Liebe Freund*innen des Demokratischen Salons,

in den letzten Wochen habe ich mich mit einem Thema beschäftigt, mit dem ich mich eigentlich nicht mehr befassen wollte, der Corona-Pandemie. Aber es entwickelte sich doch manches anders als im Sommer vermutet. Entstanden sind sieben Texte, fünf zur gesellschaftlichen und politischen Entwicklung, zwei zum Leben in und mit der Pandemie in der Schule. Außerdem enthält dieser Newsletter die Ankündigung einer Veranstaltung, die ich am 21. Januar 2020 gemeinsam mit der Universität Bonn und Prof. Dr. Ines Geipel sowie mit Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Theatergemeinde Bonn zum Thema „Verfemte Dichter in der DDR“ durchführen werde, sowie drei Empfehlungen zu den Themen Antisemitismus und Rassismus sowie zur Streit-Rubrik der ZEIT vom 5. November 2020 mit neun Statements zum Umgang mit der Pandemie in einer Demokratie. Und am Schluss noch etwas Kabarettistisches.

Angeregt haben mich zwei Bände, die der Bielefelder transcript-Verlag (www.transcript-verlag.de) zum Thema veröffentlicht hat, die Sammelbände „Die Corona-Krise“ und „Jenseits von Corona“. Darüber hinaus bieten im transcript-Verlag das „Friedensgutachten 2020“ sowie das „Zweite Konvivialistische Manifest“ Informationen und Perspektiven, wie es gelingen könnte, mit der Pandemie in unserer freiheitlichen Demokratie zu leben. Die Bereitschaft des transcript-Verlages, in diesen Publikationen einen anderen, einen interdisziplinären Blick auf die Krise zu wagen, der auch die Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften einbezieht, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Ich kann die Lektüre nur empfehlen. Ein Kauf wäre sehr gut angelegtes Geld.

In vier Essays und einer Übersicht, die aufeinander aufbauen aber auch alle für sich gelesen werden können, versuche ich die wesentlichen Thesen der Veröffentlichungen des transcript-Verlages darzustellen. Dabei erwies sich der Rückgriff auf Susan Sontags Essays „Krankheit als Metapher“ und „Aids und seine Metaphern“ ebenso hilfreich wie die Einbeziehung mehrerer aktueller Essays aus der Reihe „Aus Politik und Zeitgeschichte“ der Bundeszentrale für Politische Bildung. Diverse aktuelle Studien und Kommentare überregionaler Presse vermitteln ein Bild der Pandemie, das weit über die bisher dominierenden Debatten hinausgeht. Es geht um viel mehr als Virologie, letztlich um Interdisziplinarität und Fragen der Kommunikation, der Partizipation Betroffener und Beteiligter, verpasste Chancen eines Konsenses, der über Gehorsam und aktualistischen Pragmatismus hinausgeht. Stichtag meiner Texte ist der 30. Oktober 2020.

Der erste Text gibt eine Übersicht. Er greift mit dem Titel „Leben mit der Pandemie – in Würde“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/leben-mit-der-pandemie-in-wuerde/) den Hinweis des Bundestagspräsidenten Dr. Wolfgang Schäuble auf, dass es nicht nur um das „Retten von Leben“ gehe, sondern auch um die Würde der Menschen. Und in der Tat ist festzuhalten, dass es keine Hierarchie der Grundwerte gibt, die Werte des Lebens und der Würde des Menschen sind untrennbar miteinander verbunden.

Die der Übersicht folgenden vier Essays zur Pandemie im Einzelnen:

  • In dem ersten Essay „Ein Lehrstück des Wissensmanagements“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/ein-lehrstueck-des-wissensmanagements/) geht es um die Frage des Verhältnisses der Wissenschaften zueinander sowie das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik. Dabei zeigt sich, dass die umfassende Definition von Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation zu wenig beachtet wird. Es ist ausschließlich von körperlichem Wohlbefinden („well-being“) die Rede, von geistiger und seelischer Gesundheit kaum, auch nicht davon, welche sozialen Bedingungen Krankheiten provozieren und befördern. Erforderlich sind die Ambiguitätstoleranz und Risikomanagement, Interdisziplinarität und ein partizipativ angelegtes Monitoring.
  • Der zweite Essay trägt den Titel „Die Unsichtbaren“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/die-unsichtbaren/) und verweist auf die Gruppen, die nur wenig zu vermelden haben: Frauen, Kinder und Jugendliche, ältere Menschen, arme Menschen. Frau*man könnte den Eindruck haben, als gelte folgende Hierarchie: Männer entscheiden, Frauen sorgen, Kinder und ältere Menschen schweigen. Während der ersten Monate der Pandemie wurde „Sorge“ („care“) heroisiert, doch scheint sich inzwischen abzuzeichnen, dass Frauen, die für diese „Sorge“ Verantwortung übernahmen beziehungsweise denen diese Verantwortung zugewiesen wurde, sich in einer Falle befinden. Exklusion wurde zum Grundprinzip der Pandemiebekämpfung. Zeitgemäß wäre ein inklusiver Ansatz, und dies bedeutet nicht zuletzt auch eine neue Form von Feminismus, Kultur- und Sozialpolitik.
  • Der dritte Essay: „Die Sprache der Pandemie“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/die-sprache-der-pandemie/). In diesem Essay erinnere ich an Susan Sontags Essays „Krankheit als Metapher“ und „Aids und seine Metaphern“. Krebs, Tuberkulose, AIDS – diese Krankheiten wurden mit Charaktereigenschaften belegt, also alles eine „Charakterfrage“, wie der Bundesgesundheitsminister einmal sagte? Die Frage liegt auf der Hand, welche Metaphern mit der Corona-Pandemie verbunden werden. In der politischen Rhetorik dominieren Krieg- und Körpermetaphern. Die meisten Maßnahmen, die gegen die Pandemie verhängt werden, folgen der in der AIDS-Bekämpfung gängigen Reinheitsmetaphorik. Es entsteht eine verhängnisvolle Mischung von Heilsbotschaften, z.B. zum versprochenen Impfstoff, Fantasien der Prohibition, beispielsweise gegen Parties und Sexarbeit gerichtet, sowie Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien.
  • Im vierten Essay „Der kranke Planet“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/der-kranke-planet/) geht es um die internationalen Auswirkungen. Die Pandemie legt die Folgen der vergangenen neoliberalen Jahrzehnte offen und verschärft die entstandenen Ungleichheiten, multilaterale Vereinbarungen werden ausgehebelt, nationale Alleingänge werden die Regel. „Das Konvivialistische Manifest“ ist eine der prominenten Erklärungen, die Hoffnung machen, auf eine Welt, die lernt, mit der Pandemie zu leben, und die anstehenden Aufgaben vom Klimaschutz über den Erhalt der Artenvielfalt bis hin zum Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus und für unseren freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat (wieder) ernsthaft anzugehen. Und dieses Leben mit der Pandemie ist nur dann möglich, wenn die Staatengemeinschaft wieder zu multilateralen Vereinbarungen zurückkehrt.

Aus aktuellem Anlass habe ich mich Anfang November kurzfristig in zwei weiteren Texten mit dem Thema Bildung beschäftigt. In diesen Texten – Stichtag 4. November 2020 – geht es unter dem Motto „Education First“ um den Sommer der verpassten (Bildungs-)Chancen und eine Vision hybrider Schul- und Unterrichtsentwicklung, die durch die Corona-Pandemie hätte beflügelt werden können, wenn die Kultusminister*innen diese Chance erkannt hätten. Im ersten Text endet die Überschrift mit einem Fragezeichen, der Untertitel lautet: „Sommer 2020 – Ein Festival verpasster Chancen“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/education-first/), der zweite Text endet mit einem Ausrufezeichen, der Text versteht sich – so auch der Untertitel – als „Plädoyer für eine offene und hybride Schul- und Unterrichtsentwicklung“ (https://demokratischer-salon.de/beitrag/education-first-2/). Dieser zweite Text ist ein Praxisbericht aus der Helios-Gesamtschule in Köln, die hybride Schul- und Unterrichtsentwicklung vorbildlich konzipiert und umsetzt, sich aber zurzeit gegenüber den Aufsichtsbehörden rechtfertigen muss, warum sie dies tut. Dem Schulleiter, Andreas Niessen, darf ich ganz herzlich dafür danken, dass er so kurzfristig bereit war, mir in einem äußerst intensiven und bereichernden Gespräch das Konzept der Schule zu erläutern. Für diesen Text verwende ich – optimistisch und hoffnungsfroh wie ich gerne sein möchte – nicht das Logo der Pandemie, sondern das Logo der Artikel, die ich im Demokratischen Salon zum Themenkreis „Kinderrechte“ und „Partizipation“ veröffentliche.

Last not least: Ich gestehe, dass ich bei dem neuerlichen „Lockdown“ (eigentlich ein Begriff aus dem Strafvollzug) ein ungutes Gefühl habe. Ich erlaube mir Klaus Lederer (Linke), den Kultursenator Berlins, zu zitieren: „Wenn ein Staat von seinen Bürgern erwartet, auf jegliche kulturelle Teilhabe zu verzichten, finde ich das schon richtig krass. Wie soll man erklären, dass jemand nicht in eine Galerie gehen darf, sich aber in einer Shoppingmall rumtreiben kann?“ (zitiert nach Tagesspiegel, Newsletter vom 30. Oktober 2020, Anmerkung: Galerien sind in Berlin geöffnet, da sie als Einzelhandelsgeschäfte gelten, Museen sind geschlossen, obwohl die eigentlich auch etwas verkaufen (Bücher, T-Shirts, Tassen, Postkarten, Plakate) und in der Regel hervorragende Hygienekonzepte umsetzen.

Ankündigung einer Veranstaltung:

  • „Verfemte Literatur in der DDR – ein Gespräch mit Ines Geipel“: Das Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Bonn und der Demokratische Salon laden in Kooperation mit der Bundesstiftung Aufarbeitung und der Theatergemeinde Bonn zum Januar 2021, 18 – 20 Uhr, zu einem Gespräch mit Frau Prof. Dr. Ines Geipel, Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch, Berlin, ein. Das Gespräch findet statt im Rahmen einer Lehrveranstaltung von Frau Prof. Dr. Kerstin Stüssel zur Deutschen Literatur von 1945 bis 2020. Es ist auch Teil der von Theatergemeinde und Demokratischem Salon im Januar 2020 eingerichteten Reihe „Literatur und Politik“. Die Veranstaltung findet ausschließlich digital statt. Gegenstand des Gesprächs mit Ines Geipel ist die Literatur von Frauen, die in der DDR ihre Literatur nicht veröffentlichen durften. Zu diesen Autorinnen gehören beispielsweise Edeltraud Eckert, Heidemarie Härtl, Sylvia Kabus, Inge Müller und Gabriele Stötzer. Ines Geipel hat gemeinsam mit Joachim Walther und mit Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung dafür gesorgt, dass diese Texte nach 1989, vornehmlich in der von ihnen herausgegebenen Sammlung „Die Verschwiegene Bibliothek,“ erscheinen konnten. Weitere Hinweise, auch Texte zum Thema der Veranstaltung, finden Sie in www.demokratischer-salon.de. Ich darf um Anmeldungen bis zum 15. Dezember 2020 bitten. Wer sich anmeldet, erhält Anfang Januar den Zugangslink.

Weitere Empfehlungen:

  • Thema Antisemitismus: Auf Arte ist zurzeit der Film „Masel Tov Cocktail“ von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch zu sehen, ein Kurzfilm von etwa 30 Minuten: https://www.arte.tv/de/videos/094428-000-A/masel-tov-cocktail. Die Hauptperson ist Dima Liebermann, gespielt von Alexander Wertmann, der ans Publikum gewendet seine Geschichte erzählt und spielt. Dima ist als Kind mit seinen Eltern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. „In deutschen Filmen werden Juden meist nur in Schwarz-Weiß gezeigt und schlagen niemals zurück“, sagt er am Anfang des Films direkt in die Kamera, „aber so ein Film ist das hier nicht.“ Dima schlägt zurück und muss sich immer wieder damit auseinandersetzen, dass er von seinen Mitmenschen auf ein Stereotyp reduziert wird. Seine engagierte Lehrerin beispielsweise möchte, dass er ein Referat über die Shoah hält, obwohl seine Familie damals in der Sowjetunion lebte. Den Hinweis auf den Film verdanke ich dem täglich erscheinenden Newsletter des ZEITmagazins vom 14. Oktober 2020. Ein Abo dieses Newsletters kann ich nur empfehlen. Zum Film siehe auch: https://ze.tt/kurzfilm-masel-tov-cocktail-hoert-auf-juedische-menschen-immer-nur-als-opfer-darzustellen-antisemitismus, Zugriff am 19.10.2020.
  • Thema Rassismus: „#Sayhername“ (aapf.org): Diese Seite präsentiert die Geschichten Schwarzer Frauen in den USA, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind. Künstler*innen von der Cardi B über Jim Carrey bis zu David Hockney beteiligten sich. Insgesamt haben über 100 Kulturschaffende jeweils ein Kunstwerk zur Ausstellung Show Me the Signs beigetragen. Plakate, inspiriert von den Postern, die dieses Jahr auf den Black-Lives-Matter-Demonstrationen zu sehen waren. Die Auktion findet am 10. November statt. Die Erlöse gehen an das Netzwerk #SayHerName des African American Policy Forums, das jenen Schwarzen Frauen und ihren Familien hilft, die Opfer von Polizeigewalt geworden sind. Diesen Hinweis entnahm ich dem Newsletter des ZEITmagazins vom 4. November 2020.
  • Thema Pandemie im Streit: Lesenswert sind die Statements von neun Autor*innen, die die ZEIT am 5. November 2020 in ihrer Rubrik „Streit“ veröffentlicht hat. Zu lesen sind Statements von Thea Dorn, Peter Dabrock, Juli Zeh, Eugen Ruge, Christiane Stella Bongartz, Daniel Barenboim, Seyran Ateş, Klaus Mertes und Bernhard Pörksen. Sehr nachdenklich sollte die von Klaus Mertes geschilderte Begebenheit machen. Ein alter Mann, der seine demente Frau nicht besuchen durfte, obwohl er der einzige war, den sie noch erkannte, wird „vor die Kameras gezerrt“, um „sich anzuhören, warum es – aus Solidarität mit Dritten – eben nicht möglich sei, dass er seine Frau besucht.“ Nur eine Frage der Prioritätenbildung? Ich teile Thea Dorns Schlusssatz: „‘Listen to the scientists!‘ Ist eine wunderbare Parole. Allerdings nur, wenn wir den Plural tatsächlich ernst nehmen.“ Und Juli Zeh fordert neben den AHA-Regeln eine Besinnung auf SOS-Regeln: „Sensibilität im Umgang mit fremden Ängsten, Offenheit für abweichende Positionen, Sorgfalt beim Formulieren der eigenen Ansichten. Unsere Chancen, gut durch die Krise zu kommen, werden rapide steigen.“ Die ausführlichen Statements sind nachzulesen in: https://www.zeit.de/2020/46/corona-lockdown-massnahmen-pandemie-demokratie-perspektiven/komplettansicht.
  • Josef Hader hat sich zur Pandemie bereits mehrfach geäußert, hier ein Text zur Belastung eines Menschen, der alle Verschwörungen durchschaut hat (https://www.youtube.com/watch?v=4FCwlRbXCbM). Michael Hatzius und die Echse haben mit Enten nacherzählt, was so alles passiert ist: https://www.youtube.com/watch?v=M8cBaXL3QOI.

Viel Gewinn beim Lesen und Nachdenken! Ich würde mich freuen, wenn diejenigen, die in den sozialen Netzwerken unterwegs sind, dort auf meine Essays und den Demokratischen Salon hinweisen.

Ich grüße Sie / euch alle herzlich. In etwa vier Wochen melde ich mich wieder.

Ihr / Euer Norbert Reichel

P.S.: Sollte jemand an weiteren Sendungen meines Newsletters nicht interessiert sein, bitte ich um Nachricht an info@demokratischer-salon.de. Willkommen sind unter dieser Adresse natürlich auch wertschätzende und / oder kritische Kommentare und / oder sonstige Anregungen.