Priorität Menschenrechte

Ein Gespräch mit dem Außen- und Menschenrechtspolitiker Max Lucks MdB

„Auch eine Faust war einmal eine geöffnete Hand.“ (Titel eines Gedichtbandes von Yehuda Amichai, übersetzt von Alisa Stadler, München / Zürich, Piper, 1994)

Seit 2021 ist Max Lucks Mitglied des Deutschen Bundestages. Er ist Obmann von Bündnis 90 / Die Grünen im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe und Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. Er befasst sich unter anderem mit dem Irak, dem Iran und der Türkei. Max Lucks war vor seiner Tätigkeit im Deutschen Bundestag unter anderem Co-Vorsitzender der Grünen Jugend.

Wir lernten uns am 31. Juli 2024 bei einem taz-Tak zum zehnten Jahrestag des Völkermords an den Êzîd:innen vom 3. August 2014 kennen und haben uns im Anschluss zu einem Gespräch verabredet, das hier dokumentiert wird. Er war einer der Initiator:innen eines Beschlusses des Deutschen Bundestages, mit dem dieser am 19. Januar 2023 auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP den „Völkermord an den Êzidinnen und Êzîden“ anerkannte (ausführlich zum Völkermord an den Êzîd:innen siehe meinen Essay „Weil sie Êzîd:innen sind“). In dem hier dokumentierten Gespräch haben wir uns über Prioritäten in der Außen- und Menschenrechtspolitik sowie über Konflikte zwischen innen- und außenpolitischen Anliegen ausgetauscht. Dabei spielten auch innenpolitische Debatten und Erkenntnisse aus Reisen in den Mittleren und Nahen Osten sowie Erfahrungen und Gespräche im Wahlkreis eine Rolle.

Die Lage der Êzîd:innen im Lichte außenpolitischer Debatten

Norbert Reichel: Welche Stimmung, welche Debattenkultur erleben Sie im Auswärtigen Ausschuss beim Thema Menschenrechte?

Max Lucks bei einem Besuch in Lalisch (Autonome Region Kurdistan). Foto: MdB-Büro Max Lucks.

Max Lucks: Als Menschenrechtspolitiker der Grünen im Auswärtigen Ausschuss erlebe ich es als etwas sehr Wertvolles, dass dieses Thema dort viel präsenter ist als man dies in der Öffentlichkeit denkt, im Grunde in jedem Tagesordnungspunkt. Das Engagement ist parteiübergreifend. Zum Beispiel gibt es zur Lage der Êzîd:innen auch von Kolleg:innen der CDU und CSU viel Unterstützung, sich dafür einzusetzen, dass Êzîd:innen eines Tages wieder in ihre Region zurückkehren und dort in Sicherheit und in Frieden leben können. Ich erlebe daher die Arbeit im Ausschuss viel konstruktiver als in der Öffentlichkeit. In der Öffentlichkeit erlebe ich oft, dass von einer Grünen Außenministerin erwartet wird, dass sie für alles einen Zauberstab hat. Den hat natürlich niemand.

Norbert Reichel: Schon aus dem Grund, dass Deutschland als Mitgliedstaat der Europäischen Union, des Europarates und der NATO nicht alleine entscheidet und selbst wenn dies der Fall wäre, nicht die Macht und den Einfluss hätte, die Dinge so zu regeln wie sie im Sinne der Menschenrechte geregelt werden müssten.

Max Lucks: Das spielt natürlich eine Rolle. Bezogen auf die Lage der Êzîd:innen in Deutschland und darauf, dass sie immer noch nicht in ihre Heimatregion in Şingal zurückkehren können, weil diese völlig destabilisiert ist, hat das auch damit zu tun, dass man sich viel zu spät und auch nicht strategisch positioniert hat. Erst in den letzten Jahren hat man angefangen, für den Westen, für Europa eine gemeinsame Strategie für die Şingal-Region zu entwickeln. Das ist eine Region, in der unfassbar viele Akteure versuchen, Einfluss zu nehmen: die Türkei, der Iran, der Irak, die kurdischen Akteure, die PKK im Bündnis mit dem Iran. Es ist sogar wahrscheinlich, dass die Instabilität in der Region mit den weiteren Krisen zunimmt. Diese Instabilität wird aber nicht nur von außen in die Region hineingetragen. Die Zentralregierung im Irak hat kein Interesse, dort zu einem Frieden zu kommen, sondern unternimmt international alles, um einen nachhaltigen Friedensprozess zu verhindern. Niemand weiß, welche Ziele sie verfolgt, aber klar ist, dass sie nicht in der Lage ist, auf ihrem eigenen Territorium für Sicherheit und Frieden zu sorgen.

Norbert Reichel: Sie sprachen von einem Bündnis der PKK mit dem Iran. Andererseits weiß ich, dass am 3. August 2014 und in den darauf folgenden Tagen die PKK als einzige Organisation Êzîd:innen bei der Flucht aus der Region vor dem Terror des sogenannten „Islamischen Staates“ geholfen hat. Alle anderen hatten sich aus dem Staub gemacht.

Max Lucks: Das ist richtig. Wir haben die folgende Situation: Als die Êzîd:innen überfallen wurden, sind die Peschmerga-Kräfte der Regionalregierung abgezogen. Allerdings hatten Kräfte der YPG im Bund mit der PKK versucht, einen sicheren Korridor zu schaffen. Das muss man würdigen und anerkennen. Das haben wir auch bei der Anerkennung des Völkermordes an den Êzîd:innen im Deutschen Bundestag getan. Gleichzeitig müssen wir sehen, dass die PKK sich von einem monolithischen Block weg entwickelt. In Bezug auf Şingal stellen wir fest, dass wir es mit drei unterschiedlichen Strömungen zu tun haben. Wir haben die PKK-Ableger im Verbund mit den YPG-Streitkräften aus Syrien. Mit dieser Gruppe sind auch gute Verhandlungen möglich. Wir haben die êzîdischen Selbstverteidigungskräfte, gegen deren Engagement wir auch nichts einwenden können. Aber wir haben – und das ist das zentrale Problem – auch die PKK-Kampfeinheiten der HPG, die mit dem Iran kooperieren und sich auch immer wieder in den Iran zurückziehen, um sich dort ausbilden zu lassen und ihre strategischen Fähigkeiten zu weiten. Diese sind für die Türkei ein besonderer Dorn im Auge und für diese ein Grund, Bombardierungen im Şingal durchzuführen. Wir müssen auch sehen, dass diese Teile der PKK nicht nur mit dem Iran, sondern auch mit einem Teil der irakischen Regional- und Zentralregierung im Bündnis stehen, und dort Macht und Druck gegenüber den Barzanis aufbauen wollen. Das lässt sich nicht lösen, wenn man den êzîdischen Selbstverwaltungsanspruch in der Şingal-Region vergisst. Daher muss man mit der PKK und den HPG-Ablegern der PKK darüber verhandeln, dass die Êzîd:innen den Şingal selbst verwalten können.

Norbert Reichel: Das ist interessant, denn die PKK wird in Deutschland und in der Europäischen Union pauschal als Terrororganisation geführt. Sie sagen, PKK und PKK sind nicht dasselbe.

Max Lucks: In der Europäischen Union wird die klassische PKK als Terrororganisation eingestuft. Da sind zum Beispiel diejenigen, die illegales Glücksspiel betreiben und Schutzgelder eintreiben. Diese PKK-Strukturen gibt es bei uns in Deutschland. Es gibt aber auch Teile der PKK, die sich auf den Weg einer Demokratisierung gemacht haben. Es ist wichtig zu wissen, dass die YPG-Kräfte in Syrien nicht identisch mit der PKK sind. Das ist immens wichtig. Einige Länder sind da viel weiter. Frankreich und Großbritannien kooperieren viel mehr mit der YPG. Das sollten wir auch tun.

Es stellt sich auch die Frage nach den jüngsten Entwicklungen in der Türkei, ob nicht ein neuerlicher türkisch-kurdischer Friedensprozess möglich wäre. Nun gab es das Attentat in Ankara vom 30. September 2024, aber dieses Attentat zielte darauf ab, eine solche Aussöhnung zu verhindern. Es gibt auch in der türkischen Regierung viele, die, aus welchen Gründen auch immer, einen Friedensprozess verhindern wollen. Wenn es zu einem solchen Prozess kommt, sollten wir ihn aktiv unterstützen. Für uns als Land mit der größten êzîdischen Diaspora der Welt muss aber klar sein: Wenn es einen Frieden geben soll, dann sollte Şingal einer der ersten Orte sein, an dem dieser umgesetzt wird.

Norbert Reichel: Zurzeit erleben wir, dass Êzîd:innen, die nach Şingal zurückkehren, dort in Häuser zurückkehren müssen, in denen auch die vormaligen Täter leben.

Max Lucks: Der IS ist nach wie vor aktiv. Es gibt keine funktionierende Infrastruktur. Die Zivilbevölkerung leidet unter den Bombardierungen und es gibt kein funktionierendes Krankenhaus. Şingal ist für Êzîd:innen nicht sicher. Auch andere Regionen im Irak sind für sie gefährlich. In der Region Dohuk sollen zum Beispiel 100.000 Êzîd:innen leben. Es gibt aber kein einziges êzîdisches Restaurant, weil die Menschen dort nicht bereit sind, überhaupt bei Êzîd:innen essen zu gehen.

Türkische Zustände

Norbert Reichel: Sie erwähnten bereits, dass die Türkei eine Menge zur Instabilität in der Region beiträgt. Im Ruhrgebiet leben viele Türk:innen, viele Menschen, die die deutsche und die türkische Staatsbürgerschaft haben, aber auch einige, die nur die türkische haben. Welche Stimmung erleben Sie in diesen Communities, von denen ein Teil ja auch nationalistische und rechtsextremistische Elemente vertreten?

Max Lucks: Es gibt natürlich unheilige Allianzen. In meinem Nachbarwahlkreis in Dortmund gibt es das Büro des Neonazis Matthias Helferich, ein Dreh- und Angelpunkt auch für die rechtsextremen türkischen Grauen Wölfe. In meiner Nachbarschaft in Bochum gibt es auch viele Vorbehalte, wir haben aber daneben viele Freundschaften zwischen Êzîd:innen und Muslim:innen. Die Leute in meinem Wahlkreis interessieren sich allerdings weniger für Außen- und Menschenrechtspolitik, sondern für Sozial- und Wohnungspolitik. Viele gehören inzwischen zur Mittelschicht dieses Landes und interessieren sich viel mehr für ökonomische Fragen. Es gibt natürlich gerade hier im Ruhrgebiet viele Menschen, die aus der Schwarzmeerecke kommen, wo Erdoǧan eine hohe Zustimmung erfährt. Das schlägt sich in den Einstellungen nieder, aber es hält sie nicht davon ab, sich mit Deutschland zu identifizieren. Ich habe eher ein positives Gefühl. Ich bin da gelassen.

Diejenigen, die sich als Türk:innen verstehen, vertreten viele verschiedene Meinungen und Interessen. Wir hatten zuletzt zum zehnten Jahrestag des Völkermords an den Êzîd:innen in Bochum eine Gedenkveranstaltung, an der die êzîdische Gemeinde, die türkische Gemeinde, die kurdische Gemeinde, die alevitische Gemeinde und die jüdische Gemeinde gemeinsam teilnahmen. Hier in der Diaspora entstehen breite Bündnisse.

Wir haben natürlich mit der Türkei ein Problem, weil diese ein Land ist, mit dem wir engste Verflechtungen haben und mit der wir eigentlich Kooperation wollen, was aber nicht möglich ist, weil bestimmte Grundsätze nicht geteilt werden. Zum Beispiel ist nicht klar, ob die Türkei in den nächsten Jahren noch Mitglied des Europarats bleiben kann, obwohl sie schon länger Mitglied ist als Deutschland. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden in der Türkei einfach nicht umgesetzt. Kurdische Oppositionspolitiker, darunter die beiden Vorsitzenden der HDP Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdaǧ sind seit über acht Jahren in Haft. Seit sieben Jahren ist Osman Kavala in Haft. Ich würde mit der Türkei viel lieber über Visaerleichterungen sprechen als darüber, dass sie doch endlich ihre politischen Gefangenen freilassen sollen.

Norbert Reichel: Das wird Erdoǧan nicht tun.

Max Lucks: Meinen Sie?

Norbert Reichel: Warum sollte er?

Max Lucks: Weil die Europäische Union das zur Priorität macht. Die EU redet mit der Türkei so unglaublich oft über Zypern und stellt so unglaublich viele Bedingungen, dabei ist das ein Punkt, bei dem sich die EU selbstkritisch fragen sollte, was man da eigentlich gemacht hat. Gerade im Lichte möglicher türkisch-kurdischer Friedensverhandlungen müssten die Menschenrechte, die Freilassung der politischen Gefangenen in der Türkei doch zur Bedingung gemacht werden können.

Wir müssen nicht nur deshalb auch dafür sorgen, dass die Europäische Union auch der Europäischen Menschenrechtskonvention beitritt, allein schon deshalb, damit der institutionelle Rahmen abgesteckt wird und man gemeinsame Linien vertreten kann. Mitglieder sind die 46 Mitgliedstaaten des Europarates einschließlich der 27 EU-Mitglieder. Man muss Mitglied des Europarates und der Europäischen Menschenrechtskonvention sein, um Mitglied der EU zu werden, aber die EU ist selbst nicht Mitglied.

Stimmungswandel in Deutschland?

Norbert Reichel: Die Arbeit im Außenausschuss ist das eine, eine andere ist die Arbeit im Innenausschuss des Bundestages. Als wir uns beim taz-Talk über den zehnten Jahrestag des Völkermordes trafen, sagten Sie: „Schöne Grüße an Nancy Faeser“. Anlass waren Abschiebungen von Êzîd:innen in den Irak. Etwa 10.000 Êzîd:innen sind von Abschiebung bedroht. Nancy Faeser will die Zahlen der Abschiebungen hochtreiben. Da scheint es ihr egal zu sein, was sie damit anrichtet.

Max Lucks: Ich bin Obmann der Grünen im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe im Deutschen Bundestag. In diesem Ausschuss stellen wir uns die Frage nach den Menschenrechten innerhalb von Deutschland. Wir haben dort immer wieder das Innenministerium zu Gast. Ich bleibe auch bei dem Vorwurf gegenüber dem Innenministerium, das auf eine geradezu dysfunktionale, rücksichtslose und antihumanitäre Weise Nancy Faesers PR-Kampagnen zur Steigerung der Abschiebezahlen betreibt. Ich habe im Sommer eine êzîdische Familie im Irak in der Ninive-Ebene getroffen, die dorthin zurückmusste – in die Region, in der sie verfolgt wurde.

Es ist unhaltbar und unaushaltbar, dass wir zu Lasten der Opfer des IS die Abschiebezahlen in Deutschland steigern. Wir haben zuletzt erlebt, dass in meiner Nachbarstadt Essen Leute mit IS-Flaggen demonstrierten, während ein paar Kilometer weiter am Düsseldorfer Flughafen die Opfer des IS in den Abschiebeflieger gesetzt wurden. Das kann doch nicht der Anspruch der deutschen Innenpolitik sein, aber es ist die Realität der Innenpolitik von Nancy Faeser. Meine Aufgabe als Bundestagsabgeordneter ist es in diesem Punkt, nicht in erster Linie die Regierung zu stützen, sondern die Regierung zu kontrollieren und das auch offen zu sagen.

Norbert Reichel: Fühlen Sie sich von der Außenministerin bei diesem Anliegen unterstützt?

Max Lucks: Ja. Ich habe das Gefühl, dass das Auswärtige Amt sehr klar ist. Die Außenministerin hat sich dazu im August auch deutlich geäußert. Eine große Unterstützung ist der Vizekanzler, auch nachdem Schleswig-Holstein, sein Bundesland, einen Abschiebestopp für Êzîd:innen beschlossen und als erstes Land eine eigene Aufnahmeanordnung für êzîdische Männer und Frauen durch den Landtag gebracht hat. Robert Habeck hat sehr klar gesagt, dass es zumindest einen bundesweiten Abschiebestopp für Êzîd:innen geben soll. Die grüne Partei hat darüber hinaus mit sehr großer Mehrheit beschlossen, dass wir im Aufenthaltsrecht einen eigenen Paragraphen für diese Menschen schaffen. Ich fühle mich sehr in meiner Partei unterstützt, auch von Abgeordneten der Union, beispielsweise von meiner sehr geschätzten Kollegin Serap Güler. Und ich darf sagen, dass ich viel Unterstützung in der Gesellschaft erhalte. Viele Menschen in unserer Gesellschaft äußern große Empathie für die Êzîd:innen und haben sehr wenig Verständnis für das rücksichtlose Vorgehen von Abschiebeministerin Nancy Faeser.

Norbert Reichel: Zum zehnten Jahrestag des Völkermords an den Êzîd:innen hatte ich den Eindruck, dass in den deutschen Medien viel mehr über dieses Thema berichtet wurde als in den Jahren zuvor. Die Frage ist natürlich, ob das andauert. Aber vielleicht ist das auch ein Zeichen, dass viele in unserer Gesellschaft über das Thema Abschiebungen differenzierter denken und nicht alles über einen Leisten schlagen. Nehmen Sie das auch wahr? Oder bin ich naiv?

Max Lucks: Ich halte das nicht für naiv. Es gibt eine große Sympathie für die Êzîd:innen in breiten Teilen unserer Gesellschaft. Es gibt relativ viel Verständnis für das Leid dieser Gruppe. Viele Konservative, mit denen ich spreche, sind stolz darauf, dass unser Land ihnen Schutz bietet. Wichtig ist, dass wir dieses Momentum nutzen, um noch mehr aufzuklären und auch mit einem gewissen Stolz darauf blicken, dass wir zum Beispiel zwischen Celle und Gütersloh das zweitgrößte êzîdische Siedlungsgebiet der Welt beheimaten.

Norbert Reichel: Eine sehr große Gruppe lebt zum Beispiel in Bielefeld. Und ich kann mir gut vorstellen, dass dies dazu führt, dass die Aufmerksamkeit für das Leid und für die Geschichte der Êzîd:innen in einer solchen Stadt steigt. Eher als in einer Region, wo vielleicht einmal eine einzelne êzîdische Familie lebt. Das spräche dafür, dass man Menschen, die aus einer bestimmten Region kommen, die einer bestimmten Gruppe angehören, möglichst nicht voneinander trennt. Etwas anderes ist natürlich die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen oder den sogenannten ANKER-Zentren, die seinerzeit Horst Seehofer hat einrichten lassen.

Max Lucks: In Erstaufnahmeeinrichtungen erleben Êzîd:innen oft das, was sie auch sonst erleben. Sie leben Tür an Tür mit ihren Peinigern. Sie treffen diese auf dem Gang, in der Küche, auf dem Hof, zu jeder Zeit. Sie erleben dort massive Diskriminierung und Stigmatisierung aus der islamistischen Szene.

Norbert Reichel: Ist das den Innenpolitiker:innen genauso bewusst wie den Politiker:innen, die sich für die Menschenrechte einsetzen? Ich denke auch an die Debatte, Asylanträge außerhalb der Grenzen der Europäischen Union zu bearbeiten. Den inzwischen gescheiterten Versuch von Giorgia Meloni, einige Männer in Albanien unterzubringen, halte ich noch für Symbolpolitik, zumal Albanien ja auch nicht so schlimm klingt wie Ruanda. Aber die Debatte ist nach wie vor aktuell und wird mit Sicherheit dazu führen, dass bestimmte Gruppen, darunter Êzîd:innen, in diesen Lagern genau das erleben, wovor sie geflüchtet sind.

Max Lucks: Unser Aufnahmesystem scheitert daran, Schutzbedürftige wirksam zu schützen, weil wir uns zu wenig Gedanken machen, wie dies möglich wäre und welche Herausforderungen es gibt. Das ist die eine Seite im System. Wir haben aber auch ein System, das chronisch unterfinanziert und überlastet ist. Wir haben in Deutschland viele Sozialarbeiter:innen, die höchst sensibilisiert sind, die auch einschreiten, wenn sie etwas mitbekommen. Man wird allerdings wohl nicht völlig verhindern können, dass es in Erstaufnahmeeinrichtungen zu Spannungen kommt. Wir müssen die Menschen unterstützen und würdigen, die dort hart arbeiten, um solche Spannungen aufzulösen.

Die Zukunft der Entwicklungspolitik

Norbert Reichel: Sie haben mehrfach die Region bereist. Eine andere Sache sind Ihre Reisen innerhalb Deutschlands, in denen Sie mit Menschen aus der êzîdischen oder auch aus anderen Communities Kontakt haben.

Max Lucks: Man merkt bei den Reisen immer noch, dass die Bundesrepublik Deutschland einen bestimmten Einfluss hat. Ich fand es sehr eindrucksvoll, jetzt, zehn Jahre nach dem Völkermord, im Irak zu sein. Vor Ort musste ich feststellen, dass der Wiederaufbau im Irak in Mossul, gesteuert von der Zentralregierung, funktioniert, aber in Şingal nicht. Dahinter sehe ich eine politische Absicht und es ist daher auch meine Aufgabe, dies gegenüber den Gesprächspartnern der Zentralregierung auszusprechen. Ich sah auch, dass die Gelder, die wir für den Wiederaufbau im Irak ausgeben, nicht unbedingt die geplante Wirkung entfalten. Wenn wir uns die fürchterliche Lage in den IDP-Camps ansehen, müssen wir unser eigenes Handeln immer wieder hinterfragen und darüber sprechen, was unsere Position ist und wie wir sie gegenüber der irakischen Zentralregierung vertreten. Wenn die Zentralregierung sich nicht um die Leute kümmert, tun wir das als Ort der größten êzîdischen Diaspora der Welt. So weit so gut. Aber was uns wirklich Sorgen macht, das sind die Spannungen zwischen der Zentralregierung und den Vereinten Nationen und der Abzug der UNITAD. Wir müssen wirklich sehr genau darauf achten, dass wir die Beweise, die UNITAD erhoben hat, langfristig sichern.

Norbert Reichel: Mit wem konnten Sie sprechen?

Max Lucks: In der Region Kurdistan im Irak ging das uneingeschränkt. Wir haben mit dem Ministerpräsidenten, mit Mitgliedern der Regierung, Vertretern der verschiedenen Parteien und der Zivilgesellschaft gesprochen, genauso wie mit êzîdischen Bewohnern in der Region Şingal, mit unseren Auslandsvertretungen und mit der GIZ. Außerdem ist es mir wichtig, mit den Menschen auf der Straße zu sprechen.

Norbert Reichel: Mit Dolmetschern und Sicherheitsleuten?

Max Lucks: Mit Dolmetschern, aber möglichst ohne Sicherheitsleute. Die Strukturen sind hart. In der deutschen Kultur haben wir manchmal die Angewohnheit, nicht die wirklich harten Fragen in den Mittelpunkt zu stellen. Das finde ich schade. Wir sind einmal in ein IDP-Camp gefahren und zu Zeiten einer höchst angespannten Debatte, was mit den Camps geschehen soll. Die Regierung möchte die Menschen nach Şingal drängen, obwohl es da keine Perspektive gibt. Wie wirkt sich das auf die Menschen aus? Wir waren mit der GIZ vor Ort. Die GIZ hat das gemacht, was aus ihrer Sicht auch sicher sinnvoll ist. Sie wollten uns ihre tolle Arbeit zeigen und haben uns zu einem ihrer Projekte gebracht, einer solarbetriebenen Müllrecyclingstation. Es ist verständlich, dass man Politiker:innen so etwas zeigt. Ein solches Projekt ist auch wichtig, aber mir war es eigentlich wichtiger, in das Camp zu gehen und dort mit den Familien und ihren Kindern zu sprechen, um zu verstehen, wie es ihnen geht.

Norbert Reichel: Gehen solche Projekte wie die Müllrecyclingstation an den Bedürfnissen der Menschen vorbei? 

Max Lucks: Sie sind nicht mit der notwendigen Politik verzahnt, dabei kommt es genau darauf an. Ich kann die Lage der Menschen in den IDP-Camps ja nicht von der politischen Diskussion trennen. Es gibt anhaltende Diskriminierung und die Menschen können nicht nach Şingal zurückkehren. Solange wir in Deutschland glauben, wir könnten das trennen, machen wir uns doch was vor. Den Fehler machen wir nicht für die NGOs, die GIZ oder das BMZ, die das glauben, den Fehler machen wir auf dem Rücken der Leute, für die wir eigentlich arbeiten wollen. Das beschäftigt mich schon sehr.  

Norbert Reichel: Deutliche Worte auch zur Politik des BMZ?

Max Lucks: Die Politik des BMZ ist weitestgehend gut. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Es ist auch gut, dass wir eine starke Entwicklungszusammenarbeit haben. Aber die Verzahnung mit der Außenpolitik müsste besser werden. Dass das nicht so ist, liegt an den Strukturen. Wir haben eine gewisse Inflexibilität, um auf aktuelle Entwicklungen wirksam zu reagieren. Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland wird von der eigentlichen Außenpolitik getrennt. Ich weiß nicht, wie man da eine Brücke schlägt, aber darüber sollten wir nachdenken.

Norbert Reichel: Die FDP will beide Ministerien zusammenlegen, aber ich habe oft den Eindruck, dass sie eigentlich das BMZ samt Aufgaben abschaffen will.

Max Lucks: Die FDP sagt das, weil sie die Entwicklungszusammenarbeit für Verschwendung von Steuergeldern hält. Aber genau das ist Entwicklungszusammenarbeit nicht. Sie erspart uns in der Zukunft erhebliche Kosten. Mir stellt sich aber folgende Frage: Könnte es aus einem menschenrechts- und außenpolitischen Standpunkt nicht sinnvoll sein, eine konstruktive Debatte darüber zu führen, wie moderne Entwicklungszusammenarbeit ohne Kürzungen aussehen könnte? Da gibt es viele Befindlichkeiten und Reflexe, die ich alle verstehen kann. Aber wir müssen einfach festhalten, dass wir mit Blick auf eine Region wie den Irak mit unserer internationalen Politik, mit unserem Mitteleinsatz, bisher nicht dahin gekommen sind, wo wir hinkommen wollten. Wir müssen uns alle kritisch hinterfragen, auch ich muss mich mit meiner außenpolitischen Sicht fragen, was ich von der Entwicklungszusammenarbeit erwarte.

Norbert Reichel: Was müsste aus Ihrer Sicht in der nächsten Legislaturperiode als Erstes geschehen?

Max Lucks: Wenn ich ganz konkret werden darf, würde ich zur höchsten Priorität den Wiederaufbau von Şingal machen. Mit dem Mitteleinsatz der Entwicklungszusammenarbeit sollten wir versuchen, dort eine politische Lösung herbeizuführen und unterschiedliche Kräfte an einen Tisch zu bringen. Dabei sollte auch den Akteuren klar gemacht werden, dass Gelder für den Aufbau der Regierung im Irak gekürzt werden, wenn es in Bezug auf Şingal keine Fortschritte gibt. Aus einer politischen Perspektive würde ich klare Prioritäten setzen. Ich würde nicht das, was für Geflüchtete und Zivilgesellschaft wichtig ist, wohl aber das, was für die Regierung wichtig ist, konditionalisieren.

Iran, Israel, Palästina

Norbert Reichel: Wir haben jetzt ausführlich über die Lage der Êzîd:innen gesprochen. Dies war der Anlass unseres Gesprächs. Mit welchen anderen Regionen haben Sie in Ihrer Arbeit zu tun?

Max Lucks: Als Iranberichterstatter beim Europarat ist mir die dortige Lage ein sehr wichtiges Anliegen, gerade angesichts der aktuellen Entwicklungen. Ich setze mich für eine aktivere, strategischere europäische Iranpolitik ein. Wir stehen dem, was im Iran und vom Iran aus geschieht, immer noch hilflos gegenüber. In meinem Wahlkreis gab es einen Anschlag auf die Synagoge, der laut OLG Düsseldorf nachweislich vom Iran veranlasst wurde.

Im Menschenrechtsausschuss sprechen wir auch darüber, wie wir er schaffen können, dass Israels Recht auf Selbstverteidigung und die Empathie für die Opfer des 7. Oktober nicht kleiner werden, wenn wir an die humanitäre Lage der Palästinenser denken.

Norbert Reichel: Das ist vielleicht eines der schwierigsten Themen überhaupt. Hinzu kommt, dass für manche Leute das Leid der Palästinenser das einzige Leid zu sein scheint, das zählt, sie geradezu auf dieses Leid so fixiert sind, dass sie kein anderes mehr gelten lassen. Ich habe versucht, das sehr vorsichtig zu formulieren.

Max Lucks: Absolut. Auch dieser israelbezogene Antisemitismus gehört dazu, der bei uns maßlos explodiert und dazu führt, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland nicht mehr sicher fühlen. In den letzten Monaten sind Jüdinnen und Juden aus meinem Bochumer Wahlkreis nach Israel ausgewandert, weil sie sich hier nicht mehr sicher fühlten. Das ist eine Schande für Deutschland. Es macht mich fassungslos, dass wir das in Deutschland nicht als zentrale Menschenrechtsfrage diskutieren. Das ist eine klassische Situation, in der Deutschland gefordert ist. Deutschland ist in keiner humanitären Krise dieser Welt leise. Wir sehen die Krisen im Sudan, die wohl größte humanitäre Katastrophe unserer Zeit. Wir sehen sie im Jemen, wo sie über die Huthi vom Iran gesteuert wird. Wir sehen sie auch in Gaza, wo natürlich die Hamas die Ursache ist. Aber gleichzeitig müssen wir schon überlegen: Was sind eigentlich die Antworten auf diese humanitären Krisen? Wir müssen im Hinblick auf Gaza die israelische Regierung dahin bringen, dass sie umfassende und wirksame humanitäre Hilfe in Gaza ermöglicht.

Norbert Reichel: Das ist nicht einfach. Kennen Sie den Film „Golda“? Mit Helen Mirren als Golda Meir und Liev Schreiber als Henry Kissinger. Es geht um den Yom-Kippur-Krieg 1973 und die Frage der Verantwortung von Golda Meir, der sie sich in einem Anhörungsverfahren stellt. In diesem Film erleben Sie alle Debatten, die wir auch heute führen, die internen Debatten im israelischen Kabinett, die Verhandlungen mit Sadat, die Vermittlungen durch Henry Kissinger, die Frage danach, wer in Israel an welcher Stelle nicht aufgepasst hat, um den Angriff zu verhindern.

Max Lucks: Es geht auch um die Frage – und da findet die israelbezogene Dämonisierung statt: Warum führt Israel diese Kriege? Unabhängig davon, was ich über die Kriegsführung denken mag, führt Israel diese Kriege, um sich selbst zu verteidigen. Gleichzeitig muss man die Folgen sehen, die aus dieser Kriegsführung entstehen. Es gibt die innen- und die außenpolitische Dimension. Ich möchte auf keinen Fall, dass eine Aussage der Empathie für Opfer in der palästinensischen Zivilbevölkerung instrumentalisiert wird. Was wir an pro-palästinensischen Demonstrationen erleben, sind meines Erachtens auch keine pro-palästinensischen, sondern anti-israelische Demonstrationen. Zum Teil auch antisemitisch. Es ist verständlich, wenn Menschen, die eine Familie in Gaza haben, für diese auf die Straße gehen und um ihre Familienangehörigen trauern. Man muss aber auch sehen, wohin die Hamas die Menschen in Gaza gebracht hat. Wie kann man sich für die palästinensische Sache einsetzen, wenn man eine so anti-palästinensische Organisation wie die Hamas unterstützt?

Norbert Reichel: Wie erleben Sie diese Debatte in Ihrer Partei? Dort gibt es meines Wissens auch Leute, die Ihre Position in keiner Weise teilen.

Max Lucks: Respektvoll, manchmal angespannt. Es stecken viele emotionale Päckchen in dieser Sache. Man muss schon versuchen, die verschiedenen Gefühle zusammenzubringen. Das schadet nicht, das ist auch eher gut, wenn wir das versuchen und uns die Zeit nehmen, darüber nachzudenken und zu sprechen, welche Brücken wir bauen könnten.

Norbert Reichel: Aggressivität erleben Sie in Ihrer Partei in dieser Sache nicht?

Max Lucks: Nein, man hört sich eher selbstkritisch zu.

Norbert Reichel: Der Schlüssel zur Lösung der Konflikte im Mittleren und Nahen Osten liegt meines Erachtens im Iran. Wenn das Mullah-Regime verschwände, sähe manches anders aus. Andererseits habe ich den Eindruck, dass Israel den schmutzigen Job macht, den die arabischen Staaten nicht machen wollen oder nicht machen können, weil sie in ihrer Bevölkerung dafür keine Unterstützung fänden. Niemand in den arabischen Staaten, zumindest nicht in den Regierungen, was auch immer wir von denen halten wollen, will Hisbollah und Hamas.

Max Lucks: Ich würde es sogar noch eine Spur härter formulieren. Israel macht den dreckigen Job, den auch der politische Westen nicht machen will. Der politische Westen hat keine tragfähigen politischen Antworten auf Hamas, Hisbollah, den Iran und seine Proxys in der Region. Wie wollen wir Israel von seinem Kurs abbringen, wenn wir darauf keine tragfähigen Antworten haben?

Norbert Reichel: Das macht es auch der Außenministerin schwer. Ich sehe ihre Arbeit einerseits sehr kritisch, auf der anderen Seite sind ihre Möglichkeiten sehr begrenzt. Deutschland hat bei Weitem nicht den Einfluss, den manche gerne hätten und manche Deutschland zuschreiben möchten.

Max Lucks: Absolut. Wobei man wirklich anerkennen muss, dass unsere Außenministerin so engagiert, wie keine andere, bei der Iranfrage ist.

Norbert Reichel: Das muss man meines Erachtens auch sagen, meines Erachtens auch öffentlich.

Max Lucks: Das würde auch mehr Verständnis schaffen, wenn man das mal öffentlich sagte.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Januar 2025, Internetzugriffe zuletzt am 26. November 2024. thomas von der Osten-Sacken danke ich für die Genehmigung, das Titelbild zu verwenden, ein Bild von Wadi e.V., das eine Demonstration im Lager Khanke für den Erhalt der Schule zeigt.)