Von Polen lernen
Ein Gespräch mit der stellvertretenden Direktorin
des Deutschen Polen-Instituts, Agnieszka Łada-Konefał
„Die Bühne unserer Beobachtungen und Überlegungen war nicht Polen, sondern die Welt. Polen aber hat uns ein bitteres, für westliche Menschen nicht mitteilbares Wissen vermittelt. Wir betrachten diese westlichen Menschen mit leisem Lachen.“ (Czesław Miłosz, Das Gesicht der Zeit, im polnischen Original „Zdobycie władzy“, wörtlich: „Die Eroberung der Macht“, 1953)
Czesław Miłosz erhielt im Jahr 1980 den Literaturnobelpreis. Die Sätze, die ich eben zitiert habe, schrieb er in dem Jahr, in dem Stalin starb, in dem ein Aufstand in der DDR mit Hilfe sowjetischer Truppen niedergeschlagen wurde, in dem der Westen Polens in deutschen Atlanten mit dem Hinweis „unter polnischer Verwaltung“ bezeichnet wurde, der ehemalige Osten Polens, der nach Jalta, Teheran und Potsdam der Sowjetunion zugeschlagen wurde, jedoch dort so dargestellt wurde, als wären diese Gebiete nie polnisch gewesen. Der zitierte Roman spielt im Jahr 1944.
Die Annahme, dass das Leid, das in den Jahren 1939 bis 1945 über Polen hereinbrach, „für westliche Menschen nicht mitteilbares Wissen“ war, klingt mehr als plausibel. Erst im Jahr 1990 rang sich die westdeutsche Bundesregierung dazu durch, die polnische Westgrenze verbindlich anzuerkennen. Die vorangegangene Popularität der Solidarność und des polnischen Papstes in Deutschland hatten vielleicht mehr mit der grundlegend anti-kommunistischen und anti-sowjetischen Haltung in Deutschland zu tun als mit einem Verständnis für Polen. Vielleicht. Aber verstehen „westliche Menschen“ heute Polen und die Menschen, die in diesem Land leben, besser? Nach dem Beitritt Polens zu EU und NATO? Nach zahlreichen Begegnungen von Deutschen und Pol*innen in den verschiedenen Lebensbereichen, vom Jugendaustausch bis zu Konferenzen in Wissenschaft und Politik?
Es scheint eine lange, vielleicht sogar endlose Geschichte. Und es ist der Auftrag des Deutschen Polen-Instituts, polnische Geschichte, polnische Kultur, polnischen Alltag, polnische Politik in Deutschland gegenüber Deutschen verständlicher zu machen. Das Deutsche Polen-Institut hat seinen Ort im schönen Darmstädter Residenzschloss sowie ein Berliner Büro. Träger des Instituts sind das Land Hessen, die Gemeinschaft der Länder (KMK), das Auswärtige Amt und die Wissenschaftsstadt Darmstadt. Die Projekte des Instituts werden mit öffentlichen Mitteln sowie durch zusätzliche Mittel von Stiftungen und Unternehmen ermöglicht. Das Institut wurde 1980 gegründet. Im Institut arbeiten 17 Deutsche und Pol*innen.
Direktor des Instituts ist Peter-Oliver Loew, Honorarprofessor an der TU Darmstadt, ausgewiesen in Osteuropäischer Geschichte und Slavistik, den deutsch-polnischen Beziehungen in der Neuzeit sowie der Geschichte und Gegenwart Danzigs, Pommerns und Pommerellens. Er promovierte über die lokale Geschichtskultur in Danzig zwischen 1793 und 1997. Im Jahr 2014 habilitierte er sich an der TU Dresden, an der er nach wie vor einen Lehrauftrag wahrnimmt.
Agnieszka Łada-Konefał ist stellvertretende Direktorin. Sie hat in Berlin und in Warschau Politikwissenschaften studiert, in Warschau promoviert, ein Aufbaustudium in Organisationspsychologie in Dortmund absolviert und an der Hertie School of Governance den Executive Master for Public Administration erworben. Bis 2019 war sie Direktorin des Europa-Programms und Senior Analyst am Warschauer Institut für Öffentliche Angelegenheiten (ISP).
Ich habe im April und im September 2022 mit Agnieszka Łada-Konefał gesprochen.
Vermittler zwischen den Ländern
Norbert Reichel: Vielleicht beginnen wir mit einer kurzen Geschichte des Deutschen Polen-Instituts.
Agnieszka Łada-Konefał: Ich darf mit einigen Informationen zum Deutschen Polen-Institut beginnen. Es ist eine deutsche Einrichtung, die mit deutschen Mitteln finanziert wird. Die Gründung erfolgte 1980 mit dem Ziel, die polnische Kultur und Literatur in Deutschland näher zu bringen. Der Gründer war Karl Dedecius (1921-2016), der bekannte Übersetzer polnischer Literatur. Mit Karl Dedecius fing alles an.
Norbert Reichel: Karl Dedecius war mir als Übersetzer bekannt, vielleicht – wenn ich das so sagen darf – lange Jahre als der Übersetzer aus dem Polnischen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe guter Übersetzer*innen. Polnische Autor*innen sind in Deutschland bekannt, nicht nur die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk, auch Andrzej Bart, Monika Sznajderman oder Szczepan Twardoch, deren Romane in deutscher Sprache vorliegen.
Agnieszka Łada-Konefał: Wir versuchen immer in der deutschen Öffentlichkeit zu betonen, welche großen Schriftsteller und Dichter Polen hat. Olga Tokarczuk war vor nicht langer Zeit unser Gast in Darmstadt. Das Interesse war sehr groß. Unsere Bibliothek mit etwa 80.000 Bänden und vielen Fachzeitschriften ist für alle Interessierten offen, für alle, die mehr über Polen wissen wollen. Um diese Schiene zu fördern, haben wir einen Preis für Übersetzer, den Karl-Dedecius-Preis. Der Preis wird in der Regel alle zwei Jahre verliehen, zuletzt am 20. Mai 2022 an Elźbieta Kalinowska und Andreas Volk. Übersetzer – das sind die Vermittler zwischen den Ländern.
Norbert Reichel: Eine harte Arbeit, mit starkem Termindruck und oft in ihrer Bedeutung unterschätzt. Das Aufgabenspektrum des Deutschen Polen-Instituts hat sich mit der Zeit aber deutlich erweitert.
Agnieszka Łada-Konefał: Nach der Wende wurden neue Ziele formuliert. Das DPI ging mehr in die Richtung Geschichte und Gesellschaft, ist seit einigen Jahren auch in der Politikbegleitung tätig. Wir übersetzen polnische Literatur nicht mehr, weil das inzwischen die Verlage machen. Wir übernehmen andere Aufgaben, um Polen zu erklären. Eine wichtige Schiene ist die Bildung, wir haben ein Internetportal mit Schulmaterialien, wir haben zwei Autos, die Polen-Mobile, die durch Deutschland fahren und kostenlose Workshops für Schulen und Nicht-Regierungsorganisationen zum Thema Polen anbieten. Wir versuchen mit verschiedenen Publikationen wie mit den Jahrbüchern oder den Polen-Analysen nicht nur wissenschaftlich, sondern auch publizistisch in Deutschland über Polen zu informieren.
Norbert Reichel: Das ist ein beeindruckendes Angebot. Sie haben in Jahrbüchern und Polen-Analysen eine große Vielzahl verschiedener Autor*innen aus diversen gesellschaftlichen Feldern. Wie kommen Sie an die Autor*innen?
Agnieszka Łada-Konefał: Es ist unsere Aufgabe, Polen so gut kennen, dass wir wissen, wen wir einladen, vor allem aus Polen. Über die Polen-Analysen sollen so viele polnische Stimmen wie möglich gehört werden. Wir haben natürlich auch deutsche Autor*innen, aber die polnischen Stimmen sind uns vor allem wichtig. Wir kennen sie, wir lesen polnische Zeitungen und Expertisen, wir wissen, wer in welchem Bereich unterwegs ist. In der Tat ist uns wichtig, dass das sehr verschiedene Personen sind, auch politisch, mit verschiedenen Meinungen, sodass auch verschiedene gesellschaftliche Bereiche abgedeckt werden. Es sind immer aktuelle Themen. Hinzu kommt immer eine Chronik. Wir machen immer eine kurze Zusammenstellung wichtiger Ereignisse, alle zwei Wochen, sodass man immer informiert ist, was in dieser Zeit in Polen und in den deutsch-polnischen Beziehungen geschehen ist.
Die Zielgruppen: Politik, Medien, Bildung
Norbert Reichel: Wer sind Ihre Zielgruppen, Ihre „Kund*innen“, Ihre Leser*innen?
Agnieszka Łada-Konefał: Wir haben sehr verschiedene Zielgruppen. Politiker*innen und Journalist*innen sind eine wichtige Zielgruppe. Mit den Polen-Analysen erreichen wir auch wissenschaftliche Mitarbeiter*innen im Deutschen Bundestag, Abgeordnete, Beamte in den Ministerien. Dafür sind die Polen-Analysen da, ebenso unsere Blog-Beiträge. Wir organisieren auch verschiedene Treffen, Runde Tische, wir fahren nach Berlin für Gespräche, laden sie zu unseren Veranstaltungen ein, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Als Institut koordinieren wir seit dem Jahr 2000 die Kopernikus-Gruppe, die sich in der Regel zwei Mal im Jahr trifft, deutsche und polnische Historiker*innen, Politik- und Kulturwissenschaftler*innen, Journalist*innen. Diese Leute formulieren Empfehlungen, was man in den deutsch-polnischen Beziehungen bessermachen könnte. Diese Empfehlungen verschicken wir dann auch an die Politik. Das sind verschiedene Formate, mit denen wir versuchen, die Politik zu erreichen.
Norbert Reichel: Und Sie versuchen damit die polnische Politik zu erklären. Was ist besonders schwierig dabei?
Agnieszka Łada-Konefał: Die polnische politische Kultur, die polnische politische Bühne sind ganz anders als in Deutschland. Sie sind sehr polarisiert und emotional. Das versuchen wir zu erklären. Wir berichten, zum Beispiel, über die politischen Konflikte zwischen den Parteien in Polen, im Hinblick auch auf das Deutschland-Bild. Oder wir berichten über Konflikte in den deutsch-polnischen Beziehungen, laden zu entsprechenden Veranstaltungen ein, an den verschiedene Stimmen zu Wort kommen. Es ist aber nicht immer einfach in Deutschland, Verständnis für die polnische Position, oder in Polen – für die deutsche – zu schaffen. Das versuchen wir zu ändern, indem wir Informationen liefern.
Norbert Reichel: Man kann Jahrbuch und Polen-Analysen abonnieren und erhält somit einen guten ersten Überblick, der dann zu vertiefender Lektüre einlädt.
Agnieszka Łada-Konefał: Das ist unser Ziel. Wir sind auch auf Twitter und Facebook unterwegs. Dort gibt es aktuelle Fakten, über die Publikationen hinaus. Wir machen aufmerksam auf Presseartikel aus Polen, die zurzeit relevant sind, informieren über wichtige Ereignisse in Polen oder Jahrestage.
Norbert Reichel: Werden Sie bei Gesprächen zwischen der deutschen und der polnischen Regierung beteiligt?
Agnieszka Łada-Konefał: Ja, in verschiedenem Rahmen, auch wenn wir kein Think Tank sind. Wir sind ab und zu eingeladen worden, wenn ein deutscher Politiker oder eine deutsche Politikerin nach Polen kommt oder polnische nach Deutschland. Wir sprechen mit den Mitarbeiter*innen, die verschiedene Treffen vorbereiten. Das ist nicht fest geregelt, das sind verschiedene Formate, oft informelle, in denen wir uns austauschen, auch am Rande, Hintergrundgespräche. Dazu dienen auch die Publikationen, die ich erwähnt habe. Diejenigen, die die Besuche vorbereiten, können dies mithilfe dieser Publikationen. Bei bestimmten Themen sind dann wir der aktive Akteur, beispielsweise mit dem Deutsch-Polnischen Barometer, das wir an Mitglieder des Deutschen Bundestages und des Polnischen Sejm verschicken oder auch an die Außenministerien. Ich weiß, das Deutsch-Polnische Barometer war in der Presseschau für Bundeskanzlerin, Bundespräsident und Außenministerin zu finden, als sie sich für einen Polen-Besuch vorbereitet haben. Das versuchen wir, aber wir können am Ende natürlich nicht wissen, welchen Einfluss das hat.
Norbert Reichel: Besonders wichtig sind für Sie sicherlich die Referent*innen, die die Spitzenpolitiker*innen mit ihren Zusammenfassungen vorbereiten.
Agnieszka Łada-Konefał: Da haben wir persönliche Kontakte. Aber die Politikbegleitung ist nur eine Schiene unserer Arbeit. Wir haben zum Beispiel die größte Bibliothek zum Thema Polen, ein großes Archiv. Einige meiner Kolleg*innen kümmern sich ausschließlich um die Schul- und Bildungsprojekte. Viel machen wir im Land Hessen in dem Bereich Kultur, zum Beispiel zeigen wir polnische Filme, organisieren Lesungen von polnischer Literatur und bereiten Ausstellungen vor. Diese Vielfalt ist uns sehr wichtig. Wir haben allerdings auch mehr Ideen und Wünsche an uns selbst als wir erfüllen können.
Das Deutsch-Polnische Barometer
Norbert Reichel: Ein Produkt des Instituts, für das Sie auch als Person verantwortlich zeichnen, ist das Deutsch-Polnische Barometer.
Agnieszka Łada-Konefał: Das stimmt. Das Deutsch-Polnische Barometer ist eine Wahrnehmungsumfrage, die es seit mehr als 20 Jahren gibt. Angefangen hat diese Umfrage das Institut für Öffentliche Angelegenheiten aus Warschau zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit. Als ich Mitarbeiterin im Institut in Warschau war, war ich die Hauptautorin der Studie. Als ich dann ins DPI kam, wurde auch das DPI Partner.
Wie gesagt, es ist eine Wahrnehmungsstudie, eine Untersuchung, die zeigt, wie sich Deutsche und Polen gegenseitig wahrnehmen, wie sie aktuelle Entwicklungen in der Welt beurteilen. Das Ziel ist zu zeigen, wo es Herausforderungen in den Beziehungen gibt, was Deutsche und Polen denken, was sich über die Jahre verändert und warum. Wir suchen immer nach Gründen, wir erklären die Situation, wir formulieren Empfehlungen. Eine wichtige Aussage ist immer die Feststellung, dass unmittelbare Begegnungen, vor allem Reisen von Deutschen nach Polen, helfen das Nachbarland besser zu verstehen und ein besseres Bild davon zu haben.
Norbert Reichel: Eine wichtige Institution für solche Begegnungen ist das Deutsch-Polnische Jugendwerk.
Agnieszka Łada-Konefał: Auf jeden Fall. Wir stehen in engem Kontakt mit allen, die im Netzwerk deutscher und polnischer Begegnungen aktiv sind. Dazu gehört das Deutsch-Polnische Jugendwerk. In den letzten 30 Jahren haben mehr als drei Millionen junge Menschen an Austauschprogrammen teilgenommen. Das hat einen sehr positiven Einfluss. In den letzten zwei Jahren hatten wir natürlich eine kleine Pause, aber ich hoffe, dass nach der Corona-Zeit wieder viele Begegnungen stattfinden.
Norbert Reichel: Ein Problem des gesamten internationalen Jugendaustauschs. Ich bin zuversichtlich, dass der Austausch sich wieder intensiviert. Aber es haben sich natürlich auch die Bedingungen verändert. Dazu gehört nicht nur der 24. Februar 2022. Was hat sich aus Ihrer Sicht in den vergangenen fünf oder zehn Jahren in dem, was Deutsche über Polen, Polen über Deutsche denken, am meisten verändert?
Agnieszka Łada-Konefał: Ich spreche lieber von den letzten 30 Jahren. Wenn man diese Perspektive hat, sieht man sehr deutlich, wie nah wir uns in Deutschland und in Polen gekommen sind. Kurz nach der Wende, da war so ein polnischer Spruch: so lange die Welt besteht, wird nie ein Deutscher einem Polen Bruder sein. Der hatte große Mehrheiten. Die Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg prägten, das Misstrauen war noch sehr groß. Auch die Kommunisten haben dazu beigetragen, dass das Deutschlandbild in Polen sehr schlecht war. Es war extrem wichtig, wie viel Arbeit verschiedene Akteure, Politik, Zivilgesellschaft, geleistet haben, um sich einander näherzukommen. Auch durch den EU-Beitritt Polens im Jahr 2004 sind neue Möglichkeiten entstanden. Ich nenne mal als Beispiel die Frage, würden Sie es akzeptieren, dass ein Deutscher im Stadtrat sitzt oder Ihr Schwiegersohn ist. Im Jahr 2000 sagte die Hälfte der polnischen Bevölkerung ja, inzwischen sagen das etwa 80 Prozent der Pol*innen. Das ist schon eine große Veränderung, dank der direkten Kontakte. Es hat sich positiv entwickelt, wenn es um die persönliche Nähe geht. In der Politik haben wir gerade leider eine schwierige Phase. An der Spitze sind die Beziehungen nicht gut, aber auf der kommunalen, der zivilgesellschaftlichen, der wirtschaftlichen Ebene hat sich viel Positives entwickelt.
Norbert Reichel: Und wie hat sich das Bild der Polen in Deutschland verändert?
Agnieszka Łada-Konefał: Hier hat vor allem der EU-Beitritt einen Einfluss auf das Bild, weil viele Polinnen und Polen in Deutschland arbeiten durften. Das Bild hat sich auch durch die wirtschaftlichen Beziehungen sehr verändert. Aber wir müssen auch immer noch sagen, dass Polen in Deutschland noch ein unbekanntes Land ist. Viele Deutsche haben keine Meinung, keine Kenntnisse über Polen. Sie kennen Polen nur über die Medien, nicht über persönliche Begegnungen. Das ist schon ein großer Unterschied zwischen Pol*innen und Deutschen. Die Pol*innen haben viel mehr Informationen über Deutschland als umgekehrt. Das prägt die gegenseitige Wahrnehmung schon sehr.
Geschichtskenntnisse
Norbert Reichel: Manchmal habe ich den Eindruck, dass manche Deutsche Polen nur über die Ruhrpolen wahrnehmen, die vor über 100 Jahren ins Ruhrgebiet gekommen sind. Das erkannte man zum Beispiel an den Namen von Fußballspielern, inzwischen allerdings haben türkische Namen weitgehend die polnischen Namen in den Ruhrgebietsvereinen abgelöst. Die Wahrnehmung ging von Fritz Szepan über zu Mesut Özil.
Agnieszka Łada-Konefał: Das ist vielleicht nicht so schlimm wie Sie sagen. Es ist immer mehr Deutschen schon bewusst, dass sie Pol*innen kennen, nicht nur die Menschen, die den Spargel stechen, die Wohnungen putzen, sondern eben auch die Informatiker*innen, Jurist*innen, Künstler*innen, die Kolleg*innen im Büro. Sie alle wohnen und arbeiten in Deutschland, zahlen ihre Steuern. Aber andererseits sind sie oft unsichtbar, sie fallen nicht auf, sie sprechen gut Deutsch. Man merkt gar nicht, dass jemand aus Polen ist. Polen als Land ist den Deutschen aber nach wie vor unbekannt, vor allem die polnische Geschichte.
Norbert Reichel: Das ist meines Erachtens ein ganz kritischer Punkt. Es gab ja mal die Initiative des Deutsch-Polnischen Schulbuchs. 2016 wurde der erste Band vorgestellt, 2022 gab es in Warschau eine Tagung zum 50jährigen Bestehen der Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission. Mein Eindruck: eine schwierige, möglicherweise endlose Geschichte. Was dann im Schulunterricht geschieht ist natürlich noch einmal eine ganz andere Sache. Was sagt das Deutsch-Polnische Barometer zur Kenntnis der beiderseitigen Geschichte?
Agnieszka Łada-Konefał: Die Deutschen wissen viel zu wenig über die polnische Geschichte. Das sagen auch Historiker*innen und Pädagog*innen, die deutsche Lehrbücher studiert haben – dass Polen da sehr selten vorkommt. Das hat sich in den letzten Jahren ein bisschen, aber nur ein bisschen verbessert. Der Zweite Weltkrieg war für die Deutschen bisher fast nur im Hinblick auf den Holocaust, den Krieg in Russland ein Thema. Die Massaker, die in Polen stattgefunden haben, das, was im September 1939 in Polen geschah, die Vernichtung des polnischen Volkes, davon war keine Rede. Das verändert sich, aber zu langsam. Es gab vor einigen Jahren eine zivilgesellschaftliche Gruppe, die ein Polen-Denkmal vorschlug. Inzwischen hat der Deutsche Bundestag beschlossen, dass in Berlin ein Ort der Erinnerung und der Begegnung mit Polen entstehen solle, gerade um über die polnische Geschichte zu berichten, Bildungsmaßnahmen durchzuführen und einen Ort zu haben, an dem man Polen gedenken kann. Das Deutsche Polen-Institut ist an diesem Projekt intensiv beteiligt, und wir hoffen, dass der Deutsche Bundestag bald entscheidet, wo und wie eine solche Stätte geschaffen werden kann.
Norbert Reichel: Wie bekannt ist diese Initiative in Polen und in Deutschland?
Agnieszka Łada-Konefał: Es ist in der interessierten deutschen und polnischen Community bekannt, dass „bald“ ein solches Haus entsteht. „Bald“ ist natürlich gerade bei Baumaßnahmen sehr relativ. Das Bedürfnis aus Polen, dass man in Deutschland die polnische Geschichte besser kennt und versteht, ist sehr groß. In der polnischen Gesellschaft ist die Ansicht sehr verbreitet, dass die Deutschen gar nicht wissen, was sie den Menschen in Polen angetan haben. Manche sagen, Deutsche würden die Geschichte relativieren. Die Sorge ist, dass die Täter-Opfer-Rolle vergessen, sogar umgedreht wird. Man soll einfach wissen, dass die Pol*innen sehr gelitten haben, dass die Deutschen in den Jahren 1939 bis 1945 sechs Millionen Polinnen und Polen ermordet haben, davon drei Millionen Jüdinnen und Juden. Jede polnische Familie hat jemanden verloren, sechs Millionen – das ist schon eine sehr große Zahl. Es ist allen in Polen wichtig, dass die Deutschen wissen, was SS und andere in Polen gemacht haben.
Norbert Reichel: Täter war nicht nur die SS, es war auch die Wehrmacht, die Beamtenschaft, die Zivilisten, die die Deutschen nach Polen schickten, um dort die Besatzung zu organisieren, Männer und Frauen. Polen sollten von der Landkarte verschwinden, die Menschen in Polen mehr oder weniger wie Sklav*innen gehalten werden.
Agnieszka Łada-Konefał: Genau das ist es. Das ist zurzeit im DPI ein wichtiges Thema. Wir haben im September in Berlin und Warschau einen Film vorgestellt, in dem Zeitzeugen berichten, wie und was Polen gelitten haben. Der Film ist kostenlos online verfügbar. Dazu entstanden auch mehrere Kurzfilme, zu verschiedenen Themen der deutschen Besatzung in Polen, wie zum Beispiel zum Kriegsbeginn 1939. Diese kurzen Filme kann man sehr gut dann im Unterricht verwenden. Wir hoffen, dass dieses Angebot schon gut genutzt wird, bevor es zu dem Erinnerungsort kommt.
Norbert Reichel: Ich habe versucht, in meinem Essay „Das Trauma der anderen“ zu zeigen, dass vielen Deutschen nicht klar ist, was sie in Polen angerichtet haben, dass auch verschiedene heutige Debatten in Polen über die Shoah, über die Verbrechen der Wehrmacht, über die Besatzung, die stets wiederkehrende Debatte über Reparationen nicht verständlich sind, wenn man diese Geschichte nicht berücksichtigt. Auch die Debatten in Polen um einen Beitrag von Pol*innen zur Shoah sind nur verständlich, wenn man weiß, wie die Deutschen in Polen gewütet haben. Deutsche Kritik beziehungsweise Kritik aus Deutschland ist dann nicht mehr und nicht weniger als eine Täter-Opfer-Umkehr.
Agnieszka Łada-Konefał: Das stimmt. Die Polen haben Angst, dass die Erzählung über den Zweiten Weltkrieg auf die Rolle von Polen bei der Verfolgung und Vernichtung der Juden – die insgesamt in der Zusammenstellung zu allem, was geschehen ist, marginal war – reduziert wird. In den Konzentrations- und Vernichtungslagern auf dem polnischen Territorium, dem von den Deutschen eingerichteten Generalgouvernement, wurde auch polnische Elite umgebracht, polnische Professoren, Priester, Künstler*innen. Die Hälfte der sechs Millionen ermordeten Menschen waren in der Tat Juden und Jüdinnen, aber die andere Hälfte waren Angehörige der nicht-jüdischen polnischen Zivilgesellschaft.
Natürlich gab es Pol*innen, die mit den Deutschen zusammengearbeitet haben, aber die Mehrheit hat gegen die deutsche Besatzung gekämpft, es gab die polnische Untergrundarmee, die Armia Krajowa. Man hat die Sorge, dass man sich nur darauf konzentriert, dass einige Polen doch mit den Deutschen kooperiert haben. Man muss vergleichen, was haben SS und Wehrmacht gemacht, welchen Widerstand haben Pol*innen geleistet? Das ist in Polen wichtig, dass Deutsche das wissen und anerkennen. Erst dann kann man darüber diskutieren. Historiker*innen tun das auch. Auf der Ebene der Expert*innen gibt es Kenntnisse, Austausch, aber es ist wichtig, dass es auch in der breiten Bevölkerung bekannt ist.
Norbert Reichel: Da habe ich so meine Zweifel.
Agnieszka Łada-Konefał: Jetzt sicherlich mit Recht, aber unsere Arbeit, unsere Bildungsmaßnahmen, vor allem die für Jugendliche, gibt die Hoffnung, dass im gesamten Bereich der politischen Bildung diese Sicht der Geschichte mehr präsent wird. Deshalb die Bücher, die Filme, die ich genannt habe. Es muss aber auch im deutschen Bildungssystem präsent sein. Das liegt in der Verantwortung der Länder, der Beamten, der Schulbuchverlage.
Die polnische Stimme in und für Europa
Norbert Reichel: Vielleicht sprechen wir über das Bild von Europa in Deutschland und in Polen. Die Deutschen behaupten von sich, dass sie gute Europäer*innen sind, in Wirklichkeit möchten sie jedoch lieber Schweizer*innen sein. Alles, was um sie herum geschieht, soll sie besser dann doch nicht so sehr berühren. Der niederländische Autor René Cuperus hat diesen deutschen Traum in seinem Buch „7 Mythen über Europa“ (Bonn, Dietz, 2021) sehr anschaulich beschrieben. Im Deutsch-Polnischen Barometer und auch anderswo sehen wir, dass Pol*innen Europa sehr positiv bewerten, vielleicht sogar europäischer sind als die Deutschen. Oder war das etwas zu provokant?
Agnieszka Łada-Konefał: In jeder Provokation gibt es Wahrheit. Es stimmt, dass die Pol*innen sehr pro-europäisch sind. Aber was heißt „pro-europäisch“? Die Wahrheit: Pol*innen haben sich immer als zu Europa gehörend gefühlt. Es war nach der Wende der große Wunsch, dass die anderen Länder in der Europäischen Union das anerkennen. In Polen hat man immer nach Westen geschaut und alle in Polen dachten, sie wären Teil der europäischen Familie. Daher kam der Wunsch, so schnell wie möglich der EU beizutreten. Das war nicht nur wirtschaftlich begründet – natürlich ist Wirtschaft auch wichtig –, aber entscheidend war das Gefühl, man gehört zur europäischen Familie. Jedoch wir müssen auch Folgendes sehen: nach so vielen Jahren der Angehörigkeit zum sowjetischen Block, als uns Moskau sagte, was wir zu tun haben, ist Souveränität ein wichtiger Begriff. Die polnische Geschichte hat gezeigt, dass Polen immer von jemandem abhängig war. In den mehr als 120 Jahren nach der dritten polnischen Teilung im Jahr 1795 war Polen abhängig von Österreich, Preußen beziehungsweise ab 1871 vom Deutschen Reich, von Russland. Dann kam der Erste Weltkrieg, dann der Zweite, dann die kommunistische Phase.
Der EU-Beitritt war für uns sehr wichtig, aber aus dieser Perspektive ist den Polen auch wichtig, eine Stimme in Europa zu haben, sodass wir nicht nur zu hören bekommen, was zu tun ist. Besonders wichtig ist für Polen die Teilung der Kompetenzen: was darf die EU, was können die einzelnen Länder selbst entscheiden? Das erklärt sich aus der Geschichte! Polen ist da sehr gespalten: viele Pol*innen sind daran interessiert, dass die EU weitere Kompetenzen übernimmt, andere haben Angst, dass man dann nur noch wenig selbst entscheiden kann. Das muss man in Brüssel, in den europäischen Hauptstädten des „Westens“ verstehen. Man hat in Polen schon Angst, dass es mit der Integration in Europa zu schnell geht, dass Polen zu schnell die Souveränität verliert, die man gerade zurückbekommen hat Wichtig ist, dass die polnische Stimme gehört und nicht übergangen wird, denn diese Erfahrung, nicht gehört zu werden, kennen wir viel zu gut.
Praktisch gesehen: Polen ist schon von der Bevölkerungszahl her ein großes Land. Polen ist für die gesamte Region in Osteuropa von wichtiger Bedeutung. Ich will nicht sagen, dass Polen eine führende Rolle spielt, aber es kennt die Region sehr gut. Das sehen wir jetzt im Krieg in der Ukraine. Jetzt sehen viele Deutsche, die Polen und die Balten hatten recht mit dem, was sie über Russland sagten, über die Bedrohung der Ukraine, der baltischen Staaten, Polens durch die Russische Föderation. Es ist die polnische Erwartung, dass man solche Perspektiven berücksichtigt.
Norbert Reichel: Nach dem 24. Februar 2022 haben Sie eine Sonderuntersuchung des Deutsch-Polnischen Barometers in Auftrag gegeben, die zeigte, dass die deutschen Einschätzungen russischer Bedrohungen sich den polnischen Bewertungen angenähert hatten.
Agnieszka Łada-Konefał: Das stimmt und ist auch sehr wichtig. Es war in den vorangegangenen Befragungen schon ein Thema. Die Pol*innen waren sehr kritisch, hatten auch Angst vor Russland. Die Deutschen waren viel vertrauensvoller gegenüber Russland, hatten viel weniger Angst. Das hat sich nach dem russischen Angriff auf die Ukraine angenähert. Das ist ein Kapital, das die beiden Länder jetzt haben und nutzen können. Daraus müssen die richtigen Schlussfolgerungen gezogen werden, dass man zusammenarbeiten muss, dass die Deutschen darauf hören, was Pol*innen denken und warum sie so denken. Sie sollen sich von der polnischen Perspektive im Osten inspirieren lassen.
Streitkulturen, Emotionen, Frames und Metaphern
Norbert Reichel: Und die polnische Seite?
Agnieszka Łada-Konefał: Natürlich muss auch die polnische Seite etwas leisten, ihre Position noch besser erklären. Es gibt viele Unterschiede in der Kommunikation. Polen kommunizieren emotionaler als Deutsche. Das ist historisch geprägt. Die Deutschen argumentieren faktenorientierter. So versteht man sich oft nicht, sondern argumentiert an einander vorbei.
Norbert Reichel: Sind die Deutschen wirklich so faktenorientiert?
Agnieszka Łada-Konefał: Wenn man sich Verhandlungen, Austausch, Gespräche anschaut, hören wir oft von der deutschen Seite den Vorwurf, die Pol*innen wären zu emotional, wo sind ihre inhaltlichen Argumente? Das ist natürlich von der Situation abhängig.
Norbert Reichel: Auch eine Temperamentfrage?
Agnieszka Łada-Konefał: Auch. Ja. Wir haben gerade eine Studie über deutsche und polnische Kommunikation herausgegeben, die Presse analysiert. Da merkt man schon, welche unterschiedlichen Kommunikationsstile in beiden Ländern eine Rolle spielen. In den polnischen Texten gibt es viel mehr Emotionen, viel mehr Metaphern, in Deutschland ist der Stil sachlicher und ruhiger. Das lässt sich gut beobachten, wenn man in politischen Talkshows sieht, wie sich Polen streiten, gerade jetzt, wo sich eine starke Polarisierung hochschaukelt. Das ist auch eine Temperamentfrage.
Norbert Reichel: Das sagen Sie als Polin?
Agnieszka Łada-Konefał: Ich sage das als Polin und als Wissenschaftlerin, die das untersucht hat. Wenn man die Texte analysiert, nach Redewendungen, Metaphern sucht, sieht man, dass in den polnischen Texten in Bezug auf Deutschland Kriegsrhetorik eine wichtige Rolle spielt. Da lesen wir vom „deutschen Angriff auf Polen“ und es geht nicht um 1939! Wenn jemand aus Deutschland etwas gesagt hat, heißt es, die Deutschen belehren uns wieder, wollen uns angreifen. Neben der Kriegsrhetorik ist es das Lehrer-Schüler-Verhältnis. In Deutschland ist die Sprache gewogener.
Norbert Reichel: Es kann natürlich auch einfach sein, dass man sich mit solchen Metaphern abreagiert, sodass Brüssel oder Berlin als neues Moskau erscheint. In Wirklichkeit ist man aber Europa sehr zugeneigt.
Agnieszka Łada-Konefał: Das schon. Man muss das heutige Klima auch so verstehen, dass es in Polen politische Kräfte gibt, die immer nach einem Feind suchen. Deutschland war in der Geschichte immer schon der Feind, und das lässt sich dann wieder hochschaukeln. Das ist natürlich sehr einfach.
Norbert Reichel: Eine solche Phase haben wir zurzeit. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass die polnische Regierung von Deutschland Reparationen fordert.
Agnieszka Łada-Konefał: Die Polen machen sich schon große Sorgen, die Deutschen hätten vergessen, was sie den Polen angetan haben, oder dass die Deutschen Hegemon in Europa sein wollten. Darüber haben wir schon gesprochen. Solche Bilder sind wichtig für die Innenpolitik in Polen. Das muss man nicht außenpolitisch betrachten, sondern innenpolitisch. Damit sollen bestimmte Kreise von Wähler*innen erreicht werden.
Vom Lehrer-Schüler-Verhältnis zur Partnerschaft
Norbert Reichel: Und das verstehen die Deutschen nicht, weil sie ja von sich sagen, sie wären alle so brav und sie wollen doch alle so friedlich wie die Schweiz sein. Jürgen Habermas hat vor über 40 Jahren mal in einem Text von einer „Verschweizerung Europas“ gesprochen, an der auch Deutschland arbeite. Natürlich ist die „Schweiz“ in solchem Sprachgebrauch nicht die reale Schweiz, sondern eine Metapher.
Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Deutschen Dinge, über die sie mal selbst nachdenken sollten, Polen zuschieben. Ein konkretes Beispiel: in der unsäglichen Serie „Unsere Mütter unsere Väter“ wurde der Antisemitismus auf den Polen verschoben, die deutschen Hauptpersonen, mit denen sich das deutsche Publikum identifizieren sollte, hatten damit nichts zu tun. Die BILD-Zeitung titelte „Waren wir wirklich so?“ Das war eine rhetorische Frage, denn natürlich war es nach Ansicht der BILD-Zeitung so. Diverse Studien wie die MEMO-Studien zur Erinnerungskultur bestätigen diese Tendenz.
Agnieszka Łada-Konefał: Das ist die große Sorge in Polen, die Täter-Opfer-Umkehr. Die genannte Serie ist ein gutes Beispiel. Denn die Polnische Untergrundarmee hat Widerstand geleistet, viele haben auch Juden und Jüdinnen geholfen. Natürlich gab es Ausnahmen, aber das war im Vergleich eine Minderheit. Man denkt sich in Polen schon, dass die Deutschen nur die positiven Seiten ihrer Vergangenheit zeigen und das, was sie in Polen und anderswo angerichtet haben, ist vergessen.
Norbert Reichel: In diesem Zusammenhang frage ich mich oft, warum in Deutschland bei der Frage der Kollaboration mit den Nazis immer nur auf Polen oder auf die Ukraine geschaut wird, nicht aber nach Westen, nach Frankreich. Dort gab es eine massive Kollaboration, nicht nur im Rahmen des sogenannten „unbesetzten Frankreichs“ mit der Regierung in Vichy.
Agnieszka Łada-Konefał: Es ist für die Polen wichtig, dass man das Thema Kollaboration im Kontext sieht. Sonst ist es schon eine grobe Vereinfachung.
Norbert Reichel: Wie sieht man in Polen die Rolle Deutschlands in Europa?
Agnieszka Łada-Konefał: Mit der Rolle Deutschlands in Europa hat man schon ein Problem. Teile der polnischen Eliten – es ist schon eine Diskussion unter Eliten – wünschen sich, dass Deutschland ein Motor der Integration ist, sich auch in der Sicherheitspolitik stark beteiligt. Die Erwartung, dass Deutschland an die Ukraine Waffen liefert, ist sehr stark. Es gibt allerdings auch eine Gruppe in der polnischen Elite, die sagt, Deutschland dürfe nicht zu stark sein, denn es sei auch immer eine Bedrohung für Polen gewesen. Deutschland ist – so sagen andere – keine große Schweiz und von einer sicherheitspolitischen, militärischen Stärke Deutschlands kann auch Polen profitieren, dazu brauchen wir aber auch polnisches Engagement, Bereiche, in denen eine Zusammenarbeit möglich ist, gibt es genug.
Norbert Reichel: Nordstream 2 ist da natürlich kein gutes Beispiel.
Agnieszka Łada-Konefał: Das ist für die Polen ein Beispiel, wie man die polnische Stimme nicht berücksichtigt, sie sogar ausgelacht hat. Das ist für die Polen ein Beispiel für den deutschen Oberlehrer, der alles immer besser wissen will. Mit der Solidarität sind die Deutschen nicht so weit wie sie sagen. Es war in Polen klar, dass diese Gas-Pipeline eine Bedrohung für mehrere europäische Länder war und wie wir jetzt sehen auch für die deutsche Energiepolitik. Das wollten die Deutschen aber lange Zeit nicht glauben. Es ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis. Es stimmt natürlich, dass Deutschland Polen auf seinem Weg in die EU sehr unterstützt hat, dass wir oft von den deutschen Erfahrungen gelernt haben. Jetzt hat sich das geändert. Als Mitglieder der EU sind wir Partner, aber für die Deutschen ist es immer noch schwer, aus der Oberlehrer-Rolle herauszukommen. Für die Pol*innen ist das auch nicht einfach. Gut, im Fall der russischen Bedrohung hatten wir mal recht. Wir haben Waffen geliefert, wir haben Solidarität mit den ukrainischen Migranten gezeigt und können sagen – jetzt sind wir, die Polen, der Lehrer, der Vorbild sein kann. Die beiden Seiten tun sich aber noch schwer die neue Rollenverteilung in diesem Fall zu akzeptieren. Sie sind auch noch nicht so weit, sich durchweg als Partner zu verstehen.
Manche haben das in den letzten Monaten geschafft. Damit meine ich deutsche und polnische Kommunen. Hier haben wir ein tolles Beispiel, wie man für die Ukraine zusammengearbeitet hat. Deutsche Bürgermeister*innen haben in Polen angerufen und gefragt, ihr wisst, was die Ukrainer brauchen, wir wollen von euch wissen, wie wir helfen können. Das waren Bürgermeister*innen, das waren Vertreter*innen von Vereinen, aus der Zivilgesellschaft. Das waren partnerschaftliche Beziehungen. Die Deutschen haben sich von den Polen hinweisen lassen, die Ukrainer haben davon profitiert. Oder ein weiteres Beispiel: eine ukrainische Stadt, die in Polen eine Partnerstadt hat, hat diese gefragt, wie sie eine deutsche Partnerschaft fänden. Die polnische Stadt hat eine deutsche Stadt vermittelt.
Norbert Reichel: Und so entstand ein Dreieck zwischen Deutschland, Polen und der Ukraine, dank polnischer Vermittlung. Auf der Ebene der Kommunen und der Zivilgesellschaft gibt es viele Initiativen der Zusammenarbeit, auf die man richtig stolz sein kann.
Agnieszka Łada-Konefał: Die kommunale Ebene ist ein gutes Beispiel, wie sich Partnerschaft gut entwickelt hat und entwickeln kann. Die Prozesse sind gelaufen, wie gesagt: in den 1990er Jahren haben die Deutschen den Polen geholfen, aber in den letzten Jahren haben Deutsche auch erfahren, dass sie etwas von den Polen lernen können. Das ist eine gute Entwicklung, die auch auf der höchsten Ebene geschätzt werden sollte.
Kontroversen und Umbrüche
Norbert Reichel: Ich möchte einige kontroverse Themen nennen, die in den deutschen Medien immer eine wichtige Rolle spielen und das Bild von Polen in Deutschland maßgeblich beeinflussen. Ich denke an die Debatten in Polen um die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch. Polen hat jetzt eine im internationalen Vergleich sehr restriktive Gesetzgebung. Restriktiver ist sie im weltweiten Vergleich vielleicht noch in Nicaragua und El Salvador sowie nach dem Urteil des Supreme Court in einigen Staaten der USA. Als ich mich etwas näher mit diesem Thema beschäftigte, sah ich, wie viele zivilgesellschaftliche Organisationen es gibt, die sich hier eindeutig gegen die polnische Gesetzgebung positionieren und dies auch öffentlich kundtun. Dabei geht es ja nicht nur um dieses eine Thema, sondern den gesamten Kontext der Geschlechtergerechtigkeit.
Agnieszka Łada-Konefał: Hier ist die Polarisierung in der polnischen Politik sehr deutlich spürbar, da ist die konservative Seite, die die heutige polnische Regierung stellt, dort die liberale progressive Seite, die die Opposition stellt. Die von der PiS (Prawo i Sprawiedliwość, zu Deutsch: Recht und Gerechtigkeit) geführte Regierung hat die Regelungen sehr stark verschärft, es gab aber auch sehr viele zivilgesellschaftliche Proteste. Das zeigt, dass die Bevölkerung viel liberaler ist als die Regierung es sich wünscht.
Die konservative Seite hat, mathematisch gesehen, in der Bevölkerung keine Mehrheit. Die Regierungsparteien erreichen in den Umfragen ein bisschen mehr als 30%. Die Regierung möchte mit solchen Maßnahmen ihre Kernwähler*innen, die konservativ sind, ansprechen. Es geht auch um einen Streit im rechten Lager. Rechts von der PiS gibt es die Solidarna Polska (Solidarität Polens), die sehr radikal und konservativ ist. Die PiS will zeigen, dass sie nicht weniger konservativ ist. Es geht nur um wenige Prozentpunkte der Wähler*innen, aber die sind am Ende für die Mehrheit im Sejm, dem polnischen Parlament relevant. Zum Beispiel hat die Regierungskoalition (PiS und Solidarna Polska) zurzeit nur ein paar Sitze mehr als die gesamte Opposition. Aufgrund des Wahlsystems, das den größeren Parteien mehr Sitze im Parlament gibt, kann eine Partei, die nicht die Mehrheit, sondern nur die größte Gruppe der Wähler*innen hinter sich hatte, die Regierung aufstellen. Aber die Zivilgesellschaft ist sehr stark, die Proteste haben gezeigt, ein großer Teil der Pol*innen ist mit solchen Reformen wie die von Ihnen erwähnte Reform des Abtreibungsgesetzes nicht einverstanden.
Norbert Reichel: In Ihrem neuen Jahrbuch 2022 habe ich gelesen, wie sehr die polnische Kirche gespalten ist. Auch unter den Bischöfen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Wie in anderen Ländern auch?
Agnieszka Łada-Konefał: Schon, aber das lässt sich nicht vergleichen. In der Tat :die Kirche ist sehr gespalten, es gibt progressive und konservative Priester und Bischöfe. Aber die progressive Seite der Kirchen in Polen ist nicht so progressiv wie diese Seite in Deutschland. Vor allem möchte ich betonen, dass die Kirche in den größeren Städten vielfältiger ist. In den größeren Städten kann man sich aussuchen, in welche Kirche man geht und in welche Messe zu welchem Priester. In Polen gibt es sonntags in den Kirchen immer fünf oder sechs Gottesdienste pro Tag, auch in mittleren und kleineren Städten. Das ist in Deutschland anders, dort gibt es oft nur eine Messe am Sonntag. Da kann man sich in Polen schon entscheiden, ob man Politik in der Kirche will oder nicht. Das tun natürlich nur die Reflektierten. Auf dem Land hat man diese Wahl nicht. Die Priester spielen da immer noch eine wichtige Rolle. Darauf setzen viele Politiker.
Norbert Reichel: In den 1960er Jahren wurden vor Wahlen in Westdeutschland, in der BRD, sogenannte „Hirtenbriefe“ verlesen, in denen es auch Wahlaufrufe gab. Es war schon ziemlich klar, wen Christ*innen wählen sollten und wen nicht.
Agnieszka Łada-Konefał: Das passiert in Polen immer noch bei einigen Gottesdiensten. Es wird nicht konkret gesagt, welche Partei, aber welche Positionen man zur Grundlage der Wahlentscheidung machen sollte. Aber man muss auch sagen, es gibt sehr gute katholische Zeitungen und Zeitschriften, die eine progressive Seite der Kirche zeigen und auch sehr kritisch dazu stehen, wenn jemand Politik mit Glauben vermischt. Die Kirche verliert zurzeit viele Menschen, gerade unter jungen Leuten. Das ist ein Riesenproblem. Damit muss sich die polnische Kirche auseinandersetzen, sie muss darüber nachdenken, wie sie für junge Leute attraktiv ist.
Norbert Reichel: Wenn ich das, was wir besprochen haben, zusammenfassen darf, verstärkt sich mein Eindruck, dass sich die polnische Gesellschaft in einer Umbruchsituation befindet. Niemand kann erwarten, dass sich seit dem 4. Juni 1989 auf einen Schlag alles in Polen so gestaltet wie wir das aus dem Westen kannten.
Ich erlaube mir zum genannten Datum einen kleinen Exkurs: vielleicht darf ich sagen, dass ich den polnischen 4. Juni 1989 für bedeutender halte als den 9. November, denn ohne den 4. Juni 1989, ohne die ersten zumindest halbwegs freien Wahlen in Polen und ohne den Amtsantritt eines nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten, wäre es zum 9. November vielleicht gar nicht gekommen und möglicherweise wäre dann der chinesische 4. Juni 1989 zum Vorbild der DDR-Führung geworden. Aber das ist Spekulation. Aber ich denke schon, ohne die Ereignisse in Polen und in Ungarn wäre es nicht zum Mauerfall gekommen, zumindest nicht so schnell.
Die heutige Umbruchsituation in Polen entwickelte sich meines Erachtens nicht linear, wohl aber in Phasen, einer Aufbruchphase, dann einer langjährigen Erfahrung, dass die polnische Stimme doch nicht so sehr geachtet wurde wie dies hätte geschehen sollen, einer Stimmung, die stark davon geprägt ist, dass im Osten Russland als Bedrohung erlebt wird, dass im Westen die polnische Furcht nicht so ernst genommen wird wie sie hätte ernst genommen werden müssen. Jetzt gibt es eine sehr pro-europäische Haltung in Polen, wohl aber auch Widersprüche angesichts der genannten Erfahrungen mit einem oberlehrerhaften Deutschland und einer ebenso oberlehrerhaft erscheinenden EU-Kommission, der zu allem Überfluss auch noch eine Deutsche präsidiert. Davon ahnen viele in Deutschland nichts.
Agnieszka Łada-Konefał: Schwierig machen es eben all die Vereinfachungen, die ein negatives Bild von Polen vermitteln, aber nicht zeigen, wie vielfältig Polen ist. Vielleicht passt der Begriff der „Vielfalt“ hier sogar besser als der Begriff des „Umbruchs“. Aber das was in Polen geschieht, hat von beidem etwas.
Die Wahlen zum Sejm 2023 – ein Ausblick
Norbert Reichel: Wenn nach Polen gefragt wird, kennen viele gerade einmal den Parteichef der PiS, Jarosław Kaczyński, der in Deutschland – vorsichtig gesprochen – keine gute Presse hat. Manche kennen vielleicht noch den Namen des Staatspräsidenten Andrzej Duda. Von der polnischen Zivilgesellschaft, den Oppositionsparteien, den regierungskritischen Medien, erfahren wir viel zu wenig. Allenfalls der Oppositionsführer Donald Tusk ist aus seiner EU-Tätigkeit noch bekannt. Tusk führt jetzt wieder die Platforma Obywalteska (deutsch: Bürgerplattform).
Agnieszka Łada-Konefał: Das ist die stärkste Oppositionspartei. Dann gibt es noch die Linke Partei, die Partei Polen 2050 von Szymon Hołownia, der sich als unabhängiger Kandidat ziemlich erfolgreich für das Amt des Präsidenten beworben hatte. Es gibt noch eine kleine Volkspartei. Es ist die Frage, in welcher Formation sich die Parteien bei den kommenden Wahlen im Jahr 2023 zusammentun. Die Opposition muss sich entscheiden, ob sie in einer einheitlichen Liste auftritt oder mit mehreren Listen. Wichtig ist, dass sich liberale und linke Parteien verständigen, gemeinsam eine Regierung zu bilden, wenn sie die PiS abwählen wollen.
Bei der Wahl kommt es auch darauf an, wer wählen wird. Zwischen PiS und PO gibt es wenig Austausch, aber es ist die Frage, wie viele Wähler sich abschrecken lassen und lieber zu Hause bleiben. Es gibt viele Menschen, die nicht zur Wahl gehen. Und hier liegt die Herausforderung bei den Parlamentswahlen. Es gibt eine Inflation von etwa 16 Prozent, steigende Energiekosten, viele Proteste im Gesundheits- und im Schulsystem von Lehrern und Ärzten, weil die Ausstattung nicht ausreicht und das Gehalt sehr schlecht ist. Viel kann noch bis zum Herbst 2023 passieren.
Norbert Reichel: Ich finde es sehr interessant, dass in den letzten Jahren in mehreren Ländern sehr konservative und rechte Parteien mit anspruchsvollen Sozialprogrammen angetreten sind und damit auch erfolgreich waren. Das ist in Ungarn so, auch im Westen mit dem Rassemblement National in Frankreich oder den Schwedendemokraten. Sozialprogramme sind ein Gewinnerthema. Liberale Parteien achten oft viel zu wenig auf die Bedeutung solcher Programme. Meine Sorge: Sozialprogramme und Freiheitsrechte werden gegeneinander ausgespielt.
Agnieszka Łada-Konefał: Das stimmt. Für viele Bürger ist es wichtig, wie viel Geld man hat, wie viel man verdient, welche Sozialprogramme es gibt. Im Fall Polen zeigt man auf dem Beispiel Kindergeld, das von der PiS eingeführt wurde, oder der Mindestlohn, die erhöht wird. Für viele sind Justizreformen, Freiheitsrechte, Übernahmen von Medien nicht so wichtig. Das merken sie im Alltag nicht, wohl aber steigende Preise. Die PiS ist wirtschaftlich sehr sozial, in Wertefragen sehr rechts. Es ist in Polen sehr schwer, etwas anzubieten, um die PiS-Versprechen zu verdecken oder zu übertreffen. Das Budget hat auch Grenzen. Es ist nicht so, dass sich Polen kein Kindergeld leisten könnte, aber für viele stellt sich auch die Frage, ob man mehr in die Schulen oder für Kinderärzte investieren sollte, denn davon profitieren dann alle. Auch mit dem 13. und dem 14. Monat bei der Rentenzahlung verhält es sich so. Viele haben sehr kleine Renten und das ist gut, dass sie ein bisschen mehr bekommen. Aber kann der Staat es sich leisten, fragen viele Das ist gerade für die PiS-Wählerschaft eine wichtige Sozialleistung. Hier haben die Oppositionsparteien schon gesagt, sie wollen keine Sozialleistungen kürzen. Sie wissen, das würden die Wähler*innen nicht gerne hören.
Norbert Reichel: In Ungarn verbreitete die regierende FIDESZ die Falschmeldung, die Opposition wolle Sozialleistungen abschaffen. Damit gewann sie die Wahl.
Agnieszka Łada-Konefał: So versucht es die PiS auch und droht, Sozialleistungen würden weggenommen, wenn die PO an die Macht käme. Die PO widerspricht.
(Erstveröffentlichung im Oktober 2022, Internetzugriffe zuletzt am 23. September 2022. Das Titelbild zeigt Kattowitz, Quelle: pixabay. Alle anderen Bilder wurden mir freundlicherweise von Agnieszka Łada-Konefał zur Verfügung gestellt, Rechte beim Deutschen Polen-Institut.)