Parteien und ihre Kulturkämpfe

Zu den Wahlergebnissen von September und Oktober 2023

Zwischen dem 30. September und dem 15. Oktober fanden vier Wahlen statt, in der Slowakei, in Polen, in Bayern und in Hessen. Am 23. Oktober 2023 wurde die Gründung einer neuen Partei angekündigt, die das deutsche Parteiengefüge – je nach Einstellung – beleben oder auch verwirren könnte.

In der Slowakei verlor die bisherige Regierungspartei OLaNo fast 22 Prozent. Robert Fico holte mit Smer etwa 23 Prozent der Stimmen und konnte eine Regierung bilden, an der sich die HLAS unter Peter Pellegrini, früher mit der Partei Ficos eine Partei, und die in Teilen rechtsextremistische SNS beteiligen. Vorbild Ficos ist das ungarische Modell der „illiberalen Demokratie“. Fico könnte sich in Europa wie in der Vergangenheit pragmatisch verhalten sofern man seine Kreise nicht stört. Sorgen bereiten die für Umwelt- und Kulturministerium vorgesehenen Minister:innen, die die Klimakrise leugnen und eine Art Cancel-Culture von rechts befürworten.

In Polen wird die PiS den Weg in die Opposition gehen müssen, auch wenn sie alles versuchen wird, um eine Regierungsbildung unter Donald Tusk zu verzögern. Timothy Garton Ash formulierte seine Freude, „dass Parteien, wenn sie gut genug sind, auch eine unfaire Wahl gewinnen können. Denn dies war keine faire Wahl.“ Donald Tusk und seine liberale Bürgerkoalition werden gemeinsam mit der Linken und dem liberal-konservativen Dritten Weg eine neue, europafreundliche Regierung bilden, die – so ist zu hoffen – auch die in Europa verbriefte Liberalität in Kultur und Justiz wiederherstellen wird. Zu hoffen ist auf eine Liberalisierung des rigiden Abtreibungsrechts. Diese Reformen werden allerdings etwas Zeit brauchen, weil niemand weiß, ob Andrzej Duda sie gegebenenfalls durch sein Veto zu verhindern oder zu verzögern weiß und wie sich der Dritte Weg zur Frage der Abtreibung verhalten wird. Die nächsten Wahlen zum Amt des Staatspräsidenten finden im Jahr 2025 statt. Weitere Informationen mit Zahlen und einer Bewertung zur Wahl in Polen bietet das Deutsche Polen-Institut.

In Bayern und Hessen konnten sich die Regierungen behaupten. Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) profitierte davon, dass er sich deutlich moderater als seine Partei auf Bundesebene verhielt. Markus Söder (CSU) profitierte von seinem Amtsbonus nicht, weil es seinem Koalitionspartner, den Freien Wählern mit ihrem Spitzenmann Hubert Aiwanger, gelungen war, die Flugblattaffäre zu seinem Vorteil auszunutzen. Die Grünen verloren in beiden Ländern, können sich aber – wie im Trend der Umfragen auf Bundesebene – wohl auf ihre Stammwähler:innenschaft verlassen. Die SPD erlebte in beiden Ländern ein Desaster. Die FDP kam in Hessen mit einem blauen Auge davon. Sie hat in der Zeit, in der sie in der Bundesregierung wirkt (ich möchte hier nicht von mitwirken sprechen), in keiner einzigen Wahl die Fünf-Prozent-Hürde locker überschritten, sie verschwindet aus einem Landtag nach dem anderen, so jetzt auch in Bayern. Ihre Führung scheint jedoch immer noch zu glauben, dass ihr die Rolle der Opposition in der Regierung irgendwann doch einmal nützen werde.

Die Ergebnisse der AfD erschrecken, waren aber auch zu erwarten. Im Westen wird man nicht mehr auf den Osten zeigen dürfen, wenn die AfD Wahlerfolge feiert. Die Freien Wähler sind eine demokratische Partei, die dank der demagogischen Fähigkeiten ihres Frontmanns radikale Rhetorik mit pragmatischer Politik verbindet, eigentlich die klassische CSU-Strategie, um eine Partei rechts von ihr zu verhindern. Die Stimmen für die Freien Wähler zeigen aber auch, wie wichtig örtliche Entwicklungen für viele Wähler:innen sind. Dort haben die Freien Wähler ihre Basis. Für eine kohärente Politik spricht dies nicht, aber für den Bedarf für mehr Partizipation.

Und dann kam die lange erwartete Nachricht, am 23. Oktober wurde sie in der Bundespressekonferenz Fakt. Sahra Wagenknecht hat einen Verein mit ihrem Namen („Bündnis Sahra Wagenknecht“) gegründet, die Parteigründung soll folgen. Die Linke wird gespalten und die Karten werden bei der Europawahl, möglicherweise auch bei den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen neu gemischt. Andererseits verzeichnete die Linke in Berlin an einem Tag 25 Neueintritte. Ob das ein zarter Hinweis auf Re-Konsolidisierung sein könnte, wird sich zeigen. Auf jeden Fall hat die von Sahra Wagenknecht vorgestellte Partei das Potenzial, das deutsche Parteienspektrum durchzuschütteln. Ihr Wähler:innenreservoir geht quer durch alle anderen Parteien. Es gibt in ihren bisherigen Ankündigungen neoliberale, migrationsfeindliche, europakritische, isolationistische und soziale Töne, von denen manche an den Nationalbolschewisten Ernst Niekisch erinnern mögen. Wir können davon ausgehen, dass Sahra Wagenknecht dessen Positionen im Detail kennt. Sie bedient sich bei allen Populismen dieser Welt bis hin zu einer Personalisierung, die durchaus an den Personenkult eines Sebastian Kurz erinnert. Neben Hubert Aiwanger dürfte sie die Politiker:in mit den besten demagogischen Fähigkeiten sein. Thomas Biebricher, Autor des Buches „Mitte / Rechts“ sieht bei Wagenknecht einen „Personenkult“ wie wir ihn von „Berlusconi, Farage und Trump“ kennen“. Welche Perspektiven die neue Partei eröffnen wird, bleibt jedoch unklar. Robert Pausch erinnerte in der ZEIT an Erhard Eppler, der einmal zu Oskar Lafontaine gesagt habe, er identifiziere sich nur mit den Ängsten, nicht aber mit den Hoffnungen der Bürger:innen.

Erfolg haben in der Regel Parteien, die von sich behaupten, sie verträten die Mehrheit. Meistens handelte es sich um eine Mehrheit gegen etwas, selten um eine Mehrheit für etwas. Sie berufen sich auf Sorgen und Ängste und ebeso gerne auf Umfrageergebnisse, nach denen etwa 70 Prozent der Bürger:innen mit der Regierungspolitik unzufrieden wären. Nichts falscher als das, denn die besagten 70 Prozent würden bei weiterer Nachfrage unterschiedliche und oft sogar einander ausschließende Begründungen nennen. Die Grüne Jugend oder Fridays for Future sind aus völlig anderen Gründen mit der Regierung der Ampel unzufrieden als oder die demokratischen Oppositionsparteien CDU, CSU und Linke oder die AfD.

Der berüchtigte Satz Hubert Aiwangers, man wolle sich die Demokratie zurückholen, belegt meine These. Aiwanger meinte natürlich, man solle sich die Mehrheit zurückholen, aber bezogen auf die Demokratie ist der Satz einfach prägnanter. AfD und FPÖ verfahren ähnlich, Robert Fico gelang dies in der Slowakei, in Italien Giorgia Meloni. Vox in Spanien gelang es nicht, der PiS in Polen nicht mehr. In Deutschland und in Österreich ist vielen gar nicht klar, was AfD und FPÖ fordern. In Spanien und in Polen wurde hingegen deutlich, wie frauenfeindlich Vox, PiS und die rechtsextreme Confederacja in Polen sind. Aber Polen zeigt: Frauen können und werden Wahlen entscheiden! Es ist durchaus realistisch, dass die Stimmen der Frauen in den USA Joe Biden eine weitere Amtszeit sichern werden.

Europa ist zurzeit eher kein Gewinnerthema bei nationalen Wahlen. Bei der kommenden Europawahl könnten die Kräfte an Stimmen gewinnen, die sich eher weniger für Klima- oder Artenschutz engagieren und weniger Europa, weniger Brüssel fordern. Auch außenpolitisch kann es schwierig werden. Die Friedensinitiative Sahra Wagenknechts ist nichts anderes ist als eine Inkaufnahme der Kapitulation der Ukraine und rehabilitiert Putin. Die AfD sagt offen, dass sie die Zukunft Deutschlands in Putins eurasischem Projekt sieht. Correctiv hat dies ausführlich belegt.

Die Orbáns und Ficos konnten bisher eingehegt werden, Meloni war für Europa und die NATO eine Bank. Umso wichtiger ist es, dass gerade die demokratischen Parteien eine pro-europäische Erzählung entwickeln. Die EU erhielt den Friedensnobelpreis, Europa ist ein Friedensprojekt, gerade weil in heutigen Zeiten Frieden gegenüber Aggressoren auch mit Waffengewalt verteidigt werden muss, konkret mit aktiver Unterstützung der Ukraine und – im Nahen Osten – auch Israels.

Erfolgreich werden die demokratischen und europafreundlichen Parteien jedoch nur sein, wenn sie ihre pro-europäische Haltung mit einer aktiven und partizipativ angelegten Wirtschafts- und Sozialpolitik verbinden. Das wäre die zweite große Herausforderung, die nur bewältigt werden kann, wenn man die Pseudo-Versprechen der Rechten als hohle Phrasen entlarvt. Die italienische Regierungspraxis ist ungeachtet des europafreundlichen Kurses eindeutig neoliberal und reaktionär. Horst Kahrs benannte in seinem lesenswerten Essay „Kulturkampf mit Wagenknecht“, was fehlt (Oktoberausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“). Seine These: „Ein linker Gerechtigkeitsdiskurs fehlt dagegen weitgehend. Übersehen scheint, dass politische Kämpfe dann erfolgreich sind, wenn sie sich auf ein Identitätsmerkmal konzentrieren und angemessene Rechte einfordern – das machte die Arbeiterbewegung als Bewegung der wahren ‚Produzenten des Reichtums‘ nicht anders als heute die angeblich ‚skurrilen Minderheiten‘.“ So ist es heute, aber die Vergangenheit lehrt, „dass zum Erfolg der Arbeiterbewegungen immer ein Bündnis mit urbanen Schichten beigetragen hat.“ Sahra Wagenknecht stimmte jedoch bereits in ihrem Buch „Die Selbstgerechten“ in die Kulturkämpfe dieser Zeit ein. Die genannten „urbanen Schichten“ gelten als Hauptgegner!

Damit sind wir bei der dritten Herausforderung – und die ist vielleicht die größte. Die demokratischen Parteien müssen endlich damit aufhören, ihre demokratischen und liberalen Konkurrent:innen zu dämonisieren. Sie müssen sich darauf konzentrieren, diejenigen zu bekämpfen, die die liberale Demokratie abschaffen und an deren Stelle eine illiberale Demokratie mit Putins Gnaden einzurichten. Und sie müssen ihre Perspektiven für eine gerechtere, friedlichere und demokratische Welt in den Mittelpunkt ihrer Argumentation stellen. Hoffnungen statt Ängste – das wäre dann ihr Motto.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2023, Internetzugriffe zuletzt am 26. Oktober 2023.)