Projektionen und Spiegelungen

Das gefährliche Gemisch des israelbezogenen Antisemitismus

„Und trotzdem: Es ist eine große Leistung freier demokratischer Gesellschaften, auch moralisch und politisch fehlgeleitete Menschen im wahrsten Sinne des Wortes zu tolerieren. Auch darum geht es nun in diesem Krieg. Nicht nur um das Überleben der Israelis und Juden, sondern um das Besiegen des Dschihadismus. Damit auch die Gegner der Juden frei leben können.“ (Natan Sznaider, Zur Lüge der Linken, in: Süddeutsche Zeitung 24. Oktober 2023)

Der 7. Oktober 2023 veränderte alles, fast alles. So denken manche, aber die Reaktionen auf den 7. Oktober machten etwas sichtbar, das wir lange vielleicht nicht sehen wollten: Israelbezogener Antisemitismus wurde in den vergangenen 20 Jahren zur populärsten Variante des Antisemitismus, dessen besonderer Vorteil für diejenigen, die sie vertreten, darin besteht, dass sie ihren historischen Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus hinter einer „Israelkritik“ verstecken können, die offenbar manche für so berechtigt halten, dass es der Begriff in den Duden hineinschaffte. Andere Kombinationen der Nennung eines Landes mit dem Suffix „-kritik“ gibt es nicht. Vergleichbar ist nur ein anderes im Duden enthaltenes I-Wort, die „Islamkritik“, die allerdings in manchen aktuellen Debatten fast wie ein Spiegelbild der sogenannten „Israelkritik“ wirken mag, weil diejenigen viel Zustimmung genießen, die antiisraelisch-antisemitische Haltungen ausschließlich Muslimen zuschreiben. Die einen „kritisieren“ Israel, die anderen den Islam.

Denkwürdige Koalitionen

Die Vorgeschichte der Kritik an Israel reicht zumindest in das Jahr 1967, das nach verschiedenen Historikern, prominent vor allem Tom Segev mit seinem Buch „1967 – Israels zweite Geburt“, ein Schlüssel- und Wendejahr war. 1967 war das Jahr, in dem Israel Besatzungsmacht wurde, ein Zustand, der bis heute zu heftigen Kontroversen auch in Israel selbst führt. Nach dem 7. Oktober konnte sich der Streit um Israel und die Frage, ob jede Kritik an Israel als Antisemitismus zu bezeichnen wäre, auf eine sich zunehmend radikalisierende Stimmungslage stützen, die nicht nur in palästinensischen, arabischen oder muslimischen Communities der westlichen Welt, sondern auch an den dortigen Hochschulen und in den westlichen zivilgesellschaftlichen Communities ihre Basis hatte, sich aber auch darin äußerte, dass die Zustimmungswerte für die Selbstverteidigung Israels in der Bevölkerung deutlich unter denen liegen, derer sich nach dem 24. Februar 2022 die Ukraine erfreuen dürfte.

Nach dem 7. Oktober entstand eine denkwürdige Koalition von Islamismus, sich antikolonialistisch begründenden Linken, Kultur- und Clubszene, die nur eines gemeinsam hatten: sie alle verurteilten nicht die Hamas, sondern Israel. Die Nürnberger Politikwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan diagnostizierte eine „Empathiesperre“, die sich inzwischen zu einer „Gesprächssperre“ ausgewachsen hat. Wir erleben ein Paradox, wie es Anshel Pfeffer, Korrespondent für die internationale Ausgabe von Ha’aretz und Autor einer Netanjahu-Biographie, in seiner Analyse des Antisemitismus in der britischen Labour Party unter Jeremy Corbyn beschreibt, „dass Individuen auf persönlicher Ebene nicht als antisemitisch gelten, obwohl sie einer Weltanschauung anhängen, die antisemitisch ist.“ Eben dieses scheinbare Paradox bestimmt auch die Haltung mancher Intellektueller gegenüber der BDS-Bewegung.

Der zitierte Satz Anshel Pfeffers stammt aus dem vom Suhrkamp-Verlag im Jahr 2023 neu aufgelegten Band „Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte“. Der Band enthält Texte aus dem Jahr 2004, viele davon wurden von ihren Autor:innen mit einem auf das Jahr 2018 datierten Nachwort versehen. 2023 erschien die dritte, diesmal nicht mehr veränderte Auflage. Herausgeber der zweiten und dritten Auflage sind Christian Heilbronn, Doron Rabinovici und Natan Sznaider (die erste Auflage besorgte an Stelle von Christian Heilbronn Ulrich Speck). Doron Rabinovici und Natan Sznaider verfassten den einleitenden Essay unter der den Gesamttitel zuspitzenden Überschrift „Neuer Antisemitismus: Die Verschärfung einer Debatte“.

Das Buch enthält 18 Essays, die sich in drei Kapitel aufteilen lassen. Omer Bartov, Tony Judt, Judith Butler, Gerd Koenen und Sina Arnold sorgen für eine allgemeine Bewertung der Debatte. Michel Wieviorka, Matthias Küntzel, Katajun Amirpur, Ian Buruma, András Kovács, Rafał Pankowski, Jan T. Gross, Brian Klug und Anabel Pfeffer beschreiben die Diskurse in verschiedenen Ländern, in Frankreich, in der arabischen Welt, im Iran, in den USA, in Ungarn, in Polen, in Großbritannien. Der dritte Teil darf mit vier Texten von Monika Schwarz-Friesel, Ingrid Brodnig, Moshe Zimmermann und Dan Diner als eine Art Phänomenologie des Antisemitismus beziehungsweise der Debatten um Antisemitismus gelesen werden.

Das Buch dekonstruiert den Antisemitismus der antikolonialistischen Linken, die mit Israel ein klares Hassobjekt hat, aber Kritik an muslimischem Antisemitismus gerne als rassistisch und kolonialistisch markiert. Es benennt ebenso die zurzeit eher verklausulierten Erscheinungsformen des rechten nationalistisch begründeten Antisemitismus, der ungeachtet antikapitalistisch lesbarer Anklänge sein Haupthassobjekt vor allem im Islam findet, in seinem Antisemitismus jedoch in der antikolonialistischen Linken so Gesinnungsgenoss:innen findet.

Erkenntnisinteresse Delegitimation

Jürgen Wiebicke nannte in unserem Gespräch für den Demokratischen Salon mit dem Titel „Gute Orte und die Lust zu streiten“ auf einen Text von Claus Leggewie in der FAZ: „Er hat an eine historische Debatte aus den frühen 1960er Jahren zwischen dem Nobelpreisträger James Baldwin und William Buckley Jr., dem Protagonisten der damaligen neuen Rechten, erinnert. Er macht darauf aufmerksam, dass man sich eine solche Debatte heute nicht mehr vorstellen könnte, weil beide Seiten wahrscheinlich keine Lust mehr hätten, öffentlich miteinander zu streiten. Natürlich muss man sich fragen, wo die Grenze verläuft. Aber das politische Klima hat sich so sehr verändert, dass wir manche Menschen nicht mehr gemeinsam einladen können, damit diese sich öffentlich streiten. Ich finde, das ist ein trauriger Befund. Im Hinblick auf unsere derzeitige Debattenkultur.“

Das Buch „Neuer Antisemitismus?“ wagt diesen Streit, zwar nicht in einem gemeinsamen realen, wohl aber in einem virtuellen Raum. Aber manche Debatte zeigt, dass schon ein virtuelles Treffen, hinter einem gemeinsamen Buchcover, problematisch werden kann. Unbestreitbar ist: „In verschiedenen Städten Europas und der USA wissen sich Juden heute nicht mehr sicher.“ Wohlgemerkt: „wissen“! Es ist nicht nur ein diffuses Gefühl. Auch dies sollte nie vergessen, wer sich auf Debatten zum Antisemitismus einlässt.

Wer sich auf die Debatte um den heutigen Antisemitismus einlässt, sollte wissen, was es bedeutet – so Doron Rabinovici und Natan Sznaider in ihrer Einleitung –, in „theoretischen Treibsand“ zu geraten: man findet „sich zumeist in einer fatalen Dichotomie zwischen Alarmisten und Leugnern gefangen.“ Ebenso sicher ist die Tatsache, dass mit der Frage, „ob Kritik an Israel antisemitisch ist oder nicht, bedeutet, die Büchse der Pandora zu öffnen, denn derartige Beiträge enden für gewöhnlich in der Debatte über die Legitimität der Kritik“.

Dies sieht im Übrigen auch Judith Butler so. Sie konstatiert einen „Unterschied zwischen Antisemitismus und dem Antisemitismusvorwurf“, landet aber wenige Worte später bei der Frage, ob BDS antisemitisch sei. Aus ihrer Sicht natürlich nicht, denn es gehe um „gewaltfreie Maßnahmen gegen eine Kolonialmacht (…), die staatliche Gewalt einsetzt, um die politischen Rechte seiner Minderheiten zu untergraben.“ Sie unterscheidet allerdings nicht zwischen dem Existenzrecht des Staates Israel, das auch die UN-Charta garantiert, und dem Verhalten verschiedener Teile der israelischen Regierungen, nicht zuletzt denen, die die sogenannte Siedlerbewegung vertreten und diese nach Kräften unterstützen.

Judith Butler und Tony Judt vertreten die bekannte antikolonialistische Perspektive, die Antisemitismus und Antizionismus deutlich voneinander trennt. Tony Judt kritisiert, „dass in Europa Antizionismus und Antisemitismus synonym geworden sind“, Judith Butler verficht ihre pro-palästinensische Haltung, die auch die BDS-Bewegung integriert, mit dem Ziel einer „Allianz der sozialen Gerechtigkeit“. Wer diese Positionen widerlegen will, sollte diese Texte kennen.

Vielleicht ahnen wir in dieser Gefechtslage – man vergebe mir die militärische Assoziation, aber sie ist nicht allzu weit hergeholt, wenn man den Ton mancher Debatten verfolgt –, wie eine heutige Debatte zwischen einem James Baldwin und einem William Buckley verlaufen würde, sofern sie überhaupt stattfände. Als gängige rhetorische Figur dürfte sich der Versuch der Delegitimation der Einlassung des Anderen erweisen. Delegitimation ist eines der drei „D“, die Natan Sharansky als Antisemitismus-Schnelltest nannte: „Delegitimation, Diabolisierung, Doppelstandards“. Alle drei „D“, jedes für sich, töten im Grunde jeden Versuch einer Rechtfertigung oder Verteidigung Israels. Kontroverse wird zu Konfrontation und Konfrontation wird zu mehr oder weniger hämischer Schadenfreude über die Schlechtigkeit des Anderen.

Doron Rabinovici und Natan Sznaider fassen in ihrer Einleitung den in ihrem Buch enthaltenen Essay von Sina Arnold mit den Worten zusammen: „Von rechts freut man sich über den linken Antisemitismus und verharmlost den eigenen, und von links freut man sich des rechten Antisemitismus und verharmlost die eigenen Vorurteile.“ Ergänzen ließe sich die Freude mancher Vertreter:innen der antikolonialistischen Linken, dass es – wie die aktuelle israelische Regierung zeigt – auch rechtsextremistische und rassistische Juden gibt, eine weitere Gelegenheit zur Delegitimation gleich all derjenigen, die Israel verteidigen, ignorierend, dass viele, die durchgehend das Existenz- und Selbstverteidigungsrecht Israels verteidigen, sich jedoch oft genug mehr als deutlich von der israelischen Regierung und nicht zuletzt von der Siedlerbewegung im Westjordanland distanzieren.

Wie muslimisch ist der Antisemitismus?

In einer solchen Stimmung markiert „die eine Seite jeweils die andere als den wahren Agenten des eigentlichen Antisemitismus“. Mit diesem Gedanken kommentieren Doron Rabinovici und Natan Sznaider Judith Butlers Beitrag von 2004 und ihren Selbstkommentar von 2018. Spiegelbildlich dazu passt die Frage nach der palästinensischen Seite, die oft als muslimische Seite gelesen wird, obwohl nicht alle Palästinenser:innen Muslim:innen sind. Der Islam beziehungsweise eine radikale Lesart des Islam gilt allerdings bewaffneten palästinensischen Gruppen, der Hamas, der Hisbollah, dem Islamischen Dschijad als Grundlage und Auftrag.

Sina Arnold spricht von einer „Selbstethnisierung“ mancher migrantischen Deutschen, auch von „muslimischen oder nichtmuslimischen – Geflüchteten.“ Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie „immer wieder aus dem ‚deutschen Wir‘ herausdefiniert“ werden. „Ihr Antisemitismus hat, neben ideologischen Ursachen wie etwa salafistischen Einflüssen, gerade unter Jugendlichen manchmal eben auch die Funktion der Selbstethnisierung, Identitätsstabilisierung und Provokation – gerade vor dem Hintergrund der Betonung anderer identitärer Marker wie ‚muslimisch‘, ‚arabisch‘ oder ‚palästinensisch‘.“ Wer keinen deutschen Pass hat, ist vielleicht vorsichtiger. Allerdings lassen sich in Studien über Einstellungen Geflüchteter auch Veränderungen zum Guten feststellen. Sina Arnold zitiert: „Vor dem Krieg wusste ich, dass Israel der allererste Feind der Syrer ist. Das wurde bei uns in der Schule unterrichtet, dass Israel der Feind ist. Jetzt, nach dem Krieg, habe ich gesehen, dass nicht Israel der größte Feind Syriens ist, sondern der Iran und die Hisbollah.‘ Andere erinnern sich daran, dass die israelische Polizei syrische Verwundete an den Grenzen versorgte.“ Meltem Kulaçatan berichtet in dem zitierten Interview von muslimischen Frauen in Deutschland, die sie fragten, wie sie sich mit Jüdinnen solidarisch zeigen könnten.

Weder in der Pädagogik noch in der Integrationspolitik gibt es eine Lösung, die auf alle passt. Es sind – wie die MEMO-Studien nachweisen – nicht nur Zugewanderte, die nicht wissen, was in Auschwitz-Birkenau geschah. Es spielt letztlich keine Rolle, woher jemand kommt, der die Shoah verharmlost oder ignoriert, sich antisemitisch äußert oder eben auch nicht. Sina Arnold fordert, „Haltungen statt der Herkunft in den Mittelpunkt zu stellen. Die Frage wäre dann nicht mehr: Araber, Muslim, Deutscher oder Flüchtling? Sondern: Wie lassen sich religiöser Fundamentalismus, antidemokratische Einstellungen, Antisemitismus oder Rassismus bekämpfen – egal, von wem diese ausgehen.“ In diesem Zusammenhang sollte zuerst die Frage nach dem Erkenntnisinteresse geklärt werden. In vielen Debatten geht es in erster Linie um die Delegitimation des Anderen, um Identitätspolitik.

Das gilt nicht zuletzt für Staatsführer, die sich als Muslime inszenieren, um ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Omer Bartov belegt die gängige Verharmlosung der Äußerungen solcher Staatsführer in der westlichen Politik und Presse am Beispiel des mehrmaligen malaysischen Premierministers Mahathir Mohamad, der am 16. Oktober 2003 „vor der Islamischen Konferenz erklärt hatte, die Juden beherrschten die Welt“. Mit den dazugehörigen Schlussfolgerungen. Westliche Journalist:innen und Politiker:innen verurteilten die Rede. Nicht mehr und nicht weniger.

Omer Bartov verweist in seinem Beitrag in „Neuer Antisemitismus?“ auf das „Zweite Buch“; in dem Hitler schon in den 1920er Jahren all das aufgeschrieben hatte, was er dann tatsächlich tat beziehungsweise veranlasste. Das Buch wurde zu Hitlers Lebzeiten nicht veröffentlicht, sondern erst 1958 entdeckt. Omer Bartov stellt lapidar fest: „Wenn diese Leute sagen, dass sie dich töten, dann töten sie dich auch – es sei denn, du tötest sie zuerst.“ So ist es auch mit den Einlassungen moderner Staatsführer.

Omer Bartov verweist auf Paul Krugman, der in der New York Times für Verständnis warb, Mahatir Mohameds „Antisemitismus sei lediglich ‚ein Bestandteil eines innenpolitischen Balanceaktes‘.“ Anders gesagt: Antisemitismus als Metapher. Ähnlich ließen sich die Kommentare der antikolonialistischen Linken und vieler aus ehemaligen Kolonien entstandener Staaten des sogenannten „Globalen Südens“ zum Massaker der Hamas vom 7. Oktober relativieren. Alles nur zur Befriedung der eigenen Community? Omer Bartov zitiert die Inhalte der Hamas-Charta sowie Einlassungen eines Mitglieds der für den Terrorangriff vom 11. September 2001 verantwortlichen Al-Qaida-Zelle vor dem Hamburger Gericht. Islamismus und Nationalsozialismus seien nicht dasselbe, aber es zeige sich, „dass der Islamismus einen sehr europäischen, naziähnlichen, genozidalen Antisemitismus in sich aufgenommen hat.“ Und damit sind wir wieder bei Hitlers Büchern, Omer Bartov schreibt: „Hitler hat der Menschheit eine wichtige Lektion erteilt: Wenn du einen Nazi siehst, einen Faschisten oder einen Antisemiten, dann musst du sagen, was du siehst. Wenn du etwas rechtfertigen willst, dann beschreibe genau, was du damit herunterspielst. (…) Wo die Klarheit aufhört, da beginnt die Mittäterschaft.“

In Deutschland verschwindet diese Klarheit immer wieder. So geht nach dem 7. Oktober 2023 wieder einmal die Mär um, der hiesige Antisemitismus sei importiert. Einer der ersten, die sich so äußerten, war Hubert Aiwanger. Deutsche Antisemiten? Kann es doch gar nicht geben, aber die Zuwandernden möchten sich doch bitte gegen jeden Antisemitismus erklären und zum Existenzrecht Israels bekennen. Die Innenministerin von Sachsen-Anhalt machte den Anfang. Aber woher kommt der Antisemitismus in den arabischen Ländern? Oder müssen wir davon ausgehen, dass es sich bei dem in Deutschland feststellbaren arabischem Antisemitismus um einen Re-Import handelt, der auch wiederum manche antisemitische Koalition erklären könnte?

Matthias Küntzel hat sich intensiv mit dieser Frage befasst, ausführlich in seinem Buch „Nazis und der Nahe Osten – Wie der Islamische Antisemitismus entstand“ (Leipzig, Hentrich & Hentrich, 2019). In seinem Beitrag in „Neuer Antisemitismus?“ beschreibt er die Rolle des NS-Radiosenders Zeesen, des von der Hisbollah betriebenen Satellitenkanals Al-Manar, die Bedeutung des Wirkens des Großmuftis von Jerusalem, Amin el-Husseini, und seiner Freundschaft zu Hitler. Matthias Küntzel nennt allerdings auch die Unterschiede zwischen christlichem und islamischem Antijudaismus. Der christliche Antijudaismus warf den Juden vor, Jesus Christus ermordet zu haben, Mohammed hingegen ließ die jüdischen Stämme aus Medina vertreiben, versklaven und töten. Angesichts dieses Unterschieds musste der Gedanke, dass Juden „eine permanente Gefahr für die Muslime und die Welt bedeuteten, absurd erscheinen. / Umso kraftvoller musste diese Wahnidee der arabisch-islamischen Welt eingehämmert werden.“ Im Folgenden beschreibt Matthias Küntzel die Rezeption des Peel-Plans von 1937 zur Teilung Palästinas, die Rolle der Muslimbruderschaft in der Mitte der 1930er Jahre bis hin zur auch heute noch virulenten Rezeption der „Protokolle der Weisen von Zion“, auf die sich auch die Hamas-Charta beruft. „In Beirut waren es nicht Horst Mahler und seine Freunde, sondern erklärte Gegner des Faschismus, die mit der Hisbollah und ihrem stellvertretenden Generalsekretär, Scheich Naeem Qasim, zusammenkamen.“

Hauptgegner Israel – Antisemitismus und Antiamerikanismus

Katajun Amirpur differenziert im Hinblick auf den Iran. Die eine Seite lässt sich aus den Schriften und der Politik des Gründers der Islamischen Republik Iran ableiten: „Für die Probleme Irans macht Khomeini den Westen, die Juden und beider Handlanger, Mohamed Reza Pahlewi, verantwortlich.“ Khomeini ist es gelungen, sich erfolgreich als Partner der antikolonialistischen Bewegungen dieser Welt zu inszenieren. Katajun Amirpur hat dies in ihrer Khomeini-Biographie (München, C.H. Beck, 2019) belegt. Es gibt im Iran aber auch andere Stimmen. Sie nennt beispielsweise Abdol-Hossein Sardari, der „als iranischer Diplomat in Paris während der vierziger Jahre Hunderten französischer Juden das Leben (rettete), indem er ihnen einen iranischen Pass verschaffte, mit dem sie in den Iran flohen.“ Ausführlicher dazu in ihren Büchern „Reformislam – Der Kampf für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte“ (München, C.H. Beck, 2013, 3. Auflage 2019) sowie „Iran ohne Islam – Der Aufstand gegen den Gottesstaat“ (München, C.H. Beck, 2023). Es setzte sich jedoch in der Iranischen Republik die Position Mahmud Ahmadinedschads durch, der von 2005 bis 2013 Präsident war und dessen Auffassungen dank der Unterstützung der herrschenden Mullahs, allen voran Ali Khamenei, nach wie vor gelten und nicht zuletzt für die Aufrüstung der Hisbollah an den Grenzen Israels verantwortlich sind.

Ian Buruma analysiert die Beziehungen zwischen Amerika und Israel und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Die Jahre 1956 mit der Suezkrise und 1967 mit dem Sechstagekrieg seien Schlüsselereignisse, die ihre Wirkmächtigkeit aus der „Politik des Kalten Krieges“ zogen. Hier verbinden sich Antisemitismus, Antizionismus, Antikolonialismus und Antiamerikanismus zu einer gefährlichen Mischung, in der Israel zum exemplarischen Gegner wird. Anders gesagt: Israel wird zur Metapher der Macht, die zu bekämpfen ist. Und da niemand sich als Antisemiten bezeichnen lassen möchte, wird eben die Bekämpfung von Zionismus, von Kolonialherrschaft und den USA zur Hauptaufgabe, anders gesagt: zum willkommenen Anlass einer Umwegkommunikation, über die antisemitische Anklänge erfolgreich geleugnet werden können.

Gerd Koenen benennt in seinem Beitrag die „eliminatorische Verschärfung des herkömmlichen deutsch-völkischen Antisemitismus durch die Hitlerpartei“ sowie die Karriere der „‚Zionisten‘ als die letzten Hauptfeinde seines Regimes“ im Stalinismus mit ihren Wirkungen bis in die Endphase des sowjetischen Imperiums. Hier war der „Zionismus“ tatsächlich – wenn auch nicht nur – Metapher: „Der stalinistische Begriff des ‚Zionismus‘ reichte nicht nur zwecks Camouflage, sondern in seiner wirklichen Bedeutung, über alle ethnischen Zuschreibungen weit hinaus. Der komplementäre Begriff war der des ‚Kosmopolitismus‘.“

Gerd Koenen spricht von „Ideologietransfer“, der sich auch in der westlichen Linken auswirke, die abenteuerliche Verbindungen zog, die ihr aber auch nur möglich waren, weil Auschwitz und der durch nukleare Aufrüstung drohende Atomtod miteinander vermengt wurden. Dies ließ sich sogar mit Günter Anders und Hannah Arendt begründen. In diesem Kontext „fand die sowjetische These dankbare Aufnahme, wonach die israelischen Zionisten dabei seien, mit den Wiedergutmachungsmillionen der ‚alten Nazis‘ aus Bonn unter der Schirmherrschaft des US-Imperialismus den Nahen Osten und seine Ölquellen neu zu kolonisieren. Das Neuartige – und für junge Deutsche besonders Attraktive – am sowjetischen Antizionismus war eben die Lösung vom ethnischen oder religiösen Substrat des Judentums.“

Der von Gerd Koenen rechts wie links diagnostizierte „Kosmopolitismus“ spielt eine verbindende Rolle, auch heute noch. Internationalismus ist bei der antikolonialistischen Linken keine Zukunftsperspektive, im Gegenteil: die meisten „Befreiungsbewegungen“ waren immer auch nationalistische Bewegungen. Und wenn sie es zu Beginn nicht waren, wurden sie es. Im Antiamerikanismus treffen sich europäische Neue Rechte mit Teilen der Linken, in Deutschland sichtbar in den Russlandfantasien der AfD und des Bündnisses Sahra Wagenknecht.

In mehreren Beiträgen des Buches wird deutlich, wie Antisemitismus beziehungsweise Antizionismus und Antiamerikanismus korrelieren. Niemand muss sich mehr als Antisemit:in verdächtigen lassen, es geht ja gegen die große Macht der USA, in den Worten Che Guevaras, um die Schaffung von „zwei, drei, viele(n) Vietnam“. Palästina war und ist eben eines dieser „Vietnam“. Apologet:innen der antikolonialistischen Linken waren in Deutschland Ende der 1960er Jahre Aktivist:innen wie Dieter Kunzelmann, Bernward Vesper, Ulrike Meinhof, Rudi Dutschke, Gaston Salvatore und viele andere heute kaum noch bekannte Akteure der sogenannten 1968er Generation. Der Anschlag vom 9. September 2001 war für manchen in der antikolonialistischen Linken dann auch ein Anschlag auf „das kosmopolitische Völker-Babylon New York“, es ging um die gesamte „längst nicht mehr nur ‚christlich-jüdische‘, europäisch-amerikanische oder ‚westliche‘ Kultur, sondern die gesamte, sich unaufhaltsam pluralisierende, säkularisierende und demokratisierende, medial vernetzende und ökonomisch geriebene globale Zivilisation, die mit ihrem schamlosen Materialismus und Hedonismus alles durchdringt und befleckt – und gerade auch das Intimste: die menschliche Sexualität mit ihrem Urbild, dem weiblichen Körper.“ So ließe sich erklären, warum feministische und queere Communities zum Massaker der Hamas vom 7. Oktober schweigen. Die Tragödie der Linken: sie wurde der zu bekämpfenden Rechten immer ähnlicher. Ein ausgesprochen drastisches Beispiel ist der Wandel der sandinistischen Befreiungsbewegung in Nicaragua zur heutigen Krypto-Diktatur des Daniel Ortega.

Im Jahr 2023 haben alle ehemaligen Kolonien (abgesehen einmal von Gibraltar und den französischen Dom-Toms) die Unabhängigkeit erreicht. So konzentriert sich die antikolonialistische Linke in Ermangelung anderer Gegenstände ihres Wirkens eben auf Israel und Palästina. Die Kolonialpolitik Russlands oder Chinas spielt in ihrem Denken und Handeln keine Rolle. Entscheidend ist die gemeinsame Front gegen die USA.

Völkisch-nationalistisch, christlich

Gerd Koenen ergänzt in seinem Postscriptum von 2008, dass der im Westen tobende Kulturkampf sich nicht nur antisemitisch auflade, sondern auch antimuslimisch, antiislamisch. Gerade die antiislamischen Äußerungen diverser Politiker:innen und Regierungen spiegelten den „völkisch-nationalen oder christlich-fundamentalistischen“ Diskurs. Protagonisten solcher Verbindungen sind Viktor Orbán und Donald Trump. Beide vertreten offensiv die These des französischen Rechts-Intellektuellen Renaud Camus vom „großen Austausch“ – ohne den Urheber zu nennen – und haben in George Soros einen Protagonisten gefunden, den sie einer jüdischen Weltverschwörung verdächtigen, die dafür sorge, dass es eine Invasion von Migrant:innen gebe, gleichviel ob diese lateinamerikanisch oder muslimisch-arabisch definiert werden. Letztlich ist „Nationalismus“ das verbindende Element. Moshe Zimmermann beschreibt, wie die Fantasie oder „Prognose Theodor Herzls“ nicht das Problem beseitigte, das er mit dem Weg nach Palästina bekämpfen wollte, sondern es in einem anderen Gewand neu entstehen und sich verschärfen ließ. „Es war das säkularisierte, christliche Europa, das zum modernen Antisemitismus gegriffen hatte. Eine ähnliche Radikalisierung in der arabischen Welt wurde – trotz ausbleibender Säkularisierung – erst möglich, als auch der Nationalismus aus Europa in den Nahen Osten gelangte.“

Ian Burumua belegt, dass auch die religiöse christliche Rechte in den USA über dieses Gemisch ihren Weg fand, diesmal nicht im offenen Antisemitismus, wohl aber in ihrer antimodernen und antimuslimischen Einstellung. Es gibt inzwischen eine breite „Allianz aus evangelikalen Christen, außenpolitischen Hardlinern, Lobbyisten für die israelische Regierung und Neokonservativen, von denen einige zufällig Juden sind.“ Frei von Antisemitismus ist die religiöse Rechte der USA nicht, denn letztlich haben Juden nach dem von Christen erwarteten Armageddon nur dann eine Chance, das christliche Heil zu erlangen, wenn sie sich taufen lassen. Mitunter hat der rechte Antisemitismus sogar eine antikapitalistische Grundierung, allerdings nur dann, wenn es gegen die „Globalisten“, das „Ostküstenkapital“ und deren Vertreter wie George Soros (der Jude ist) oder Bill Gates (der kein Jude ist) geht. Israel hingegen ist den Israel-Freunden unter evangelikalen Christen ein Land, dass seine Zukunft nicht im Judentum, sondern nach der Wiederkehr des christlich verstandenen Messias im Christentum haben soll, auch dies eine subtile Form von Antisemitismus.

Die christlich-fundamentalistische Gruppe ist eine der Grundfesten des US-amerikanischen MAGA-Nationalismus. Sie ist eine heftige Gegnerin all derjenigen, die ihre vorgeblichen christlichen Werte nicht teilten. Sie waren und sind ebenso binär gesinnt wie die antikolonialistische Linke, obwohl sie diese letztlich verachten. Während in der antikolonialistischen Linken der Verweis auf muslimischen Antisemitismus als Rassismus gebrandmarkt wird, sind die Muslim:innen für die nationalistische Rechte kollektiv für jeden Antisemitismus verantwortlich. Antidemokratisch und illiberal sind die nationalistisch-christlichen Rechten wie die antikolonialistischen Linken. Ihr Verhalten nach dem 7. Oktober 2023 brachte es einmal wieder an den Tag. Man könnte sogar zu dem Schluss kommen, dass manche Vertreter:innen der Neuen Rechten geradezu froh sind, dass die antikolonialistische Linke ihren Job macht und sie sich mit ihrem eigenen Antisemitismus nicht auseinandersetzen muss.

Für sie alle gilt, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der „Dialektik der Aufklärung“ im Jahr 1947 zum Antisemitismus schrieben: „Der Antisemitismus beruht auf falscher Projektion. Sie ist das Widerspiel zur echten Mimesis, der verdrängten zutiefst verwandt, ja vielleicht der pathische Charakterzug, in dem diese sich niederschlägt. Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion die Umwelt sich ähnlich.“

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2023, Internetzugriffe zuletzt am 18. Dezember 2023.)