögerliche Politik Berlins die Fortsetzung des deutschen Sonderwegs gegenüber Russland.“ Den vollständigen Text lesen Sie hier.
- Afghanistan: Vergessen? In der Tagespolitik hat es den Anschein. Immerhin gibt es Berichte, auch aus dem Land. Der Tagesspiegel dokumentiert das Leben der Frauen in Afghanistan nach einem Jahr Herrschaft der Taliban in der jeden Sonntag erscheinenden Kolumne „Unter Taliban“. Die Autorin, Lamar (ob der Name der richtige Name ist, müssen wir nicht erörtern), ist 19 Jahre alt, studierte Rechtswissenschaften, lebt versteckt mit ihrer Familie, die um ihr Leben fürchten muss. Sie schreibt, wie Frauen von den Taliban als „Eigentum“ oder als „Ware“ betrachtet werden, dass Mädchen nach dem sechsten Schuljahr nicht mehr die Schule besuchen, nicht studieren dürfen, sie nicht mehr mit Freundinnen in ein Café gehen können, der Alltag zerstört wurde. Sie schreibt aber auch von mutigen protestierenden Frauen, von Frauen, die heimlich zu Hause Mädchen unterrichten, die ihren „Mut und Kampfgeist“ behalten haben. Sie fragt, was es mit der „feministischen Außenpolitik“ auf sich habe, die doch so oft von der deutschen Außenministerin beschworen wird. Die Kolumne vom 12. August 2022 lesen Sie hier.
- Ferda Ataman: Die ZEIT veröffentlichte ein Interview mit der neuen Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes Ferda Ataman, die heftig kritisiert wurde, weil sie einseitige und pauschalisierende anti-deutsche Positionen verträte. Am 16. August 2022 hat Ferda Ataman den ersten Bericht in ihrer Amtszeit vorgelegt. Frau Ataman hat in vor längerer Zeit u.a. Reden für Armin Laschet geschrieben, der ihr im Unterschied zu vielen seiner Fraktionskolleg*innen zur Übernahme des Amtes gratulierte. Das Interview führten Paul Middelhoff und Nina Monecke. Wir wünschen dem Interview viele Leser*innen, denn es sorgt für einen differenzierteren Blick auf Person und Aufgabe als ihn manche vereinfachend wahrhaben wollen. Ferda Ataman zeigt mehr als deutlich, dass sie beispielsweise nicht einen Begriff wie „Heimat“ in Frage stelle, sondern den Kontext beschreibe, in dem manche diesen Begriff verwenden und damit Menschen diskriminieren und den Begriff selbst diskreditieren. Ihre bisherige Kritik habe nicht dem Land, sondern einer bestimmten Politik gegolten. Grundlage ihrer Arbeit sei das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das allerdings auch Ergänzungen vertrüge, so im Hinblick auf Benachteiligungen aufgrund des sozialen Status beispielsweise bei der Wohnungssuche sowie die Einführung eines Verbandklagerechts. Das vollständige Interview finden Sie hier.
- Lieblingsfeinde: Am 28. Juli 2022 schrieb Kia Vahland in der Süddeutschen Zeitung unter dem Titel „Zuerst gegen die einen, dann gegen alle“ über die Lieblingsfeinde von Putin, Orbán und rechten Amerikanern. Sie schreibt: „Der Staat will den Menschen wieder vorschreiben, wen sie lieben dürfen und wen nicht. Wer meint, dies richte sich ausschließlich gegen Homosexuelle oder Transpersonen, irrt gewaltig.“ Es geht nicht nur um die LGTBIQ*-Community, nicht nur um die Rücknahme von Frauenrechten, es geht um die Freiheit aller Menschen, im Privatleben wie im öffentlichen Leben über sich selbst zu bestimmen. „Individuelle Rechte abzuschaffen, erst für LGBTQ, dann für alle: das ist die totalitäre Agenda. Der Regenbogen aber ist groß und bunt, unter ihm wird auch Platz für jene sein, die jetzt noch meinen, sie kämen schon irgendwie durch, wenn Demokratien einmal kollabieren sollten.“ Die Autorin referiert Gesetzesvorhaben und bereits beschlossene Gesetze aus den USA, in Russland, in Ungarn, in denen verboten wird, andere Lebensentwürfe als die der heterosexuellen weißen Familie überhaupt zu erwähnen, in den Schulen, in der Öffentlichkeit, in den Künsten. Den vollständigen Text lesen Sie hier.
- Klassismus: Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ignoriert zurzeit noch eine Form von Diskriminierung, die Diskriminierung aufgrund eines sozialen Status. Immerhin wurde Klassismus inzwischen in Berlin ins Landesantidiskriminierungsgesetz aufgenommen. Francis Seeck, Hochschullehrerin in Berlin, hat in ihrem bei Atrium erschienenen Buch „Zugang verwehrt. Keine Chance in der Klassengesellschaft: wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert“ über dieses Thema Thomas Wochnik hat am 27. Juli 2022 mit ihr gesprochen. Das Interview wurde im Tagesspiegel veröffentlicht. Francis Seeck berichtet von eigenen Erfahrungen, beispielsweise wie sie als Schülerin von ihrer Lehrerin darauf angesprochen wurde, dass ihre Mutter mit ihr in einem Restaurant gesehen wurden, obwohl sie doch von Sozialhilfe lebten. Dort gehörten – so offenbar die Lehrerin – Menschen wie sie nicht hin. Dies setzt sich bei der Arbeits- und Wohnungssuche fort, letztlich haben Menschen, die von Klassismus betroffen sind, keine Lobby, im Unterschied zu denjenigen, die teure Dienstwagen fahren oder ohne große Probleme Vermögens- und Erbschaftssteuer zahlen könnten. Ein kleiner Lichtblick ist die Initiative Taxmenow, eine Initiative von Millionär*innen, die eine höhere Besteuerung ihrer Einkünfte und ihres Vermögens fordern.
- Lebenswerte Innenstädte: Der Deutsche Städtetag, der Handelsverband Deutschland, die Gewerkschaft ver.di, das Deutsche Institut für Urbanistik und der Deutsche Kulturrat haben am 1. Juli 2022 das Papier „Lebenswerte Innenstädte der Zukunft“ veröffentlicht. In sieben Thesen entwerfen sie das Bild von Innenstädten, in denen Menschen – auch in den Zeiten der Digitalisierung – gerne leben und wohnen, gerne arbeiten und einkaufen, sich gerne aufhalten, Angebote der Kultur besuchen. Gefordert wird ein Sonderprogramm Innenstadtentwicklung, das für eine Laufzeit von fünf Jahren mit einem Volumen von mindestens 500 Millionen EUR ausgestattet wird. Das vollständige Papier lesen Sie hier.
- Globale Nachhaltigkeitsstrategie: Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen sind gehalten, regelmäßig über die Umsetzung der 17 Sustainable Development Goals zu berichten. Jens Martens stellt in einem Briefing fest: „Bei allen Zielen ist die Verwirklichung durch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie in weite Ferne gerückt. Die Diskussionen drehten sich daher vor allem um die Frage, wie die Umsetzungsprozesse wieder ‚back on track‘ gebracht werden können.“ Als Beispiele nennt er unter anderen die Bildung (SDG 4), die Gleichstellung der Geschlechter (SDG 5) und die Stärkung der Globalen Partnerschaft (SDG 17). Er referiert die Initiativen verschiedener Konferenzen, die die Generalversammlung der Vereinten Nationen im Herbst 2022 vorbereiten sollen. Das vollständige Briefing lesen Sie hier.
- Soziale Gerechtigkeit: Am 29. Juli 2022 veröffentlichte die Süddeutsche Zeitung ein Editorial von Hedwig Richter. Ausgangspunkt: die Lindner-Hochzeit. Aber es ging um mehr: ein zumindest schräges Verständnis sozialer Gerechtigkeit bei der SPD. Warum gelten schnelle Autos, viele billige Steaks auf dem Grill, Flugreisen in den Urlaub, das Häuschen im Grünen nach wie vor als Ausweise sozialen Aufstiegs, an dem man nun wirklich nicht rütteln sollte? Klima- und Artenschutz, Verzicht, Einsparungen welcher Art auch immer? Ist das wirklich ein Angriff auf die soziale Gerechtigkeit? Hedwig Richter: „Nicht mehr Eigenheim und mehr Wohnraum für alle, sondern weniger Wohnraum für viele und genug für alle. Nicht mehr Schnitzel für alle, sondern gute Nahrung auch für die Ärmsten. / Warum spricht es die SPD, warum sprechen es so viele in der Politik nicht aus, was auf der Hand liegt: Soziale Gerechtigkeit heißt nicht mehr, dass es die Kinder besser haben als man selbst, sondern dass sie einen Planeten vorfinden, den sie in Solidarität mit dem globalen Süden bewohnen können.“
- Geschichtsbewusstsein, Zweiter Weltkrieg: Erschienen ist die fünfte MEMO-Studie. Die Studie wird regelmäßig im Auftrag der Stiftung EVZ vom Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld erstellt. Die Ergebnisse erschrecken. Wenn vom Zweiten Weltkrieg die Rede ist, denken Deutsche in erster Linie an Frankreich, Polen, Großbritannien und Russland (in dieser Reihenfolge). Die Verbrechen der nationalsozialistischen Gewaltherrscher*innen in den anderen Ländern spielen kaum eine Rolle im Gedächtnis. Auch an Russland denkt etwa nur ein Drittel, ein Viertel an Italien, die Werte für die Ukraine, für Belarus, für die baltischen Staaten liegen bei Werten zwischen 0,1 und 1 Prozent. Gabriele Woidelko, Leiterin des Bereichs Geschichte und Politik der Körber Stiftung, resümiert: „In den mehr als drei Jahrzehnten seit 1989 ist es Deutschland bisher nicht ausreichend gelungen, die Erinnerungspraktiken West- und Ostdeutschlands miteinander in Einklang zu bringen. Das liegt auch daran, dass es bis heute unter Westdeutschen zu wenig Bereitschaft gibt, sich mit historischen Erfahrungen und Erinnerungen von Menschen in Ostdeutschland auseinanderzusetzen.“ Dies habe auch Folgen für Wissen und Einstellungen zum Ukraine-Krieg. Die Studie finden Sie hier.
(Alle Zugriffe im Internet erfolgten zuletzt zwischen dem 9. und 16. August 2022).
Wir wünschen allen unseren Leser*innen viel Gewinn beim Lesen und Nachdenken! Unser herzlicher Dank gilt all denen, die den Demokratischen Salon: durch Anregungen, Gespräche, Korrekturen so diskussionsfreudig unterstützen. Wir würden uns freuen, wenn diejenigen, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, dort auf den Demokratischen Salon: hinweisen.
In etwa vier Wochen melden wir uns wieder.
Wir grüßen Sie alle herzlich.
Ihre Beate Blatz und Ihr Norbert Reichel
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