Weil sie Êzîd:innen sind

Der 74. Völkermord – Zehn Jahre nach dem 3. August 2024

„I know my rights better than my mother (knew her’s). And maybe I wouldn’t accept things that happened to my mother – I do not allow those things to happen to me. But my children, they won’t accept things to happen to them that happen to me.” (Kaja, eine der Gesprächspartnerinnen von Rich Latham Lechowick in seiner Studie im Displaced Persons Camp in Khanke)

Am 10. Dezember 2018 erhielt Nadia Murad Basee Taha, geboren am 10. März 1993 in Koço, Şengal (auch als Kocho beziehungsweise Shingal oder auf arabisch als Sindschar oder Sinjar transkribiert), im Irak gemeinsam mit dem kongolesischen Menschenrechtler Denis Mukwege, Autor von „Power of Women“ (deutsch bei Bertelsmann unter dem Titel „Die Stärke der Frauen“) den Friedensnobelpreis. Im Jahr 2016 wurde sie mit dem Vaclav-Havel-Menschenrechtspreis des Europarats und am 13. Dezember 2016 gemeinsam mit Lamiya Aji Ashar mit dem Sacharow-Preis des Europaparlaments geehrt. Sie ist eine der Frauen, die in den beiden Wochen nach dem 3. August 2014 vom sogenannten „Islamischen Staat“ („Daesh“) entführt und versklavt wurden.

Unterstützt wurde und wird Nadia Murad von der Menschenrechtsanwältin Amal Clooney, die den Völkermord an den Êzîd:innen (Schreibweise in der Berichterstattung oft auch Jesiden) – die Êzîd:innen nennen den Völkermord „Ferman“, zu Deutsch wäre das so viel wie „Befehl“ oder „Erlass“ – vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen will, auch wenn der Irak nicht Mitglied ist. Die Biographie von Nadia Murad wurde unter dem Titel „The Last Girl“ in englischer Sprache, unter dem Titel „Ich bin eure Stimme“ in deutscher Sprache veröffentlicht, jeweils im Jahr 2017. Gemeinsam mit etwa 1.000 Frauen erhielt Nadia Murad die Chance, nach ihrer Flucht über ein Sonderkontingent des Landes Baden-Württemberg in Deutschland ein neues Leben aufzubauen. Und heute? An den zehnten Jahrestag des Völkermords vom 3. August 2014 erinnert in Politik und Medien kaum noch jemand, Êzîd:innen werden wieder aus Deutschland in den Irak abgeschoben.

Satz für Satz, Schritt für Schritt in die Öffentlichkeit

Es ist ein Verdienst der taz, am 31. Juli 2024 in einer eigenen Veranstaltung an den Völkermord zu erinnern. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass diese Veranstaltung nur mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen stattfinden konnte. An der von Tobias Bachmann moderierten Runde nahmen Max Lucks, Ronya Othmann, Hakeema Taha und Düzen Tekkal teil. Die gesamte Veranstaltung ist auf youtube abrufbar. Eine eigene Seite widmete am 8. August 2024 die ZEIT dem Gedenken (leider nicht ganz sachgerecht in der Rubrik „Glauben und Zweifeln“, das hätte in den Politik-Teil gehört). Es handelt sich um Bilder der Fotografin Miriam Stanke, die unter anderem eine Ausstellung in Hamburg gestaltete. Für die ZEIT portraitierte sie Badeeah Jazzaa, Layla Mirza, Hakeema Taha und Düzen Tekkal.

Düzen Tekkal war eine der ersten, die über den Völkermord berichteten. Sie wurde in Deutschland geboren und flog unmittelbar nach dem Beginn des Völkermords in den Irak und – so Miriam Stanke – „wird zur Kriegsreporterin. (…) Sie sieht sich als Chronistin der Frauen, die ihr Leid und ihre Verfolgung öffentlich machen und so die Autorität über die eigene Geschichte zurückerlangen.“ engagiert sich in mehreren Menschenrechtsorganisationen, beispielsweise in der von ihr mitgegründeten Organisation Háwar und ist Autorin von inzwischen drei Dokumentarfilmen, deren jüngster unter dem Titel „Heimatlos“ („Bêmal“) seit dem 3. August 2014 in der ARD-Mediathek abgerufen werden kann. Miriam Stanke zitiert Düzen Tekkal mit den Worten, „die Überlebenden stehen für eine neue Generation der Widerstandskraft“.

Hakeema Taha ist eine der 1.000 Frauen, die wie Nadia Murad nach Deutschland kamen. Sie arbeitet als Pflegekraft in Nordrhein-Westfalen. Sie berichtete, dass sie am 15. August 2014 19 Familienmitglieder verloren habe, von vieren wissen sie nicht, ob diese noch lebten. Eingesperrt in eine Schule erlebten die Frauen, wie die Männer draußen erschossen wurden. Sie wurde immer wieder verkauft, weil sie ständig darauf bestand, mit ihrer Schwester zusammenbleiben zu dürfen und andauernd weinte. Nach zwei Jahren gelang ihr mit Schleusern die Flucht an die türkische Grenze, wo sie einer ihrer Brüder für etwa 3.000 EUR freikaufte. Sie würde gerne zurückkehren, aber ihr Zuhause ist jetzt – so sagte sie es auch am 31. Juli 2024 – Deutschland. Miriam Stanke berichtet, in ihrer Heimat „ist noch immer fast jedes Haus zerstört. „Man hat sofort vor Augen, wer alles nie wieder zurückkehren wird‘, sagt sie.“

Ronya Othmann, Tochter einer deutschen Mutter und eines kurdisch-êzîdischen Vaters, veröffentlichte im April 2024 den Roman „Vierundsiebzig“ (2024 bei Rowohlt), es ist nach „Die Sommer“ (bei Hanser 2020, als Taschenbuch dann bei dtv) ihr zweiter Roman. Beide Romane thematisieren das Leben von Êzîd:innen, „Vierundsiebzig“ ausführlich den Völkermord vom 3. August 2014. Der Titel des Romans von Ronya Othmann verweist darauf, dass dieser Genozid der 74. Völkermord an Êzîd:innen war. In „Die Sommer“ geht es um das Leben von Êzîd:innen in Nordsyrien. Die Unterdrückung unter Assad, der Krieg, die Flucht des Vaters Leylas, der Hauptperson des Romans, über die Türkei nach Deutschland, der Unwille deutscher Behörden, im zweiten Teil dann der 3. August 2014. Der Tod der Großeltern, die Beerdigung der Großmutter in ihrem Heimatdorf, dort „war nur geblieben, wer kein Geld gehabt hatte, um die Schlepper zu bezahlen, oder wer zu alt oder zu krank war, um zu gehen, Flüchtlinge aus Shingal waren in die aufgegebenen Häuser gezogen, sie bereiteten Essen zu und verteilte es an alle.“ Es zeichnete sich schon lange ab, was am 3. August 2014 geschah, es ist eine lange Geschichte mit unzähligen Vertreibungen, Deportationen, Morden.

Beide Romane von Ronya Othmann wirken als gelungene Kombination von Dokumentation, Reisebericht, Reportage, Autofiction und literarischer Erzählung. „Die Sommer“ ist eine Art Chronik der vielen Sommerreisen von Leyla aus Deutschland nach Nordsyrien, die aber mit der „Revolution“ 2011 aufhören. Zu gefährlich. „Große, muskelbepackte Männer in Turnschuhen, mit kahlgeschorenen Köpfen und langen Bärten. Sie riefen Assad, oder wir brennen das Land nieder. sie kamen in die Dörfer und Städte, schossen Menschennieder, plünderten, vergewaltigten, folterten ihre Gefangenen so lange, bis diese sagten: Es gibt keinen Gott außer Assad.“ Diese Geschichte muss erzählt werden, sie braucht ihre Symbole wie die Sprühdose, mit der ein Junge am 15. Februar 2011 die Mauer seiner Schule traf: „Keine Revolution begann nur mit einer Sprühdose. Ohne vierzig Jahre Unterdrückung hätte es diese Revolution nicht gegeben. Aber jede Revolution brauchte nun einmal eine Erzählung.“

„Vierundsiebzig“ beruht auf einer Reise aus dem Jahr 2018. Die Ungewissheit, ob sich angesichts des Grauens überhaupt schreiben lässt, begleitet die Erzählerin, die durchaus mit der Autorin identifiziert werden darf, auf Schritt und Tritt: „Ich dachte: Ich bin keine Zeugin des Genozids, aber eine Zeugin der Trümmer. Ich wollte erst eine Reportage schreiben, aber ich konnte es nicht.“ Mitunter mögen Leser:innen sich an Adornos Wort erinnern, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben wäre „barbarisch“. Aber vielleicht liegt die eigentliche Barbarei im Schweigen, im zum Schweigen gebracht werden? Es geht in „Vierundsiebzig“ – im Ton zweifelnder und verzweifelter als in „Die Sommer“ – durchgehend um Sprechen und Schreiben im Angesicht des Grauens, um Verzweiflung an Sprache, um Hoffnung auf Sprache. Ähnlich ist auch der Dokumentarfilm „Heimatlos“ angelegt. Vor allem Frauen sprechen, sagen in der Öffentlichkeit, vor Kameras, was geschehen ist und nach wie vor geschieht. Satz für Satz, Schritt für Schritt. Der letzte Absatz von „Die Sommer“ beginnt mit dem Satz: „Zu gehen ist in erster Linie eine Abfolge von Schritten.“ Diese Schritte gehen viele Frauen, wenn sie über die Misshandlungen, die Vergewaltigungen sprechen, auch einige wenige Jungen, die in IS-Gefangenschaft zu Islamisten erzogen werden sollten, durchaus mit einem gewissen Erfolg, wie zwei Jungen, beide noch keine 14 Jahre alt, im Grunde ehemalige Kindersoldaten, die Düzen Tekkal in „Heimatlos“ vorstellt und denen ihre eigenen Familien misstrauen.

Ein erstes Fazit? Die Erinnerung an den Genozid vom 3. August 2014 fand – abgesehen von taz und ZEIT – in den großen deutschen Medien so gut wie nicht statt (einen Widerhall fand die Erinnerung ferner in den linken Tageszeitungen „Neues Deutschland“ und „Junge Welt“). Die Jüdische Allgemeine veröffentlichte am 31. Juli 2024 ein Gespräch mit Ronya Othmann. Wer regelmäßige Informationen sucht, wird diese in dem Blog „Von Tunis bis Teheran“ auf der Seite von Jungle World sowie auf kurdischen und êzîdischen Seiten finden oder auf den Internetseiten von Hilfsorganisationen und Organisationen der kurdischen oder êzîdischen Zivilgesellschaft. Zu hoffen ist, dass der Film „Heimatlos“ in der ARD-Mediathek den Wirkungskreis erweitert. Es gibt dort auch weitere Berichte zum Thema, aber man muss natürlich erst einmal wissen, dass es in der ARD-Mediathek diese Filme und Berichte gibt.

Ambivalentes Deutschland

Die Lage der Êzîd:innen in Deutschland und im Irak ist höchst prekär. In dem êzîdischen Fernsehsender Çira TV berichtete Ayfer Özdoǧan. Sie beschreibt den êzîdischen Widerstand, der bewundert werde, aber eben auch, dass man „die Menschen in Şengal nicht ernst“ nehme. Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg, habe bei ihrem Besuch in der Region Şengal nicht besucht, offenbar aus Sicherheitsbedenken. Beim Abschluss des Şengal-Abkommens wurden die Menschen in Şengal nicht beteiligt. Dazu haben sich auch die êzîdischen Verbände dezidiert geäußert.

Der Deutsche Bundestag erkannte auf Antrag der Fraktionen von SPD, CDU/CSU, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP den „Völkermord an den Êzidinnen und Êzîden“ am 19. Januar 2023 auf Initiative nicht zuletzt von Max Lucks (Bündnis 90 / Die Grünen) an. Einstimmig! Der Beschluss enthält 20 Punkte, darunter auch die Forderung, „Êzîdinnen und Êzîden weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren und anzuerkennen, dass ein wichtiger Bestandteil der Traumabewältigung und -bearbeitung die Zusammenführung mit der eigenen Familie ist und dass diese im Rahmen der gesetzlichen Grundlagen zu ermöglichen ist“.

Der Beschluss des Deutschen Bundestages wird von der Bundesinnenministerin mehr oder weniger ignoriert. Auch die Länder verhalten sich sehr zurückhaltend. Nordrhein-Westfalen hatte ein temporäres sechsmonatiges Abschiebeverbot ermöglicht, das jedoch wegen des Nichts-Tuns des Bundesinnenministeriums nicht verlängert werden konnte.

Zur Lage der Êzid:innen im Irak und in Deutschland haben Pro Asyl e.V. und Wadi e.V. ein Gutachten veröffentlicht (in deutscher und in englischer Sprache). Die beiden Organisationen verweisen darauf, dass immer noch etwa 200.000 Êzîd:innen in den irakischen Flüchtlingslagern leben, die die Regierung jedoch schließen will. Imame haben zur Jagd auf „Ungläubige“, konkret auf Êzîd:innen aufgerufen, sodass diese sich nicht einmal mehr in den Lagern sicher fühlen. Hunderte Familien flüchten aus den Lagern. Manche werden vertrieben, aber wohin sollen sie gehen?

Oliver M. Piecha hat für Jungle.World Blog (auch verfügbar auf der Plattform Mena-Watch) mit Basma Aldikhi, Mitarbeiterin der Hilfsorganisation Wadi, über das Leben in den Camps gesprochen. Basma Aldikhi berichtet, viele Kinder seien dort geboren, sähen die Camps als Teil ihrer „Identität“: „Die Menschen in den Camps haben das Gefühl, dass sie von überall vertrieben und weder von Kurdistan noch vom Irak akzeptiert werden. Die Kinder im Camp haben kein Zuhause, um die Tür hinter sich zu schließen, weil sie in Zelten leben. Der Schulunterricht ist bereits gekürzt; eine Klasse besteht aus fünfundsechzig Schülern, wobei eine Lehrerin für alles verantwortlich ist. Es ist so kaum möglich, die Kinder richtig zu unterrichten und ihnen etwas beizubringen.“ Sie sagt, Êzîdinnen hätten weder in der Autonomen Region Kurdistan noch im Irak eine Zukunft. Im Interview ist unter anderem das Bild einer Demonstration in Khanke für den Erhalt der dortigen Schule zu sehen.

In Deutschland leben 250.000 Êzîd:innen. Êzîd:innen werden aus Deutschland in den Irak abgeschoben, gefährdet sind nach der Schätzung von Hilfsorganisationen etwa 10.000 Menschen. Es gibt einige Gerichtsurteile, denen zufolge es im Irak keine Bedrohungslage mehr gäbe, eine Einschätzung, die das Auswärtige Amt nach einem als Verschlusssache gekennzeichneten Lagebericht vom April 2024, den die Plattform FragDenStaat veröffentlichte, offenbar nicht teilt. Welche Folgen die von der Bundesregierung diskutierten Änderungen zur Abschiebung auch nach Syrien und Afghanistan für Êzîd:innen und andere bedrohte Minderheiten haben werden, ist nicht absehbar. Wer jedoch Êzîd:innen abschiebt, schiebt keine Täter ab, sondern Opfer.

Manche verstecken sich, die deutschen Behörden handeln – so formulierte es Düzen Tekkal am 31. Juli 2024 bei der taz – „eiskalt“, Spielräume, wie sie in der Regel jede behördliche Entscheidung hätte, werden weitestgehend ausgeschlossen. In „Die Sommer“ schildert Ronya Othmann die vergeblichen Versuche der Mutter Leylas, Familienmitglieder nach Deutschland zu holen. Sie wird von Behörde zu Behörde geschoben. Sie scheitert, weil „sich die Angehörigen bis 2012 im Libanon hätten befinden müssen um auf die Liste der Kontingentflüchtlinge für Familiennachzug nach Deutschland zu kommen, und da das nicht der Fall sei, sehe sich die zuständige Behörde eindeutig als nicht zuständig an.“ Leyla schlägt vor, doch an die Presse, in die Öffentlichkeit zu gehen: „An welche Öffentlichkeit sollen wir denn gehen, sagte die Mutter.“ Der 3. August 2014 änderte nichts an dieser verzweifelnden Suche, Familienmitglieder aus ihrer prekären Lage zu befreien.

Und die Vorbereitungen zur Abschiebung von Êzîd:innen in den Irak hat nach einer auf mena-watch veröffentlichten Einschätzung sogar System: So „wird Jesid:innen gezeigt, dass sie in Deutschland keine Perspektive bekommen sollen. In Bayern zum Beispiel wird irakischen Geflüchteten, darunter auch Jesid:innen, systematisch die Duldung entzogen oder als ungültig gestempelt. Damit verlieren sie ihre Arbeitserlaubnis und auch die Möglichkeit, in einer eigenen Wohnung zu leben. Und auch in anderen Bundesländern werden Jesid:innen behördlich unter Druck gesetzt und ihnen werden Sanktionen wie Arbeitsverbot und Leistungskürzungen angedroht.“ Düzen Tekkal spricht in „Heimatlos“ mit einer Familie, die mit schulpflichtigen Kindern aus Bayern in den Irak abgeschoben wurde. Zwei Töchter durften in Deutschland bleiben, weil sie zur Altenpflegerin ausgebildet werden. Die Familie ist getrennt, die elfjährige Tochter spricht mit ihren Schwestern per i-phone deutsch, sie besucht keine Schule, weder eine kurdische noch eine arabische. Die Wohnung, in der die Familie provisorisch Unterschlupf fand, musste sie verlassen, als der Besitzer zurückkehrt.

Max Lucks sagte im taz-Talk am 31. Juli 2024, die Bundesinnenministerin versuche zurzeit vor allem, die Zahlen der Abschiebungen nach oben zu treiben. Düzen Tekkal fügte hinzu, ein Land – hier der Irak – werde nicht sicher, „indem man die Opfer von Islamismus abschiebt“, zumal – so Ronya Othmann – „die Täter noch in der Nachbarschaft sind“. Einige Abschiebungen konnten dank Engagements aus der Zivilgesellschaft verhindert werden, aber das ist natürlich keine dauerhafte Lösung. Eine Lösung wäre ein es, einen eigenen Paragraphen Aufenthaltsgesetz (wahrscheinlich in Abschnitt 5) unterzubringen, der Êzîd:innen vor Abschiebungen schützt und meines Erachtens auch für andere Volksgruppen geöffnet werden könnte. Der Bundestag könnte dies so beschließen. Max Lucks berichtete, dass seine Fraktion darüber zurzeit mit den Koalitionspartnern verhandele. Die politische und gesellschaftliche Stimmung in Deutschland erschwert dieses Unterfangen. Es gibt offenbar keine Hemmungen, die „Opfer von Islamismus“ abzuschieben.

Deutsche Behörden handeln – so ließe sich beschönigend sagen – geschäftsmäßig. Wo kein Kläger, da kein Richter. In Regensburg wurde ein IS-Paar festgenommen, dem vorgeworfen wird, zwei êzîdische Mädchen versklavt zu haben, Jennifer B., eine deutsche Rückkehrerin, wurde wegen Beihilfe zum Mord zu 14 Jahren Haft verurteilt. Sie hatte die fünfjährige Tochter der „Sklavin“ der Familie verdursten lassen. Eine systematische Strafverfolgung findet ungeachtet dieser in den Medien durchaus ausführlich berichteten Fälle jedoch kaum statt. In „Vierundsiebzig“ berichtet Ronya Othmann ausführlich über den Prozess gegen Jennifer B., ihren Mann Al.-J. und protokolliert ausführlich die Aussagen der Zeugin Nora B. Der deutsche Richter tut sich schwer mit den Aussagen einer Frau, die beispielsweise keine Uhren lesen kann. „Ich sage, sie haben aneinander vorbeigeredet. Der Richter und Nora B.“

Fragile Empathie – fragile Sprache

Die prekäre Lage der Êzîd:innen und die allgemeine Ignoranz im Westen macht es schwer, über das Thema schreiben. Ich frage mich ohnehin immer wieder, wie es zu dieser verhängnisvollen Fixierung der medialen Berichterstattung und vieler scheinbar linker Gruppierungen auf das Schicksal der Palästinenser:innen kommt, das Schicksal anderer Bevölkerungsgruppen, der Êzîd:innen, der Kurd:innen, der Rohingya, der Uigur:innen, der Armenier:innen und manch anderer Minderheit jedoch kaum jemanden berührt? Von dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 ganz zu schweigen. Anastasia Tikhomirova nannte dies „Selektiver Humanismus“. Ronya Othmann sagte in dem bereits genannten Gespräch mit Ayala Goldmann für die Jüdische Allgemeine: „Die fehlende Empathie mit Opfern von Islamismus setzt sich auch beim 7. Oktober fort.“ Sie fordert allerdings auch ein, die Unterschiede zu thematisieren: „Es gibt Ähnlichkeiten, aber der Genozid an den Armeniern ist nicht dasselbe wie der Genozid an den Jesiden. Und der Holocaust in ein singuläres Verbrechen. Man muss differenzieren, aber ich hoffe, dass es zumindest eine gegenseitige Anerkennung verschiedener Verbrechen bei unterschiedlichen Gruppen geben kann.“

Camp im Nordirak. Foto: Wadi e.V.

Ronya Othmann legte Leyla, der Hauptperson in „Die Sommer“, den folgenden Gedanken nahe, der natürlich – wie die Formulierung belegt – schon einen langen Rückblick auf das Erlebte und ein Bewusstsein dessen voraussetzt, was es heißt, überhaupt etwas aufzuschreiben: „Eine Geschichte, dachte sie, erzählt man immer vom Ende her. Auch wenn man mit dem Anfang beginnt.“ Für die Geschichte der Êzîd:innen gibt es jedoch kein Ende, es ist auch kein Ende absehbar, ungeachtet all der untauglichen Versuche, Êzîd:innen eine Rückkehr in eine Region nahezulegen, in der sie nach wie vor in höchster Gefahr sind. Man spricht von etwa 100.000 Êzîd:innen, die noch oder wieder in der Region um Şengal leben.

Ist ein „Ende“ überhaupt denkbar? Oder ist die aktuelle Situation – so wie ist – einfach im wahrsten Sinne des Wortes schon endgültig? Dann würde es sich erübrigen, weiter zu sprechen, weiter zu schreiben. „Meiner Mutter sage ich am Telefon: Wir sind tot. Sie haben uns vernichtet. Die Êzîden sind vernichtet, sage ich.“ Die Erzählerin hört sich geradezu selbst zu, behauptet das Unabänderliche, das Grauen gegenüber denen, die es nicht glauben wollen, aber gerade in ihrer penetranten Ablehnung der von ihr gewählten Formulierung bestätigen, dass es unabänderlich ist. „Meine Mutter sagt: Das kannst du nicht sagen. So etwas kannst du nicht sagen. Du kannst das nicht so sagen.“ Man kann sich vorstellen, dass sie jeden einzelnen Satz lauter spricht. Man muss sich schon sehr deutlich einreden, dass das was heute ist nicht das Ende ist. Die Mutter wurde als Deutsche geboren. Es gibt keine Rückkehr aus einer Sommerferienreise in eine wie auch immer geartete Normalität. „Wir sind die, die sie nicht getötet haben. Wir leben nicht. Wir sind nur nicht getötet worden, sage ich. Das ist der Unterschied.“

Es lässt sich nicht oft genug wiederholen: Das, was am 3. August 2014 und an den folgenden Tagen geschah, war der 74. Versuch, die Êzîd:innen zu vernichten, aus einem einzigen Grund – so schreibt es Ronya Othmann in „Vierundsiebzig“: es geschah im „Land, in dem man Êzîden tötete, weil sie Êzîden waren“. Sie macht sich immer wieder bewusst, was es heißt, das aufzuschreiben, was immer wieder geschah: „Ich schreibe: Es ist auch die Landschaft, in der mein Urgroßvater ermordet wurde, weil er Êzîde war.“ Die Mörder sagen es ganz offen. Ein Êzide findet neben der Leiche eines Mannes „einen Zettel. Dort steht: Weil er ein Ungläubiger war.“ Eine Antwort gibt es nicht. „Die Frage nach dem Warum ist keine Frage. Sie ist ausformulierte Sprachlosigkeit.“ Eine Ärztin, die diese Frage den Vergewaltigern eines neunjährigen Mädchens stellte, wird von den IS-Terroristen enthauptet.

Ronya Othmanns Roman ist nach meiner Kenntnis der einzige im Original in deutscher Sprache geschriebene Roman über den Genozid an den Êzîd:innen. Wie der IS vorging, beschreibt sie immer wieder. Es ist auch im Film von Düzen Tekkal immer wieder zu sehen, dort teilweise mit vom IS selbst gedrehten Videos, zum Teil mit heimlich gedrehten Videos von Êzîd:innen. Ähnlich detailliert schreibt der syrische Schriftsteller Reber Yousef in seinem Roman „Die Tuberkulose-Frauen“ (2022). Auszüge seines Romans wurden in einer deutschen Übersetzung auf der Plattform „Weiter Schreiben“ in bisher vier Episoden veröffentlicht. Ronya Othmann schreibt aber auch: „Selbst das Aneinanderreihen der Fakten, das Zählen der Toten, selbst das Datum, 3. August 2014 oder 74. Ferman, wie wir Êzîden den Genozid nennen, bleiben ein Platzhalter für etwas, wofür wir keine Worte haben. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche und sie ist selbst Teil des Textes. Die Sprachlosigkeit strukturiert den geschriebenen Text, legt seine Grammatik fest, seine Form, seine Worte.“ Die Hamas, der Islamische Staat mögen sich vielleicht ideologisch unterscheiden, in ihrem Vorgehen, in ihrer Brutalität unterscheiden sie sich nicht.

Das zerstörte Mosul. Foto: Wadi e.V.

Aber wer ist sie eigentlich, die Erzählerin von „Vierundsiebzig“? „Ich denke über das Paradox nach, die Geschichte des Genozids aus meiner Perspektive zu erzählen, aus der Perspektive einer Zeugin oder Zuschauerin, die versucht, vom Sprechen und Schweigen der Überlebenden zu erzählen oder es zumindest aufzuzeichnen. / Aber wie erzählt man von den Toten, und wie von den Verschwundenen, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen.“ Eigentlich möchte sie „mich aus dem Text streichen“, sie will „das Ich aus meinem Text streichen (…). Ich schäme mich nicht, ich halte es schlichtweg für unanständig, Ich zu sagen. Schließlich ist meine Haut unversehrt, und niemand hat mir Gewalt angetan.“

Es ist das Elend der Empathie, dass es immer mit der Frage verbunden werden muss, ob Empathie überhaupt möglich ist, wo ihre Grenzen sind, wie sich über das Leid anderer schreiben lässt, mit dem es eine bestimmte familiäre, freundschaftliche oder wie auch immer geartete Verbundenheit gibt, das man aber selbst nicht erlebt hat. Die Perspektive eines beobachtenden Menschen ist eine völlig andere als die eines Betroffenen. Eine Szene erzählt Ronya Othmann daher auch zwei Mal, beim zweiten Mal die Perspektiven wechselnd: „Ich schreibe die Szene ein zweites Mal. Ich schreibe: Wir stehen auf einer Anhöhe hinter Khanke. In unserem Rücken liegt ein êzîdischer Schrein, zu unseren Füßen der Mossul-Damm. Akram leuchtet mit seiner Handytaschenlampe auf die Gräber seiner Onkel. Akram sagt: Der eine wurde von Saddam gehängt, der andere von Islamisten getötet.“ Die folgende Passage protokolliert die Erzählung Akrams. Die Distanz der Erzählerin beziehungsweise der Autorin wird durch das jeweilige einleitende „Er sagt“ oder „Akram sagt“ gesichert. Akram erzählt die Geschichte eines der Onkel, der in Abu Ghraib gehängt wurde. 30 Absätze in Folge werden mit der Formel „Akram sagt“ eingeleitet, um das Gesagte zu authentifizieren. Es gibt nur vier kleine Unterbrechungen, in denen die Formel ausgelassen wird. Es ist wirklich passiert!

Das ist die Botschaft, die sich auch die Erzählerin immer wieder deutlich sagen muss. Ständig leitet sie Absätze mit der Formel „Ich schreibe“ ein, als müsse sie zugleich bezweifeln und bestätigen, dass das, was sie schreibt, die Wahrheit ist. Helfen Fachtermini, machen die das Beschriebene glaubwürdiger? „Im Juni brennen in Shingal die Felder, notiere ich. 2019 setzt der sogenannte Islamische Staat ganze Landstriche in Brand. Es brennt in Shingal. Beweismittel des Genozids drohen von den Flammen verschlungen zu werden. / Die Auslöschung der Auslöschung, notiere ich. / In Nordostsyrien brennt der Weizen. Die Kriegstaktik der verbrannten Erde, notiere ich, als ob ich den Schrecken bannen könnte, wenn ich einen Fachterminus verwende. Und nichts davon ist neu. Ich notiere: Seit den 1990er Jahren setzt das türkische Militär systematisch kurdische Wälder in Brand. Ein Verbrechen, verübt an der Landschaft, notiere ich. In dieser Landschaft ein Verbrechen.“ In dieser Landschaft lebten, leben Menschen. Reihungen über Reihungen, mitunter mit konkreten Daten versehen, ein Ereignis folgt dem anderen, immer wieder lesen wir in „Vierundsiebzig“ glasklare, knallharte – welche Attribute sind hier schon angemessen – Beschreibungen der Verbrechen.

Sobald wir etwas aufschreiben, etwas aussprechen, wird es „Fiktion“, sagt Ronya Othmann, ein Bild der Welt, wie wir sie sehen, verstehen, interpretieren. So beginnt sie ihren Roman: „Jedes Schreiben ist für mich Fiktion. Ob ich über mich schreibe, meinen Vater, meine Großmutter oder eine Figur, der ich einen Namen gebe und eine Geschichte.“ Es ist immer dieselbe Geschichte. Generationen von Deutschlehrer:innen haben ihre Schüler:innen in Paul Celans „Todesfuge“ Metaphern und Allegorien suchen lassen. Kein einziges Wort dieses Gedichts ist Metapher, kein einziges Wort Allegorie, es ist alles reales Auschwitz, die „schwarze Milch der Frühe“, „der Meister aus Deutschland“, „dein aschenes Haar Sulamith“. „Vierundsiebzig“ ist die „Todesfuge“ der Êzîd:innen. Die „Fiktion“ mag sich aus der Kombination der Worte, der dokumentierten Ereignisse ergeben, die Ereignisse selbst, die sie in Wahrheit und Wirklichkeit übertragenden Worte – all das ist real, das Grauen wird aussprechbar, aufschreibbar.

Permanenter Ausnahmezustand im Irak

Shingal Mountain. Foto: Nawaf Shengaly. Wikimedia Commons.

Şengal / Shingal war bis August 2014 das weltweit größte Siedlungsgebiet von Êzîdinnen und Êziden. nach dem Angriff wurden etwa 5.500 Menschen ermordet, 11.000 entführt und etwa 400.000 innerhalb von acht Tagen vertrieben. Anderer Schätzungen gehen von deutlich höheren Zahlen aus. Es gibt viele Massengräber, die noch nicht exhumiert wurden und möglicherweise nach dem für September 2024 geplanten Rückzug der UNITAD niemals exhumiert werden. Einige Tausende Êzîd:innen wurde von einigen wenigen Kämpfer:innen der PKK gerettet, die dann Unterstützung aus den eigenen Reihen und von der YPG / YPI aus Rojava erhielten.

Rick Latham Lechowick, dessen Studie ich gleich noch vorstellen werde, veranschaulicht diese Zahlen mit dem Vergleich, dass der Genozid, hätte er im Vereinigten Königreich stattgefunden, die Ermordung von 375.000 Menschen, die Entführung von 700.000 und die Vertreibung von 27 Millionen bedeutet hätte. Er vermerkt, dass der Vormarsch des IS auch eine direkte Folge der Besetzung des Irak im Jahr 2003 durch die USA und Großbritannien gewesen sei, die zwar dafür sorgten, dass Saddam Hussein abgesetzt wurde, jedoch ehemalige Militärs seiner Armee eine neue Verwendung im Führungsstab des IS fanden. Die von George W. Bush angekündigte Demokratisierung (die Rede war nach anfänglicher Zurückhaltung dann auch von „Nation Building”) fand nicht statt, die irakische Führungsschicht, die irakischen Armeeangehörigen und viele weitere Angehörige der Nomenklatura fielen ins Nichts. Alles richtig, aber es begründet nicht den über Jahrhunderte wirkenden Hass auf das Volk der Êzîd:innen.

Am 31. Juli 2024 gab Ronya Othmann dieser Debatte noch eine andere Wendung. Sie sagte, der Genozid vom 3. August 2014 wäre nicht geschehen, wenn man vorher mehr auf den IS und auf die Minderheiten im Irak geschaut hätte, diese Ignoranz bewege sich durchaus auch im Kontext der Ignoranz gegenüber jedwedem Islamismus. Wer gegen Rassismus vorgehe, müsse auch gegen Islamismus vorgehen. Max Lucks betonte, dass er – im Unterschied zur Mehrheit der Partei – bereits damals militärische Mittel zum Vorgehen gegen den IS nicht habe ausschließen wollen. Düzen Tekkal nannte den 3. August 2014 eine „Zeitenwende“. Selbst in Deutschland geborene Êzîd:innen fühlten sich in einem „Ausnahmezustand“, der andauere. Ronya Othmann in „Die Sommer“: „Der 3. August war der Tag, an dem, so schien es Leyla später, die Zeit einen Bruch bekommen hatte.“

Der Iran ist im Hintergrund aktiv und interessiert, den Irak unter Kontrolle zu bekommen, nicht zuletzt, weil er dann eine bessere Ausgangslage für Angriffe auf Israel haben dürfte, das er – in Teheran läuft eine entsprechende Uhr – bis 2040 vernichtet sehen will. Ebenso interessiert ist die Türkei, die ihre eigenen Interessen gegenüber allen Anzeichen einer möglichen kurdischen Autonomie ins Spiel bringt. Die Türkei richtet im Irak Militärstützpunkte ein, inzwischen Dutzende, veranlasst die Vertreibung von Menschen, beispielsweise in assyrischen Dörfern. Dazu kommen Pipeline- und Verkehrstrassen durch die Region, an denen die Türkei beteiligt ist. Der Kurdische Nationalkongress forderte die irakische Regierung auf, „sich nicht zum Spielball von ‚Erdoǧans schwächelndem Regime‘“ machen zu lassen. Die Zeitung „Neues Deutschland“ sieht hier mit Recht auch wirtschaftliche Interessen der Türkei als Grund für das militärische Engagement im Spiel. Schwer von außen einzuschätzen sind allerdings auch unterschiedliche Ausrichtungen der kurdischen Seite. Mit der in der Autonomen Region Kurdistan im Irak maßgeblichen KDP scheint die Türkei ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu pflegen, gerade auch im Unterschied zur PKK, die sie als terroristische Organisation markiert und bekämpft und mit der sie ungeachtet von deren Eigenständigkeit auch YPG und YPI identifiziert. Anfang August 2024 wurden von der irakischen Justiz drei kurdische Parteien verboten, darunter die êzîdische PADÊ (Partiya Azadî û Demokrasiya Êzîdiya). Nach Einschätzungen von Expert:innen, die sich in der Region auskennen, kommt die irakische Regierung damit Wünschen der Türkei nach.

Dies steht fest: Die gesamte Region leidet unter den konkurrierenden Ansprüchen des Iran und der Türkei. Der Irak selbst ist mehr oder weniger ein Failed State. Minderheiten werden zum Spielball der Interessen, erst recht Minderheiten, die wie die Êzîd:innen sogar als „Minderheit in der Minderheit“ bezeichnet werden können, so Antonia Moser in einer SRF-Reportage vom 9. August 2014.

IDP-Camp. Foto: Wadi e.V.

Ronya Othmann beschreibt die politische Lage in der Region in „Vierundsiebzig“ detailliert, das Gelesene bestätigte sich im Verlauf ihrer Reise mehr als sie sich das jemals vorstellen konnte: „Unsere Familie war schon da, die Landesgrenzen kamen später. / Auch die Minen kamen später, nach den Landesgrenzen, lese ich in einem Zeitungsartikel: um die Schmuggler abzuschrecken.“ Eine Welt der Euphemismen, in der sie so viel Militär sieht, so viele Checkpoints, wie sie nie zuvor in ihrem Leben gesehen hat. Sie hatte von der nicht einschätzbaren Sicherheitslage gehört, sieht „die Flaggen der irantreuen Milizen“: „Ich hatte davon gelesen, und doch konnte ich es mir nicht vorstellen, bis ich die Flaggen, die Gesichter der jungen Soldaten mit eigenen Augen sah.“ Die Menschen, die sie trifft, wirken schicksalsergeben – vielleicht ein besserer Begriff als das psychologisierende Adjektiv fatalistisch. „Mam Khalef sagt: Erst war hier Saddam, dann kamen die Amerikaner, dann die Iraker, jetzt die PKK. Die Gegend, sagt Mam Kahlef, werde oft bombardiert von türkischen Drohnen. Nichtsdestotrotz sei Khana Sor der Ort, an den die meisten Menschen zurückgekehrt sind. Khana Sor liege weit genug von den arabischen Dörfern entfernt und nah am Gebirge.“ Ronya Othmann erwähnt Saddam, Assad, die Diktatoren der Nachbarstaaten, den Iran, die Türkei, sodass ihr Roman die Komplexität der Verwobenheit des Terrors von Staaten, Milizen und fanatisierter Bevölkerung wiedergibt.

Es waren – wie in anderen vergleichbaren Kriegen gegen die eigene Bevölkerung, zum Beispiel in Ruanda oder im ehemaligen Jugoslawien – die Nachbar:innen, die Êzîd:innen schikanierten, umstellten, an der Flucht hinderten, misshandelten und dem IS auslieferten. Ronya Othmann berichtet, unter den Tätern seien auch „Blutspaten“ gewesen, Muslime, die mit der Patenschaft eine lebenslang geltende Verantwortung für ein êzîdisches Kind bei der Beschneidung übernommen hätten. Êzîdische Frauen wurden in Mossul auf einem Sklavenmarkt gefesselt und geknebelt vorgeführt und verkauft. Die Täter tauchten nach dem Fall des IS wieder in der Bevölkerung unter, manche schafften den Weg in den Westen. Zu den Tätern gehörten nicht nur Iraker, sondern auch Männer und Frauen aus dem Westen, aus den USA, aus Australien, aus Frankreich oder aus Deutschland, auch natürlich aus den arabischen Nachbarstaaten des Irak.

Niemand weiß, wie viele IS-Sympathisant:innen oder gar ehemalige Täter:innen noch im Irak, in Nachbarländern oder in westlichen Ländern untergetaucht sind. Im Irak ist die Lage für Êzîd:innen nach wie vor lebensgefährlich. Man kann nicht davon sprechen, dass der IS zerschlagen wäre, Şengal ist nach wie vor zerstört.

Êzîdische Identitäten

Einen guten Überblick über die Geschichte des êzîdischen Volkes bietet Yilmaz Pêşkevin Kaba, Fernsehmoderator bei Çira TV. Die Gemeinschaft der Êzîd:innen umfasst nach unterschiedlichen Berichten zwischen 800.000 und etwa einer Million Menschen weltweit. Êzîd:innen sind eine über 4.000 Jahre alte monotheistische Religionsgemeinschaft, aber sie sind nicht nur das. In Deutschland wissen diejenigen, die einmal Karl May gelesen haben, insbesondere seinen Orientzyklus mit dem Band „Durchs wilde Kurdistan“, dass es die Êzîd:innen, die „Jesiden“, gibt. Sie werden dort einerseits als „Teufelsanbeter“ erwähnt, eine Fremdzuschreibung der Mehrheitsgesellschaft, in der sie leben. Karl May weist dies zurück, er beschreibt sie als eine freundliche Gemeinschaft, nicht zuletzt auch im Gegensatz zu den osmanischen Beamten, die er als trunksüchtig, unfähig und korrupt darstellt. Mehr erfuhr und erfährt man in Deutschland eigentlich nicht über das Volk der Êzid:innen.

Die Veranstaltung der taz vom 31. Juli 2024 und die wenigen Berichte in der ZEIT, in der Jüdischen Allgemeinen und in der ARD-Mediathek sind nicht das einzige Hoffnungszeichen der deutschen Öffentlichkeit für die Rechte und die Geschichte der Êzîd:innen. In der Wissenschaft bekannt ist das Yezidi Studies Center, das an drei deutschen Universitäten verankert ist und auf dessen Seite zahlreiche Veröffentlichungen zu finden sind. Der Berliner Verlag Frank & Timme hat nun eine eigene Reihe mit dem Titel „Yezidi Studies“ aufgelegt, die von Sebastian Maisel kuratiert wird, der auch einer der Akteure des Yezidi Studies Center ist. Der erste Band mit dem Titel „I won’t let them be like me – Ezidi Women’s Agency and Identity after the Sinjar Genocide“ ist die bereits kurz angesprochene Arbeit von Rick Latham Lechowick und befasst sich auf der Grundlage von Gesprächen mit êzîdischen Frauen mit der Frage: „do women have greater agency now than they had before the genocide?“ Diese Frage entspricht durchaus den Ansätzen in den Romanen von Ronya Othmann und den Dokumentationen von Düzen Tekkal.

Die Antwort stimmt – bei aller Brutalität des Geschehenen – eher zuversichtlich, wie auch das als Beispiel für viele zu Beginn dieses Essays zitierte Statement. So wie Düzen Tekkal in ihren Dokumentationen gibt auch Rick Latham Lechowick ihnen Öffentlichkeit. Frauen sprechen, sie reden über Geschehenes und ihre aktuelle Lage. Sie werden selbstbewusster. Auch bei Männern sind Veränderungen feststellbar: „As Elind (eine Gesprächspartnerin von Rick Latham Lechowick) explains, it was shameful for men to help women (sometimes), because of the change in the view of shame on that. And with that help, women’s time and day are opened up for new possibilities for new agencies.” Von ähnlichen Veränderungen berichtet auch Ronya Othmann. In Mala Afrin wurde das Kastensystem abgeschafft, an anderen Orten ist man noch skeptisch, ob die êzîdische Führung dies zulasse. Es gibt säkulare Êzîd:innen, es gibt religiöse und dann gibt es inzwischen auch „deutsche Êzîden“, eine „dritte Gruppe“.

Die Studie von Rick Latham Lechowick enthält ausführliche Informationen über Geschichte und Identitäten – man muss diesen Begriff im Plural verwenden – der Êzîd:innen sowie ein umfangreiches Glossar. Wünschenswert wäre vielleicht eine deutschsprachige Zusammenfassung. Er beschreibt die Vorgeschichte des Völkermords, zu dem auch der angesichts des Vormarschs des sogenannten „Islamischen Staates“ erfolgte Rückzug der kurdischen Peschmerga am Vorabend des 3. August gehöre: „The handful of peshmerga who remained were Ezidis who disobeyed direct orders, deserting to remain and protect their homes. A few hours after the peshermga’s retreat, just past midnight on August 3rd, Daesh forces initiated a full-scale attack on Ezidi villages across Shingal.” Es waren nicht nur êzîdische Peshmerga, sondern auch – wie bereits erwähnt – PKK-Kämpfer:innen, die einige Tausende Êzîd:innen retteten.

Rick Latham Lechowick weist allerdings – ähnlich wie Ronya Othmann – auch darauf hin, dass die Geschichte der Êzîd:innen oft nur aus der Perspektive anderer beschrieben worden sei. Dies zeige sich beispielsweise schon beim Namen: „Shingali Ezidis call themselves ‚Ezidi‘ and note that the ‚Yezidi‘ pronunciation comes only from non-Ezidis, and is written as such in non-Ezidi Arabic with English, French, German, and other authors copying this exogeneous form.” Es stellt auch immer wieder die Frage, ob sich Êzîd:innen als Kurd:innen verstanden werden könnten, ob sie sich vor allem über ihre Religion oder über andere Merkmale, beispielsweise als eigenes Volk definierten beziehungsweise definieren lassen. Die von Ronya Othmann in „Die Sommer“ beschriebene Familie versteht sich als kurdisch und als êzîdisch. Der Gegenpol wäre – nach den Erzählungen vor allem des Vaters – eine arabische und muslimische Identität.

Diese Komplexität wirkt sich auch konkret im Alltag aus. Behörden jedoch reduzieren Komplexität. Wenn Êzîd:innen sich beispielsweise in jüngster Zeit nicht als arabisch registrieren ließen, sondern als kurdisch, waren Vertreibungen die Folge, so über die interne Grenze im Irak zur Kurdischen Autonomieregion. Der Religionsbegriff eigne sich nicht zur Beschreibung – so Rick Latham Lechowick –, wenn er im griechisch-römischen oder im abrahamitischen Sinn verwendet wird. Wer Êzîd:innen auf die Religion reduziere, reduziere ihre Identität. Die Gefahr habe immer bestanden, dass êzîdische Identität entweder auf ein patriarchalisches System oder auf Religiosität reduziert würde. Dies ist auch Thema des zweiten Kapitels der Studie, die einen umfangreichen Forschungsbericht enthält, beginnend mit der Entdeckung der Êzîd:innen als Forschungsgebiet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Agency

Foto: Wadi e.V.

Hier kommt der methodische Begriff der „agency“ ins Spiel, der die individuelle Handlungsfähigkeit in den Vordergrund der Studie stelle. Das Buch von Rick Latham Lechowick ist eine wichtige Grundlage für die Konkretisierung einer an den Menschenrechten orientierten und in diesem Sinne feministischen Politik, nicht zuletzt vielleicht sogar einer feministischen Außenpolitik, vor allem weil er die Frauen selbst zu Wort kommen lässt. Allerdings ist „Feminismus“ in diesem Kontext ein problematischer Begriff, wenn beispielsweise „a Muslim woman“ auf ihre Identität als muslimische Frau reduziert würde. Sie würde so zu einer „abstraction“, der jede Individualität aufgrund anderer Persönlichkeitsmerkmale abgesprochen werde. Wer von außen komme, braucht Korrekturen, braucht Distanzierung von eigenen Bildern, verlässliche Übersetzer:innen und Menschen, die erste Eindrücke korrigieren können.

Es geht in der Studie von Rick Latham Lechowick vor allem um Frauen, die in einem Camp für Displaced Persons in Khanke leben, und die Art und Weise, wie sie mit ihrem Leben zurechtkommen beziehungsweise wie weit sie ihr Leben selbstbestimmen können, im sozialwissenschaftlichen Diskurs eben ihre „Agency“. Zu Wort kommen Frauen, die weder in ihre Heimat in Şengal zurückkehren können noch die Chance haben, in einem demokratischen Land zu leben. Im Irak sind sie rechtlos, die irakische Regierung be- und verhindert jede weitere Aufarbeitung, zieht im Grunde das, was auch in anderer Hinsicht „Schlussstrich“ genannt wird. Die Frauen in Khanke haben andere Geschichten als die Frauen, die die Flucht ins Ausland geschafft haben, oder die Frauen, die in Şengal geblieben oder dahin zurückgekehrt sind. Dies zeigt sich in der Art und Weise, wie sie Raum und Zeit erleben. „An overabundance of free time is one of the biggest issues of the everyday experience in Khanke.” Sie erleben „a continuity of sameness”. Das Raumerleben bezieht sich auf die Enge in den Räumen, die Häuser, die Versorgung mit Strom und Energie, die Zugänge, die nicht immer frei sind, die Schule, die oft außerhalb des Camps besucht werden muss.

Eine zentrale Botschaft des Buches ist die Forderung, dass Forschung, Politik, auch Medien und Journalist:innen aufhören müssen, Êzîd:innen über eine „western-based constructed identity“ zu betrachten. Die Interviews mit den êzîdischen Frauen zeigten, dass sich ihre Identität nicht auf die Verfolgung, auf das Nicht-Muslimische reduzieren lässt. Hinzu kommt ein Gendern der êzîdischen Identität nach dem Genozid, indem vor allem der weibliche Körper, die erlittene sexuelle Gewalt im Mittelpunkt der Berichterstattung und politischer Positionierungen gesehen werden. Damit wird man den Frauen nicht gerecht (und unterschlägt auch das Schicksal überlebender Jungen und Männer).

Rick Latham Lechowick weist darauf hin, dass „Überlebende:r“ („survivor“) als Identitätsmerkmal oft von außen verwendet werde, auch von Êzîd:innen, die nicht selbst Opfer des 3. August 2014 geworden waren. Es gebe Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Erinnerung, auch zwischen „memory“ und „nostalgia“. Hinzu komme, dass es sich bei den êzîdischen Gemeinschaften, bei der êzîdischen Gesellschaft um eine Gesellschaft von vorwiegend mündlicher Überlieferung handele. „Memories can be saved, but, in the process of writing down beliefs, heterogenity may be lost.“ Ronya Othmann löst dieses Problem zum Beispiel in „Die Sommer“, indem sie in langen Passagen dem Vater oder der Großmutter eine Stimme gibt. Mündliche und schriftliche Überlieferung vermischen sich. In diesen Passagen sagt der Vater: „Ich“, die Geschichte wird in einer Ich-Erzählung erzählt, beispielsweise seine Zeit der Flucht aus Nordsyrien nach Deutschland, die ihn in türkische Gefängnisse bringt, die Folter, die er dort erlebt, die Spitzel, denen er begegnet. Romanautor:innen, Wissenschaftler:innen, Dokumentarfilmemacher:innen – sie alle brauchen die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Menschen, über die sie forschen, schreiben, die sie in ihren Filmen zeigen, selbst sprechen zu lassen. In der Kombination der Szenen ergibt sich dann ein Bild, dass die individuellen Zeugnisse von Zeitzeug:innen zu einem Gesamtbild werden lässt, fast schon mit einem monographischen Charakter.

Rückkehr aus der IS-Gefangenschaft. Foto: Wadi e.V.

Ein zentraler Ansatz der Studie von Rick Latham Lechowick liegt darin, dass er die Frauen für sich selbst sprechen lässt. Dabei unterstützten ihn vier Übersetzerinnen. Der dritte Teil seiner Studie trägt den programmatischen Titel: „Women’s Words“. Was bedeutet „Ezidiness“, was „Shingaliness“, wie ordnet sich das Leben in die Gesellschaft beziehungsweise Gemeinschaft ein, wie in den Hierarchien? Zur Identität gehört ebenso das ständige Gefühl der Verfolgung, Teil des kollektiven Gedächtnisses: „Each period of regional Ezidi power was bookened by periods of persecution“, seit 2014 änderte sich allerdings die Begrifflichkeit, aus „persecution“ wurde „genocide“, ungeachtet der êzîdischen Bezeichnung als „Ferman“. Ohnmacht, „powerlessness“ ist ein verbreitetes Gefühl. Manche versuchen, anonym zu bleiben, sich nicht über „Ezidiness“ zu definieren, auch nicht über den Genozid.

Sicherlich spielten „Ezidiness“, „Shingaliness“, „Survivorness“ vor dem Genozid keine Rolle bei der Reflektion über die eigene Identität, es ist auch nicht nachweisbar, was und wer sich zu welchem Zeitpunkt wie veränderte. Die meisten Frauen berichten aber auch, dass sich im Verhältnis zwischen Männern und Frauen schon vor 2014 Änderungen abzeichneten, Frauen mehr Handlungsspielräume hätten. Das größte Hindernis sei in der aktuellen Lage „the death of opportunities due to the limited existence in the camps.” Eine vergleichende Forschung mit anderen Communities, die lange Jahre oder sogar Jahrzehnte in solchen Displaced Person Camps verbringen, wäre sicherlich von Interesse. Das Buch darf daher auch als Beitrag zur Displaced-Persons-Forschung gelesen werden, ein Thema auch aus der Post-Shoah-Forschung, zu der auch der Verlag Frank & Timme einen wertvollen Beitrag leistete, den ich in meinem Essay „Displaced Forever?“ gewürdigt habe.

Immer wieder von vorn

„Vierundsiebzig“ unterscheidet sich im Ton erheblich von Ronya Othmanns erstem Roman. In „Die Sommer“ beschreibt sie aus der Sicht des Mädchens Leyla, dessen Familiengeschichte ihrer eigenen gleicht, Tochter eines êzîdischen Vaters und einer schwäbischen Mutter, die Sommerferien im Heimatdorf des Vaters in Nordsyrien. Besonders poetisch wirken die Erzählungen der Großmutter, die als einzige der gesamten Familie täglich betet, Leyla die Geschichte und die Glaubensgrundlagen der êzîdischen Religion erzählt. Die Verfolgungsgeschichte spielt am Rande eine Rolle, auch Bilder aus Aleppo, sodass sich immer wieder die Frage stellt, wie real, wie fiktiv die poetisch gewendeten Erinnerungen sind. „Dachte Leyla später daran zurück, dann konnte sie diesen Tag keinem bestimmten Sommer zuordnen, konnte die Sommer überhaupt in keine Reihenfolge bringen. Ihre Erinnerungen waren nichts als einzelne Szenen, in Teilen bruchstückhaft, alle völlig ungeordnet. Fast nie konnte sie sagen, ob etwas in diesem Jahr passiert war oder in jenem. Hatte sie etwas vergessen? Was hatte sie vergessen?“ Leyla denkt, sie müsse alles aufschreiben, was ihr die Großmutter erzählt, doch diese antwortet: „wozu das denn? Die Großmutter trug ihr Buch auf der Zunge. / Besser im Kopf, Leyla, sagte sie. / Da ist es vor allem sicher.“ Andererseits: „Sie, die nie lesen und schreiben gelernt hatte, machte keinen Unterschied. Für sie war alles Gedruckte gefährlich.“

Rick Latham Lechowick vermerkt in seinen Schlussfolgerungen, dass er das Buch nicht nur für Akademiker:innen geschrieben habe, „it was also written for Ezidis with the expectation that some may read it one day. My recommendation to Shingali Ezidi women is to understand the fact that there are others who share your thoughts and feelings. In the most positive way possible, you are not the only one who thinks as you do.” Das Thema von Sprachfähigkeit oder Sprachlosigkeit, mit allen Schwierigkeiten überhaupt sprechen zu können, betrifft ihn als Wissenschaftler ebenso wie Ronya Othmann als Romanautorin und als Journalistin. Eben dies ist die Quintessenz einer Gattung, die Ronya Othmann in dem Gespräch mit Ayala Goldmann – „dokumentarischer Roman“ nennt.

Ronya Othmann schreibt: „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht, dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt.“ Das Unerzählte begegnet ihr auf Schritt und Tritt. „Die Felsen liegen in der warmen Spätnachmittagssonne. Wie viele Menschen hier gestorben sind, denke ich, in dieser Landschaft, die man in Reiseführern als malerisch beschrieben fände. Sie ist tatsächlich außergewöhnlich schön. Dieser mächtige Berg, vor dem sich das flache Land erstreckt.“ Eine ähnliche Perspektive entdeckt und problematisiert Leyla in „Die Sommer: „Sobald sie Zeit fand, ging sie dann wieder auf den Hügel, sah sich das Dorf wieder von oben an. Von dort oben wirkten alle Veränderungen geringer. Immer war es dasselbe Lehmbraun der Dächer, waren es dieselben bloß leicht gewellten Felder, war es dieselbe trockene Landschaft.“ Sie stellt fest, dass niemand auf diese Art sieht, dass mehr die Hälfte der 200 Familien, die noch in der Jugend ihres Vaters dort lebten, weggezogen waren. Aber ihre Perspektive aus der Ferne hat auch einen schalen Beigeschmack: „Vielleicht war auch einfach nur lächerlich gewesen, wie sie damals dort oben gestanden hatte, ein reicher Agha, der seine Ländereien überblickt.“

Foto: Wadi e.V.

In „Vierundsiebzig“ lässt die Erzählerin diese Selbstdistanzierung schon beim Betrachten von Fotografien zweifeln, sie kennt die Menschen nicht, die sie sieht und „doch sind sie mir vertraut.“ Andererseits gerät auch sie in die Rolle der Touristin, die Museen besucht wie das Museum des Assyrischen Erbesin Erbil und die sich wundert, dort auch Gegenstände aus ihrem Alltagsleben zu entdecken. Aber ob alle Tourist:innen, die ein solches Museum besuchen, merken, was sie sehen, was jemand wie Ronya Othmann mit ihrer Familiengeschichte und nicht zuletzt auch mit ihrem journalistischen Know-How dort sieht? „Die Massaker ziehen sich durch die Ausstellung, denke ich, selbst dort, wo sie nicht explizit erwähnt werden.“ Auch die Geschichte der Völkermorde in der Region, an den Aramäern und an den Armeniern – „Beide Genozide werden bis heute in der Türkei geleugnet“ – und die Vertreibungen der letzten Christen aus Mossul. Aber es gibt in dem Museum des assyrischen Erbes zwischen den 1970er Jahren bis etwa 2020 auch „eine Lücke von fünfzig Jahren“!

Vielleicht noch ein Gedanke von Kaja, die ich eingangs zitierte, mit dem Rick Latham Lechowick seine Studie abschließt: „Kaja knows that some day, somewhere, future generations will experience complete freedom. Kaja does not know what the agential possibilities will be, she only knows that there will be possibilities. That is enough for her to hope. As Zora Neal Hurson wrote (in: Moses, Man of the Mountain, Urbana University of Illinois Press, 1984), ‚once you wake up thought in a (wo)man, you can never put it to sleep again.’” Ronya Othmann schließt in „Die Sommer“ mit dem Gedanken: „Ich sage, eigentlich müsste ich noch einmal von vorne beginnen.“

Norbert Reichel, Bonn

P.S.: Die Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema ignorieren weitgehend die in diesem Essay geschilderten Ambivalenzen und Konflikte. Wer sich jedoch ausführlich und möglichst umfassend informieren möchte, sollte sich durch die in diesem Essay verlinkten Informationsangebote klicken.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2024, Internetzugriffe zuletzt am 13. August 2024. Für wichtige Hinweise danke ich den Teilnehmer:innen des Podiums der im Text referierten Veranstaltung der taz. Ferner danke ich Esther Winkelmann und Thomas von der Osten-Sacken, dem ich auch für die Genehmigung danke, Bilder von Wadi e.V. zu veröffentlichen. Dazu gehört auch das Titelbild, das eine Demonstration im Lager Khanke für den Erhalt der Schule zeigt.)