Prekäres Gleichgewicht

Ein Gespräch mit Agnieszka Łada-Konefał über Polen im Herbst 2024

„Um das gegenseitige Verständnis und die Wahrnehmung zwischen den Deutschen und den Polen zu verbessern, bedarf es eines klaren Signals der Politik, dass die Beziehungen zu dem Nachbarland wichtig sind.“ (Agnieszka Łada-Konefał und Jacek Kucharczyk, Deutschland und Polen – Das schwierige Verhältnis zum Nachbarn, in: Tagesspiegel 24. Oktober 2024)

Prekär ist nicht nur das Gleichgewicht im Verhältnis Polens und Deutschlands zueinander, sondern auch das jeweilige innenpolitische Gleichgewicht, aus unterschiedlichen Gründen, durchaus in beiden Ländern auch durch den immer noch nicht beendeten Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine sowie die in der Europäischen Union höchst kontrovers diskutierte Ein- und Zuwanderungspolitik bedingt.

Zur aktuellen politischen Situation in Polen: Am 15. Oktober 2023 verlor die über zwei Legislaturperioden regierende PiS (Prawo i Sprawiedliwość) ihre Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament. Donald Tusk von der liberalen KO (Koalicja Obywatelska) übernahm das Amt des Ministerpräsidenten, in Koalition mit der Partei des Dritten Weges (Trzecia Droga) und der Linken (Lewica). Die PiS und die rechtsextreme Konfederacja stellen die Opposition. Ein großes Problem für die neue Regierung Tusk ist das Vetorecht des Präsidenten Andrzej Duda, der der PiS angehört.

Der Demokratische Salon begleitet die polnischen Entwicklungen durch Gespräche mit Agnieszka Łada-Konefał, Vizedirektorin des Deutschen Polen-Instituts, zuletzt unter dem Titel „Regierungswechsel schwer gemacht“, sowie durch Reportagen von Ines Skibinski, Mitarbeiterin in der Abteilung für Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn, zuletzt zu den Ergebnissen von Europa- und Kommunalwahlen in der Reportage „Ermüdender Wahl-Marathon“.

Im Herbst 2024 erschienen das Jahrbuch Polen 2024 des Deutschen Polen-Instituts unter dem Jahresthema „Modern(e)“ sowie das von Agnieszka Łada-Konefał gemeinsam mit Jacek Kucharczyk diesjährige Deutsch-Polnische Barometer, das unter dem Titel „Hoffnung und Krise“ erschien. Jedes Jahr werden 1.000 Pol:innen und 1.000 Deutsche befragt. Am 24. Oktober 2024 wurde das Deutsch-Polnische Barometer beim Berliner Tagesspiegel vorgestellt. Eine wichtige Rolle spielte die Frage der Wahrnehmung der gemeinsamen beziehungsweise trennenden Geschichte, die ich in meinem Essay „Das Trauma der Anderen“ versucht habe, zu erörtern. Das Jahrbuch 2023 befasste sich mit dem Thema „Osten“, darin auch das Thema der Ukraine. In den regelmäßig erscheinenden Polen-Analysen veröffentlichte zuletzt Stefan Garsztecki seine Analyse des ersten Jahres der Regierung Tusk unter der Überschrift „Mühsamer Einzug der Demokratie“. Das hier dokumentierte Gespräch fand am 29. Oktober 2024 statt.

Polen in Europa

Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit der Rolle Europas in der polnischen Politik beziehungsweise der Rolle Polens in Europa.

Agnieszka Łada-Konefał: Mit der neuen polnischen Regierung ist ein neuer Stil, oder anders gesagt: ein neuer alter Stil der Politik da. Die Mitglieder der Regierung Tusk sind bekannt und vernetzen sich in Europa. Sie wollen sich mit ausländischen Partnern zeigen und eine positive Rolle Polens darstellen. Aber nicht der Regierungswechsel, sondern vor allem der Krieg in der Ukraine hat die polnische Rolle verändert. Das wurde schon im Jahr 2022 so wahrgenommen. Gerade in Deutschland ist jedoch das Bewusstsein noch viel zu selten verbreitet, wie wichtig Polen in Europa ist, als Transitland, als Land, das die Ukraine unterstützt, als Land, das für die Sicherheit des Kontinents eine wichtige Bedeutung hat.

Norbert Reichel: Das spiegeln auch die Ergebnisse des aktuellen Deutsch-Polnischen Barometers.  

Agnieszka Łada-Konefał: Die Rolle Polens wurde in Deutschland nie so gewürdigt wie Polen es verdient hätte. Es waren immer eher Sonntagsreden als Taten. Polen wurde und wird von vielen deutschen Politiker:innen Expert:innen, auch Journalist:innen nie so richtig auf Augenhöhe wahrgenommen. Auch jetzt merkt man, wie viele Deutsche Polen nicht kennen, Fragen zu Polen nicht beantworten können und wie ambivalent das Bild Polens in Deutschland ist. Allerdings sieht man auch eine Verbesserung im Polenbild der Deutschen seit die aktuelle polnische Regierung im Amt ist. Es ist positiv, dass diese Veränderung in Deutschland wahrgenommen wird.

Norbert Reichel: Spiegelt sich dies auch in anderen Entwicklungen wieder? In der Anfangszeit der Regierung Tusk gab es wieder ein Treffen des Weimarer Dreiecks.

Agnieszka Łada-Konefał: Als Format existiert das Weimarer Dreieck in der Praxis eigentlich nicht mehr. Es gab ein paar gelungene Gesten und Treffen. Die Situation ist aber vor allem in Frankreich so instabil, dass die Franzosen nicht mehr bereit sind, über solche Formate nachzudenken. Auch in Deutschland ist die politische Situation instabil und die Bundesregierung hat wohl andere Prioritäten. Mit dem Format des Weimarer Dreiecks kann man nicht so viel anfangen, obwohl wir Krieg an der Grenze der EU haben.

Eigentlich wäre ein solches Format noch wichtiger als früher. Es würde sich auch für alle Seiten lohnen, für Deutschland, an beiden Seiten mit Polen und mit Frankreich gleichberechtigte Partner zu wissen. Für Tusk persönlich ist es gut, sich nicht nur mit den Deutschen zu zeigen, auch die Franzosen würden mit dem Weimarer Dreieck die Situation und die Entwicklungen in Osteuropa besser verstehen. Es gibt gute Gründe, sich um solche Formate zu kümmern, aber ich denke, auch in den kommenden Monaten wird sich das nicht in diese Richtung entwickeln.

Norbert Reichel: Gibt es unter der Regierung Tusk Veränderungen im Verhältnis zu anderen Ländern, beispielsweise zu den baltischen Staaten?

Agnieszka Łada-Konefał: Ich bin eher kritisch. In der polnischen Außenpolitik hat sich nicht so viel verändert, wenn es um Taten geht. Still hat sich verändert, die Kompetenzen sind da, Radosław Sikorski ist einer der bekanntesten Außenpolitiker, Donald Tusk ist als ehemaliger EU-Ratspräsident einer der in Europa am besten vernetzten Politiker. Sie wissen, wie man in Europa und in der NATO verhandelt, sie wissen, wie man Koalitionen sucht. Aber konkrete Initiativen aus Polen sind nicht zu sehen.

Auch bin ich kritisch wenn es um die Entwicklung der deutsch-polnischen Beziehungen geht. Es hat sich in der Kommunikation sehr viel verändert, aber ansonsten ist Stille. Das gilt ebenso für das Visegrád-Format und die baltischen Staaten. Es ist klar, dass im Hinblick auf Visegrád Polen nicht mit Ungarn näher zusammenarbeiten will, das die Linie von Jarosław Kaczyński vertritt. Auch die Situationen in der Slowakei und in Tschechien sind instabil, sodass man nicht direkt eine Kooperation sucht. Es gibt nicht nur auf der polnischen Seite Gründe, dass man neue Initiativen suchen sollte.

Norbert Reichel: Sie haben mehrfach das Wort „instabil“ verwendet.

Agnieszka Łada-Konefał: Das ist so. Viele europäische Länder konzentrieren sich zurzeit auf ihre Innenpolitik. Viele Experten, die sich zum Rechtspopulismus äußern, sagen, dass die Regierungen sich vorwiegend darum kümmern, die jeweilige innenpolitische Lage zu stabilisieren. Wir haben natürlich nach wie vor den Krieg in der Ukraine, aber dennoch ist offenbar nicht die Zeit, nach Bündnissen in anderen Ländern zu suchen.

Die Lage an der polnischen Ostgrenze

Norbert Reichel: Und dann haben wir noch das Thema der Migration. Russland und Belarus instrumentalisieren Flüchtende aus Afghanistan, dem Irak oder aus Syrien als Kriegswaffe und transportieren sie an die finnische oder an die polnische Grenze, um von dort aus diese Länder und die Europäische Union zu destabilisieren. Finnland hat jetzt die Grenze zu Russland geschlossen, Tusk hat sich ebenso deutlich geäußert.

Agnieszka Łada-Konefał: Die polnische Ostgrenze ist gleichzeitig Ostgrenze der Europäischen Union. Es ist eine reale Bedrohung, wenn Russland Menschen in die EU schicken will. Es ist wichtig zu verstehen, dass man nicht nur vermuten kann, sondern dass Russland dies aktiv steuert. Die Flüchtlinge werden an die polnische Grenze geschickt, um Instabilität zu erzeugen. Diese Taktik Russlands bedroht die Sicherheit in Polen und in der EU.

Niemand weiß, wer da geschickt wird, mit welchen Interessen, vielleicht sogar mit Aufträgen und Befehlen. Man darf vermuten, dass nicht alle wirklich Flüchtlinge sind. Natürlich viele von diesen Leuten sind auch Opfer des russischen und belarussischen Regimes, müssen nichts Böses wollen, aber es ist unklar, was geschehen kann. Wir müssen es aus der Perspektive sehen, dass sie Instrumente in dem Interesse von Diktatoren sind. Das ist eine völlig andere Situation als zum Beispiel in Italien. Autoritäre Regime schicken sie, um die Lage in Europa zu destabilisieren. Das darf die EU nicht akzeptieren.

Norbert Reichel: Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sich jemand aus sich selbst heraus aus Afghanistan, aus dem Irak, aus Ägypten auf dem Landweg über den Kaukasus oder Kasachstan durch Russland und Belarus Richtung EU aufmacht. Das sieht doch sehr danach aus, dass hier Russland ganz bewusst steuert.

Agnieszka Łada-Konefał: Natürlich bekommen sie russische Hilfe, um an die polnische oder an die finnische Grenze zu kommen. Das muss man stoppen. Die Vorschläge von Tusk wurden in Polen sehr positiv aufgenommen. Es ist eben nicht nur eine Flüchtlingskrise, sondern es gibt den direkten Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine.

Norbert Reichel: Die ukrainischen Geflüchteten in Polen sind noch einmal eine ganz andere auch nicht unumstrittene Geschichte. Das ist auch in Deutschland eine schwierige Debatte. Auf der einen Seite kritisieren deutsche Politiker:innen, dass zu viele Ukrainer:innen noch keine Arbeit aufgenommen hätten, auf der anderen Seite sorgt man mit den deutschen Behörden selbst dafür, dass die schleppende Anerkennung von Abschlüssen oder der aus meiner Sicht überzogene Nachweis von Sprachkenntnissen, die mangelnde Kinderbetreuung vor allem für alleine gereiste Frauen verhindern, dass Ukrainer:innen überhaupt eine Arbeit aufnehmen können. Aus meiner Sicht ist das pure Heuchelei. Wie sieht das in Polen aus?

Agnieszka Łada-Konefał: Zunächst haben viele Pol:innen sehr positiv reagiert. Nach dem ersten Momentum ist dies inzwischen vorbei. Es ist sicherlich auch normal, dass Euphorie mit der Zeit abnimmt. Das hatten Migrationsexpert:innen schon in 2022 vermutet und es ist auch so eingetreten. Das Deutsch-Polnische Barometer zeigt, dass die Aufnahme von Geflüchteten nur noch von der Hälfte der Pol:innen positiv bewertet wird. Die Zahlen waren in den vergangenen Jahren deutlich höher. Hier sieht man Ermüdung und abnehmende Bereitschaft.

Auf jeden Fall sind viele Ukrainer:innen in Polen, arbeiten legal, haben normale Wohnungen gemietet, die Kinder gehen zur Schule. Übrigens, ukrainische Kinder und Jugendliche müssen inzwischen sogar eine polnische Schule besuchen. Sie dürfen nicht mehr ausschließlich online am Unterricht in der Ukraine teilnehmen.

Jeden Tag trifft man auf den polnischen Straßen, vor allem in den Großstädten, viele Ukrainer:innen. Darunter sind natürlich auch die Arbeitsmigranten, die schon vor 2022 gekommen waren. Aber viele sind geblieben und haben jetzt nach dem russischen Überfall ihre Familien und ihre Verwandten nach Polen geholt. Sie können ohne größere Probleme Arbeit finden. Es ist sicherlich leichter für sie, Polnisch zu lernen als Deutsch. Aber die Hürden der Bürokratie sind bei weitem nicht so hoch wie in Deutschland.

Man muss aber auch wissen, dass die Sozialleistungen in Polen deutlich niedriger sind als in Deutschland. In Polen kann man kaum davon leben, daher ist man schon gezwungen, eine Arbeit zu finden. Das wollen sie auch und die Offenheit in Polen, Ukrainer:innen eine Arbeit zu geben und sie aufzunehmen, ist sehr hoch.

Norbert Reichel: Polen investiert viel in die innere und in die äußere Sicherheit. Das wird in Deutschland jedoch kaum anerkannt.

Radosław Sikorski und Dmytro Kuleba am 22. Dezember 2023. Foto: Polnisches Außenministerium. Wikimedia Commons.

Agnieszka Łada-Konefał: In Deutschland sollte man wissen, wie viel Polen in die eigene Sicherheit investiert. Polen gibt als NATO-Mitglied sehr viel für die Verteidigung aus. Die polnischen Ausgaben werden noch einmal, dann auf vier Prozent des Bruttoinlandprodukts steigen. Das erhöht generell die Sicherheit im Bündnis. Es geht nicht nur um Polen. Man sollte Polen sehr seriös als Partner wahrnehmen. Polen hat – unabhängig von der Regierung – gezeigt, dass das Thema Sicherheit alle politischen Kräfte verbindet. In diesem Punkt gibt es keine Polarisierung. Polen nimmt die Sicherheitspolitik sehr ernst, weil die Bedrohungen aus Russland sehr konkret und sehr real sind. Ab und zu kommen, zum Beispiel, Raketen nah der polnischen Grenze, sodass die Militärflugzeuge aufsteigen müssen. Dazu kommt die Cyber-Security. Diese Bedrohung muss man in Europa sehr ernst nehmen. Polen sollte auch in diesem Bereich als wichtiger Partner wahrgenommen werden.

Warten auf die Präsidentschaftswahlen

Norbert Reichel: Zentrale Programmpunkte der jetzigen polnischen Regierung waren die Wiederherstellung des Rechtsstaats, der Freiheit der Medien, der Rechte der Frauen, insbesondere das Recht auf einen Schwangerschaftsabbruch. Der Präsident blockiert nach wie vor, sodass es fast unmöglich ist, diese Änderungen, die man versprochen hat, auch zu verwirklichen. Ein Veto des Präsidenten kann der Sejm nur mit einer Mehrheit von 60 Prozent zurückweisen, aber diese Mehrheit hat die Dreierkoalition nun einmal nicht.

Agnieszka Łada-Konefał: Nach etwa einem Jahr müssen wir sagen, dass sich nicht viel bewegt. Der Präsident blockiert mit seinem Veto oder er schickt die Gesetze an das Verfassungsgericht, das mehrheitlich noch mit von der PiS benannten Richtern besetzt ist. In den Bereichen Justiz und Medien bewegt sich wenig. Es gibt viele Vorwürfe, es sei alles zu langsam und es verändere sich nichts. Es verändert sich allerdings manches in einer mittleren Ebene, in der die Regierung ohne Änderung der Gesetze agieren kann, oder sie agiert an der Grenze des bestehenden Rechts. Es ist die Frage, wie ich Rechtsstaatlichkeit wiederherstelle ohne das Recht zu brechen?

Auch in der Frage der Abtreibung oder der gleichgeschlechtlichen Ehe hat sich nichts verändert. Hier herrscht Uneinigkeit in der Regierungskoalition. Die Polnische Volkspartei (Polskie Stronnictwo Ludowe) blockiert, sodass die Regierung in diesem Bereich keine Mehrheit hat. Aber selbst wenn sie diese Mehrheit hätte, würde der Präsident blockieren.

Alle warten auf die Präsidentschaftswahlen. Die Regierung hofft, der neue Präsident werde danach die Gesetze unterschreiben, die PiS hofft natürlich, dass jemand aus ihren Reihen die Nachfolge des jetzigen Präsidenten antreten kann. Dann würde sich nichts ändern.

Norbert Reichel: Wenn ich das Ergebnis der Europawahlen hochrechne, wäre ein Erfolg eines Kandidaten der Regierungskoalition nicht unwahrscheinlich. Weiß man schon, wer für welche Seite kandidiert?

Agnieszka Łada-Konefał: Der PiS-Kandidat wurde noch nicht benannt. Angeblich laufen noch Gespräche, es gibt Umfragen. Es ist noch unklar. Im Spiel ist unter anderem der ehemalige Premierminister Mateusz Morawiecki, der aber von vielen als zu liberal, zu wenig konservativ wahrgenommen wird. Kaczyński mag ihn nicht, das ist schon sicherlich ein Ausschlusskriterium. Ein weiterer Kandidat ist Przemyslaw Czarnek, sehr konservativ. Er war Bildungsminister in der Regierung Morawiecki, europafeindlich.

Auch die Bürgerkoalition hat noch niemanden nominiert. Man spekuliert, ob es Rafał Trszaskowski, der Bürgermeister von Warschau, oder doch Sikorski sein wird. Es wird auch immer gesagt, dass Tusk selbst kandidieren könnte, er sagt, dass wolle er nicht, aber das glauben ihm viele nicht.

Am Ende wird es im Mai 2025 sehr knapp werden. Bei der Parlamentswahl war die Wahlbeteiligung sehr hoch. Wenn ein Teil der damaligen Wähler:innen enttäuscht ist und nicht versteht, warum das so ist, bleiben viele zu Hause und die motivierte PiS-Wählerschaft wählt den polnischen Präsidenten.

Es wird mit Sicherheit eine Stichwahl zwischen den Kandidaten von KO und PiS geben. Die Kandidaten anderer Parteien werden keine Chance haben.

Norbert Reichel: Und die Konfederacja?

Agnieszka Łada-Konefał: Für die Konfederacja kandidiert ein sehr konservativer Kandidat. Die Partei wird immer stärker und ist auch für junge Leute attraktiv, die deren bunte Mischung von populistischen Argumenten gerne hört. Alle bekommen etwa das, was sie gerne hören. Wirtschaftsleute und junge Männer bekommen zu hören, dass sie nicht mehr für andere bezahlen müssen, die von sozialen Leistungen leben. Konservative hören anti-europäische und anti-feministische Themen. Es gibt in Polen Leute, die sagen, die Partei gefällt mir nicht, aber den einen Punkt, der mir wichtig ist, den vertreten sie, und deshalb wähle ich die. Es ist teilweise ähnlich, wie die AfD Wähler in Deutschland argumentieren.

Demokratisierung nur unter Radar

Norbert Reichel: Als nächstes Thema würde ich gerne die Medien ansprechen. Wenn autoritäre Parteien die Regierung übernehmen, versuchen sie, die Medien auf ihre Bedürfnisse hin zuzuschneiden und oppositionelle Stimmen zu verdrängen. Das geschieht zum Beispiel zurzeit in der Slowakei und in Italien und folgt dem ungarischen beziehungsweise ehemaligen polnischen Vorbild.

Agnieszka Łada-Konefał: Das ist ein Punkt, der auf der mittleren Ebene angegangen wurde. Die öffentlich-rechtlichen Medien sind jetzt in der Hand von Demokraten. Die von der PiS ernannten Journalisten und Leiter haben keine Macht mehr. Das ist das Wichtigste: Wenn man sich jetzt diese Programme anschaut oder anhört, stellt man fest, dass breit berichtet wird, dass es jetzt keine PiS-Propaganda mehr gibt. Das heißt nicht, dass sie frei von Meinungen wären. Man könnte sogar sagen, dass bestimmte Thesen jetzt die heutige Regierung bevorzugen, aber auch die Opposition erhält Zeit, sich vorzustellen. Man merkt in jeder Redaktion Veränderung. Die von der PiS entlassenen Leute wurden wieder eingestellt. Es gibt auch neue Auslandskorrespondenten, zum Beispiel in den USA. Aber die Lage ist nach wie vor unklar, weil eigentlich es per Gesetz reguliert sein sollte, aber auch hier ist Andrzej Duda dagegen.

Norbert Reichel: Bei den Gerichten kommt es wahrscheinlich auf den Austausch von Richter:innen an.

Agnieszka Łada-Konefał: Es gibt verschiedene Vorschläge, ob und wie man Richter, die von der PiS-Regierung nicht legal ernannt wurden, wieder absetzen könnte. Es gibt viele Diskussionen und viele verschiedene juristische Meinungen, aber noch keine endgültigen Entscheidungen. Man muss auch verstehen, dass dann, wenn auf einmal Tausende von Richtern fehlen, dies das Justizsystem sehr belasten würde. Es wäre eine Katastrophe. Bereits jetzt wartet man Monate, wenn nicht Jahre auf ein Urteil. Zum Beispiel in Familiensachen und in anderen Bereichen, in denen es notwendig ist, dass schnell entschieden wird. Wenn viele Richter fehlen, ist das für die Bevölkerung ein großes Problem.

Norbert Reichel: Die Tusk-Regierung muss – wenn ich das richtig einordne – ihre Wähler:innen bei Laune halten, weil sie den schnellen Wandel, den viele von ihr erwarten, aufgrund der Blockade des Präsidenten nicht herbeiführen kann?

Agnieszka Łada-Konefał: So ist es. Sie zu erreichen ist jedoch unglaublich schwierig. In der Euphorie am Anfang haben sie sich die Sejm-Sitzungen im Fernsehen angeschaut, sind sogar dafür ins Kino gegangen, wo auf dem Bildschirm aus YouTube das online Streaming lief. Diese Zeiten sind vorbei. Man muss schon klar sagen: Viele wollen jetzt wieder nichts mehr mit der Politik zu tun haben. Sie haben gewählt, aber jetzt ist ihnen alles zu langsam und zu uneffektiv. Sie wollen die Zusammenhänge nicht sehen, warum das so ist.

Norbert Reichel: Zu Beginn der Legislaturperiode gab es großes Theater um die beiden rechtskräftig verurteilten PiS-Abgeordneten, die am Ende im Präsidentenpalast verhaftet wurden. Es gab anschließend große Demonstrationen, mit riesigen Transparenten, auf denen das Solidarność-Logo verwendet wurde. Letztendlich hat der Präsident die beiden begnadigt. Es gab ja auch den Willen, Korruption der PiS-Regierung aufzuarbeiten. Es sollten Untersuchungsausschüsse eingerichtet werden.

Agnieszka Łada-Konefał: Zwei Untersuchungsausschüsse haben die Arbeit bereits beendet, einige laufen noch. Die Dynamik und die Aufmerksamkeit sind jedoch deutlich zurückgegangen. Selbst Bestinformierte haben den Überblick verloren, in welchem Untersuchungsausschuss, wer für verantwortlich erklärt werden sollte, in welcher Etappe sich welcher Vorgang befindet. In einem Untersuchungsausschuss wird zurzeit auch der ehemalige Justizminister, Zbigniew Ziobro, vorgeladen. Er wird jedoch nicht erscheinen, weil er krebskrank ist. In den Medien ist er jedoch präsent. Das ist politisches Theater. Vieles dauert vielen zu lange, viele wissen nicht mehr, worum es eigentlich geht. Es gibt weitere Untersuchungen der Staatsanwaltschaft, es gibt immer wieder neue Affären. Es ist schon heftig, wie viel PiS-Politiker aus der Staatskasse gestohlen haben, wie viel Geld sie für sich genommen oder anderen aus ihrer Umgebung gegeben haben. Solche Affären kommen ans Licht, aber davon erfahren nicht alle, auch nicht alle die, die die Regierung unterstützen.

Norbert Reichel: Gibt es neue Erkenntnisse in der Visa-Affäre, Visa gegen Geld?

Agnieszka Łada-Konefał: Die Angeklagten sind bekannt, aber es gibt noch keine Urteile. Die Gerichte müssen jetzt entscheiden. Aber das dauert eben und am Ende gibt es oft kein Ergebnis. Die Regierung sagt zwar, welche Verfahren gerade laufen. Das ist aber nur für diejenigen eine Erklärung, die die Hintergründe verstehen und die Entwicklungen regelmäßig verfolgen. Viele verfolgen das nicht mehr, weil sie auf die Ergebnisse warten.

Asymmetrische Bilder vom anderen Land

Norbert Reichel: Im Deutsch-Polnischen Barometer betrafen 20 Prozent der Assoziationen, die die befragten Pol:innen mit Deutschland verbanden, die nationalsozialistische Terrorherrschaft. Auf der deutschen Sache spielte dieses Thema keine Rolle. In den Assoziationen der Deutschen lag zu 25 Prozent Polen mit schönen Landschaften und als touristisches Ziel an erster Stelle.

Agnieszka Łada-Konefał: Ja, es ist etwa so, dass ein Deutscher und ein Pole, wenn sie sich treffen, der eine möglicherweise über die Geschichte nachdenkt, der andere über die schöne Ostseeküste. So kommen sie nicht zusammen. Es ist schon wichtig zu betonen, dass das Thema Geschichte von Deutschen so selten benannt wird. Die Assoziationen mit Urlaub, Tourismus, schönen Landschaften freuen natürlich auch Pol:innen, aber das schafft die Asymmetrie nicht aus der Welt, dass die Pol:innen an die Geschichte denken, die Deutschen jedoch nicht. Das erschwert den Dialog.

Ich möchte noch eine andere Perspektive nennen: die Deutschen nennen vielfach Themen, die einfach da sind. Hinter der Ostseeküste steckt keine Leistung der Pol:innen, die ist eben einfach da. Es ist einfach Glück für Polen, dass sie da ist. Anders wäre es, wenn Wirtschaftswachstum oder gute Politik genannt würde. Das wären Leistungen. Allerdings steigen auch positive Assoziationen, beispielsweise dass sich Polen gut entwickelt, dass Pol:innen sympathische Menschen sind. Es sagen auch immer mehr Deutsche, sie hätten polnische Arbeitskolleg:innen, die sie als fleißig anerkennen. Viele sagen jetzt auch, dass sie polnische Wurzeln haben, bei den Eltern oder bei den Großeltern. Generell fällt die Asymmetrie in Bezug auf die Geschichte auf. In Polen hat man keine Illusionen mehr gegenüber Deutschland, man ist nicht mehr so verliebt in Deutschland. Deutschland ist nicht mehr nur das Land der Ordnung, der starken Wirtschaft, der tollen Autos, tollen Autobahnen. Das ist auch eine interessante Entwicklung, die wir über die Jahre verfolgen können.

Norbert Reichel: Das Jahrbuch Polen 2024 hat das Rahmenthema „Modern(e)“.

Agnieszka Łada-Konefał: Beim Deutsch-Polnischen Barometer hatten wir diesmal auch die Frage: Ist Polen/Deutschland ein modernes Land? Wir wollten sehen, wie viele Deutsche Polen als ein modernes Land wahrnehmen. Die Ergebnisse zeigen, etwas weniger als die Hälfte, 46 Prozent, haben die Frage mit Ja beantwortet. Die ambivalente Einstellung zu Polen dominiert. Das Bild, dass Deutschland ein modernes, wirtschaftlich starkes Land ist, ist immer noch präsent, auch wenn es nicht mehr so stark ist, wie es das einmal war. Von deutscher Seite wurde nach der touristischen Attraktivität immerhin auch die wirtschaftliche Stärke Polens genannt. In Polen sagten etwa zwei Drittel, Deutschland ist ein modernes Land.

Zeichen setzen

Norbert Reichel: Ein strittiges Thema sind nach wie vor die Reparationsforderungen. Auf dem Podium zur Vorstellung des deutsch-polnischen Barometers am 24. Oktober hat ein Teilnehmer vorgerechnet, dass das derzeitige Angebot der Bundesregierung von 200 Millionen EUR für alle noch lebenden betroffenen Pol:innen etwa eine Rentenerhöhung von 40 EUR im Monat ergäbe. Eine zweite Problematik ist die ewig lange Geschichte des Deutsch-Polnischen Hauses, das immerhin inzwischen so langsam Gestalt annimmt.

Agnieszka Łada-Konefał: Es geht in beiden Punkten vor allem um Anerkennung, darum, dass Deutsche sagen, wir wollen symbolisch wieder gut machen, was Deutsche in der Nazi-Zeit Pol:innen angetan haben. Das Deutsch-Polnische Barometer hat über die Jahre immer wieder gezeigt, dass die Pol:innen fürchten, dass die Deutschen um das Leid der Pol:innen nicht wissen, auch nicht über das, was Deutsche getan haben. Sie haben die Sorge, dass die Deutschen vergessen, sich nicht mehr erinnern und dass die Täter-Opfer-Rolle unklar wird. Das ist die polnische Angst.

Es geht um Zeichen der Anerkennung, mit dem Deutsch-Polnischen Haus, oder – wenn man keine Reparationen zahlen wird – um eine kreative Lösung, dass Deutschland als Land auch ein Zeichen gibt, dass man in Deutschland weiß, was Deutsche Polen angetan haben. Das, was zurzeit angeboten wird, ist eine lächerliche Summe, man muss schon überlegen, wo die Grenze ist, mit welcher Summe man sich seriös zeigt. Betroffen sind alte Menschen, die nicht mehr so viel Zeit haben. Die Stiftung Polnisch-Deutsche Aussöhnung ist startbereit, um die Anträge zu bearbeiten. Es geht aber nicht nur um die konkrete finanzielle Entschädigung der Opfer, es geht um Anerkennung.

Der Bundestag muss jetzt entscheiden, wie es mit dem Deutsch-Polnischen Haus weitergeht. Es geht um ein konkretes Gebäude, eine konkrete Institution, in der es Ausstellungen gibt, Bildungsmaßnahmen angeboten werden. Es soll auch ein Denkmal geben, das architektonisch mit dem Gebäude verbunden ist, sodass auch die Erinnerungsperspektive deutlich wird. Die Bildungsmaßnahmen sollen bundesweit angeboten werden. Der Bundestag muss jetzt entscheiden, ob Deutschland bereit ist, ein Zeichen zu setzen.

Norbert Reichel: Das wird hoffentlich bei den laufenden Haushaltsberatungen positiv entschieden.

Agnieszka Łada-Konefał: Nicht nur für das nächste Jahr, das muss auf Dauer gesichert werden. Diese Summen müssen jährlich für die kommenden Jahre zur Verfügung stehen.

Norbert Reichel: Es geht somit um eine institutionelle Förderung, damit die geplanten Projekte nicht jedes Jahr erneut um ihre Weiterfinanzierung fürchten müssen.

Gibt es ein neues deutsch-polnisches Barometer vor oder nach der Präsidentschaftswahl?

Agnieszka Łada-Konefał: Danach. Aber wir werden etwa ab November 2024 eine Blog-Reihe starten, in der regelmäßig Informationen über die anstehenden Wahlen zur Verfügung gestellt werden. Dort werden wir natürlich auch die politische Stimmung in der polnischen Gesellschaft darstellen.

Norbert Reichel: Steht schon fest, welches Thema das nächste Jahrbuch haben wird?

Agnieszka Łada-Konefał: Energie. Aber nicht nur das Übliche, Kohle, Öl, Gas, sondern auch gesellschaftliche Energie. Natürlich immer mit Fragezeichen. Ist positive gesellschaftliche Energie in Polen vorhanden? Und wie sieht die aus?

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2024, Internetzugriffe zuletzt am 6. November 2024. Titelbild: Donald Tusk und Ursula von der Leyen am 15. Dezember 2023, Foto: EC Audiovisual Service. Wikimedia Commons.)