Querfront der Exklusion

Frédéric Valin und Peter Bierl über Ableismus und Eugenik

„Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern. Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.“ (Artikel 1 der UN-Behindertenrechtskonvention, offizielle zwischen den deutschsprachigen Ländern abgestimmte Übersetzung der englischen Fassung)

Am 24. Februar 2009 hat die Bundesrepublik Deutschland die Ratifikationsurkunde der UN-Behindertenrechtskonvention (komplette Bezeichnung: „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“) in New York hinterlegt. Ein entscheidender Begriff ist „Würde“ (englisch: „dignity“). Auch das Grundgesetz verwendet diesen Begriff an prominenter Stelle. Artikel 1, Absatz 2 GG lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Rhetorik der Inklusion

Doch geschieht dies? Frédéric Valin berichtet in seinem im Berliner Verbrecher Verlag 2022 erschienenen Buch „Ein Haus voller Wände“. Ein mehr als zwiespältiges Ergebnis. Das Buch schließt nahtlos an sein 2021 erschienenes Buch „Pflegeprotokolle“ an, das im Demokratischen Salon rezensiert wurde. Noch zwiespältiger ist das Ergebnis der Recherchen und Analysen von Peter Bierl, der in seinem ebenfalls 2022 im Verbrecher Verlag erschienenen Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ die erschreckende Geschichte der Missachtung der Würde behinderter Menschen beschreibt, die auch eine Geschichte menschenfeindlicher Verirrungen von Menschen ist, die sich eigentlich als Liberale oder als Linke verstehen. Eigentlich.

Im Allgemeinen unterstellen die meisten von uns, dass Pfleger*innen, die sich beruflich für alte oder behinderte Menschen engagieren, die Menschen, die sie pflegen, lieben. Zumindest möchten sie dieses glauben. Pflegeheime sind andererseits jedoch Orte, die gerne aus dem alltäglichen Bewusstsein verdrängt werden, weil eigentlich niemand so recht wissen möchte, was dort geschieht. Frédéric Valin hat sieben Jahre in einem Pflegeheim für behinderte Menschen, darunter viele, die unter Demenz litten, gearbeitet und dort erfahren, wie das allgemein vermittelte Bild der aufopferungsvollen Pflege an der Wirklichkeit vorbeigeht.

Frédéric Valins Buch „Ein Haus voller Wände“ enthält 38 Kapitel, die sich als dokumentarischer Bericht lesen lassen, andererseits aber auch als Kapitel eines Exklusionsromans. Das Buch überzeugt nicht zuletzt dadurch, dass alle Kapitel, alle darin enthaltenen Geschichten, die Kommentare, Portraits, Verweise auf Innen- und Außensichten verallgemeinerbar sind. Das Buch ist eben viel mehr als ein autobiographisch geprägter Erfahrungsbericht, es ist in erster Linie ein engagiertes Plädoyer, das sich durchaus auch als eine Art „roman à thèse“ lesen ließe.

Das Buch zeigt, wie nah Empathie und Zynismus, Respekt und Missachtung beieinander liegen können. Mitunter äußert sich der Unmut und Frust des Autors über das Erlebte, das eben nicht nur zufällige Gegebenheit, sondern ein ganzes System zu charakterisieren scheint, drastisch, polemisch, verzweifelt, er spricht vom „totalen Charakter in der sogenannten Behindertenhilfe“. Das Buch ließe sich durchaus als Abrechnung mit der Rhetorik der Inklusion lesen, „Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung haben sowieso unterdurchschnittlich von Inklusionsbemühungen profitiert, unter anderem, da kaum jemand bereit ist, ihnen zuzuhören.“ Die politisch verordnete Inklusion inkludiert eben doch nicht alle. Sie verdeckt lediglich Zustände, die sich nicht anders bezeichnen lassen als gesellschaftlich und politisch sanktionierte Exklusion.

Eine solche Außensicht auf Pflegeeinrichtungen scheint der Devise zu folgen, dass eine Gesellschaft und die in ihr für diese Einrichtungen Verantwortlichen am liebsten diese Einrichtungen aus ihrem Leben verschwinden lassen würden. Daher die Illusion, dass sich doch alles zum Guten entwickeln könne, und dass – wenn dies nicht gelingt – dies nur an den Akteur*innen in den Einrichtungen liegen könne oder an den Gepflegten selbst. Exklusion funktioniert als Kitt einer Gesellschaft, der ihr garantiert, dass diejenigen, die sich gesund fühlen dürfen, weil sie eben keine Pflege in Anspruch nehmen (müssen), sich wohl fühlen können. Denn alt, krank oder in irgendeiner Weise „behindert“ – das sind immer die anderen. „Es ist einer dieser absurden Widersprüche, die den Umgang mit sogenannten geistig Behinderten kennzeichnen: Man hält sie für sozial unterdurchschnittlich kompetent und steckt sie deswegen mit fünf anderen, die man ähnlich beurteilt, in eine Wohnung. Deckel drauf, Tür zu, wird schon werden.“ Eine Gesellschaft, die so denkt, ist nicht weit weg von eugenischen Verirrungen.

Einer Kollegin von Frédéric Valin rutschte in einem Gespräch die Bemerkung heraus: „Ich bin ja schon ganz froh, dass meine Kinder nicht so sind.“ Frédéric Valin reagierte zunächst überrascht: „Im Nachhinein verstehe ich meine Überraschung nicht. Ableistische Einstellungen sind bei den Betreuer*innen und Pflegekräften die Regel, nicht die Ausnahme.“ Diese Sätze dürfen jedoch nicht als Anklage verstanden werden, sondern nur als Plädoyer für mehr Realismus: „Im Grunde müsste es allen klar sein, dass gerade Betreuer*innen und Pflegekräfte keine Heiligen sind und mindestens so ableistisch wie der Rest der Gesellschaft auch. Dass die Gesellschaft das getrost ignoriert und ständig den ganzen Berufsstand auf den Sockel hebt, ist, weil sie ihre eigenen Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Behinderung darunter verdecken kann.“

In der Öffentlichkeit möchte niemand diese immanenten Widersprüche der in Pflegeberufen tätigen Menschen wahrnehmen. Im Gegenteil: „Obendrein ist die gesamte Betreuungsarbeit durchsetzt vom Myrrhe-Geruch einer salbungsvollen christlichen Nächstenliebe.“ Nur am Rande: möglicherweise ist das der Grund, warum Menschen zugemutet wird, ihre Pflege-Arbeit, neudeutsch „Care-Arbeit“, unter Bedingungen abzuleisten, für die in anderen Berufen kaum jemand arbeiten würde. Anders gesagt: in einer Gesellschaft, in der Pflege-Arbeit in Vollzeit deutlich schlechter bezahlt wird als die Arbeit in der Automobilindustrie in Kurzarbeit und Teilzeit, ist etwas faul. Frédéric Valin stellt lapidar und durchaus mit provokativer Absicht fest: „Zynismus ist eine ständige Gefahr in diesem Job. Zynismus trägt über die eigene Machtlosigkeit hinweg.“ Honni*e soit qui mal y pense.

Exklusion ist Programm

Nun ließe sich vermuten, dass Gesellschaften, Vereinigungen, die sich behinderter Menschen annehmen, anders denken. Nicht unbedingt. Nach einem Schnelldurchgang durch verschiedene Typen von Büchern, in denen Behinderte eine Hauptrolle spielen und die oft von Frauen „aus Mittelschichtsfamilien“ geschrieben wurden, und von ihm mehr oder weniger auch als „Rechtfertigungsbücher“ bezeichnet werden, schreibt Frédéric Valin über diese Vereinigungen, die eine zweifelhafte Geschichte haben, die jedoch kaum thematisiert wird: „Selbst die ‚Lebenshilfe‘ als Verband für Eltern von Kindern mit sogenannter geistiger Behinderung hatte Nazis als Gründungsväter. Werner Villinger hatte als Chefarzt von Bethel bei Bielefeld rund 2000 Zwangssterilisationen zu verantworten und war, wie gesagt, ab 1941 Gutachter in der Aktion T 4. Er war Träger des Bundesverdienstkreuzes.“ Weitere Hintergründe beschreibt Frédéric Valin am Beispiel der Gedenkstäte in Berlin-Wittenau.

Die „Lebenshilfe“ ist nicht die einzige Organisation, an deren zweifelhafte Vergangenheit Frédéric Valin erinnert, und manche dieser Vergangenheiten ist Gegenwart. „Hat Johannes‘ (einer der jungen Menschen, die Frédéric Valin pflegte, NR) Vater mitbekommen, wie die ‚Stiftung für das behinderte Kind‘ der Axel Springer AG sich unter anderem zum Ziel gesetzt hatte, ‚den Zustrom an Behinderten zu verringern?“ Und schon sind wir bei der Debatte um den australischen Philosophen Peter Singer. Nun scheinen die deutschen Feuilletons eine Schwäche für australische Pseudo-Expertise zu haben wie die Debatte um den Shoah-Relativierer Anthony Dirk Moses belegt. (Zur Ehrenrettung australischer Intellektueller sollten wir an Cate Blanchett denken, die sich in ihren Filmen und in ihrem privaten Engagement verdienstvoll für Menschen einsetzte, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens gelandet waren, beispielsweise in der von ihr mit entwickelten Miniserie „Stateless“, in der sie den unmenschlichen Umgang der australischen Politik mit Geflüchteten offenlegte. Die Serie wurde 2019 auf der Berlinale gezeigt und ist im Streaming-Dienst Netflix verfügbar.) Es mag Zufall sein, dass deutsche Feuilletons sich gerne auf australische Akteure berufen, vielleicht ist es aber auch nur einer der diversen schon fast unbewusst ablaufenden Versuche, sich als Deutsche aus der Verantwortung für menschenfeindliche Gedanken herauszustehlen.

Peter Singer vertritt die Auffassung, dass auch Neugeborene getötet werden dürften, wenn sie nicht den in einer Gesellschaft geltenden Normen von Gesundheit entsprechen. Seine Bücher wurde noch in den 2010er Jahren weltweit verbreitet und diskutiert. „Als in der Zeit Hans Schuh fragte: ‚Haben schwerstbehinderte Neugeborene ein Recht auf Leben?‘, und in der Woche darauf Reinhard Merkel sinnierte, ob ‚menschliches Leben unter jeder Bedingung zu schützen ist oder ob es unter Umständen ausgelöscht werden darf‘? Was hat er (Johannes‘ Vater, NR) gedacht, als in Frankfurt am Main und in Lüttich Mütter vor Gericht standen, die ihre Kinder mit Behinderungen umgebracht hatten, und freigesprochen wurden mit der Begründung, sie hätten ‚zum Besten des Opfers‘ gehandelt?“

Menschen, die in Pflegeheimen leben, werden vom alltäglichen Leben ausgeschlossen. In sogenannten „Beschützenden Werkstätten“ arbeiten sie zu Löhnen, die sich in der Höhe nicht sonderlich von den Löhnen Strafgefangener unterscheiden. Gleichzeitig werden diese Einrichtungen, deren Träger in der Regel anerkannte Träger der freien Wohlfahrtsverbände sind, darunter maßgeblich Diakonie und Caritas, von Politik und Gesellschaft hoch gelobt. Skandale gibt es allenfalls dann, wenn sich ein*e Pfleger*in als Serienmörder*in entpuppt oder sexualisierte Gewalt – in der Regel als „sexueller Missbrauch“ benannt, ein weiterer Euphemismus, als wenn es einen akzeptablen „sexuellen Gebrauch“ gäbe – nachgewiesen wird. Der Alltag jedoch ist in der Öffentlichkeit niemals skandalös, sondern vollzieht sich nach den Regeln der Exklusion außerhalb unseres gesellschaftlich sanktionierten Wahrnehmungsvermögens.

Ach, da war doch noch etwas: im ersten Pandemie-Frühjahr wurde von den Balkonen geklatscht. Aus sicherer Distanz, während Pfleger*innen ihre Arbeit oft unter höchst unsicheren Bedingungen tun mussten, weil die in der Ferne residierenden Leitungen Anweisungen gaben, die verhinderten, dass sie sich und die von ihnen gepflegten Menschen schützen konnten. In der Pandemie wurde die ohnehin schon bestehende Exklusion von Alter, Krankheit und Behinderung offensichtlich: „Sollen sie klatschen, wenn sie sich besser fühlen. Dennoch ist völlig klar: sie haben vor allem sich selbst beklatscht. Und sie haben das öffentlich getan, damit alle von ihrer Großherzigkeit erfahren.“

Exklusion ist Programm. Auch in den Förderrichtlinien für die Betreuung pflegebedürftiger Menschen. Pflege ist nur förderwürdig, wenn eine Verbesserung des jeweiligen Zustandes möglich ist. Weltmeisterin in der euphemistischen Verkleidung von Behinderungen ist die KMK: da ist im Strauß der Schwerpunkte der Förderschulen, die es in dieser Differenzierung nur in Deutschland gibt, die Rede vom „Förderschwerpunkt soziale und emotionale Entwicklung“, vom „Förderschwerpunkt motorische Entwicklung“ oder vom „Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“. Immer „Entwicklung“.

Aber was geschieht, wenn keine „Entwicklung“ mehr möglich ist. Frédéric Valin schreibt über die Frage, ob demente Menschen glücklich sein könnten. Natürlich können sie dies. Aber die Mehrheitsgesellschaft sieht dies offenbar anders. Und so wird dementen Menschen „Hilfebedarf“ abgesprochen, wenn da angeblich nichts mehr zu fördern beziehungsweise zu entwickeln wäre. „Es soll gefördert werden, die Bewohner*innen sollen sich entwickeln, und nur wenn es eine Perspektive auf Vorankommen gibt, rechtfertigt das den größeren finanziellen Aufwand Das führt zu der absurden Situation, dass in vielen Bundesländern der Hilfebedarf sinkt. Das ist eine faktische Konsequenz aus dem Inklusionsbegriff: Gerade jene, die am meisten Hilfe nötig haben, überlässt man immer mehr sich selbst.“ Dies gilt rechts wie links – auch wenn aus unterschiedlichen Gründen. Es ist – so Frédéric Valin „das Elend der deutschen Gefühlslinken, haben alle den Aufstiegsgedanken in den Knochen, deswegen schauen sie immer nur nach oben, statt sich mal nach unten oder unter Gleichen zu solidarisieren.“

Exklusion von links

Die nicht behinderten Menschen, die Frédéric Valin beschreibt, sind keine Extremist*innen. Sie gehören alle zu der gesellschaftlichen Schicht, die in der Soziologie und in den Feuilletons gerne als „bürgerliche Mitte“ bezeichnet wird. Manche mögen sich als Liberale, manche sogar als Linke begreifen. Sie alle bewegen sich am Rande der Menschenverachtung, jenseits jeder Empathie, auch wenn sie das niemals zugeben würden.

Peter Singer wurde bereits mit seinen menschenverachtenden Thesen erwähnt. Manche loben ihn, weil er sich doch sehr für den Schutz von Tieren einsetzt und sich gegen „Speziesimus“ ausspricht. In einem Kapitel befasst Peter Bierl sich ausführlich mit den Untiefen der diversen mehr oder weniger radikalen Tierschutzbewegungen. Kern der Thesen Peter Singers ist jedoch die von ihm apodiktisch verkündete Norm, wie ein Mensch zu sein hätte. Singer rechtfertigt die Tötung von Menschen, die dieser Norm nicht entsprechen. Die Popularität seiner Thesen in diversen angesehenen deutschen Feuilletons belegt, wie sehr viele von uns geneigt sind, Behinderten Menschen die im Grundgesetz garantierte „Würde“ abzusprechen. Die pseudo-wissenschaftlichen Forschungen Peter Singers schließen im Grunde mehr oder weniger nahtlos an die „Euthanasiemaßnahmen“ der Nazis an. Frédéric Valin notiert das allgemeine Einverständnis in der NS-Zeit, das keines schriftlichen Führerbefehls bedurfte, „im Grunde flog der Plan einer massenhaften Tötung durch das Land wie ein Gerücht, er brauchte keine Befehle, sondern nur ein massenhaftes Einverständnis unter Ärzt*innen, Pflegepersonal und dem wesentlichen Teil der Bevölkerung.“ Es gab lediglich „einen Brief Adolf Hitlers aus dem Oktober 1939, zurückdatiert auf den 01.09., den Tag des Kriegsbeginns“. Das reichte aus.

Peter Bierl präsentiert in seinem Buch „Unmenschlichkeit als Programm“ in sechs Kapiteln ein Who is Who der Verfechter*innen von Eugenik und Menschenzüchtung. Es kommt nicht von ungefähr, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedene, in keiner Weise miteinander vergleichbare Ideengebäude – ich scheue mich, den abgegriffenen Begriff der „Ideologie“ zu verwenden – gleichermaßen von einem „Neuen Menschen“ träumten. Dies taten völkisch Gesinnte ebenso wie Kommunisten oder auch Zionisten. Sie alle vertraten eine Art „Biopolitik“.

Auf Bildern sehen wir kräftige, junge athletische Männer, oft mit unbekleidetem Oberkörper, die irgendwelche Werkzeuge verwenden, mit denen sie Häuser bauen, Felder bestellen. Immer sehen wir fröhliche Gesichter, oft offenbar ein Lied auf den Lippen, mal verklärt in die Zukunft schauend, mal sich an dem gemeinsamen Zug in die alle Probleme negierende Zukunft erfreuend. Diesem Muster folgen Max Nordaus „Muskeljude“, Arno Brekers Skulpturen, die „Ernteschlachten“ auf Bildern des sogenannten „Sozialistischen Realismus“, von denen sich eines noch heute am Gebäude des Bundesfinanzministeriums betrachten lässt, das ja auch einmal als Sitz des Ministerrates der DDR und zuvor als Reichsluftfahrtministerium diente. Ines Geipel hat in ihrem Buch „Schöner Neuer Himmel – Aus dem Militärlabor des Ostens“ (Stuttgart, Klett-Cotta, 2022) ausführlich beschrieben, wie die biopolitisch ausgerichtete Forschung in der DDR versuchte, für Weltraumfahrt, Militär und Sport solche „Neuen Menschen“ zu schaffen. Bei diesen Bildern denken manche vielleicht an griechische Statuen, doch von dem dem deutschen Archäologen Johann Joachim Winckelmann (1717-1768) zugeschriebenen Spruch „Edle Einfalt stille Größe“ ist wohl nur die „Einfalt“ übriggeblieben, die weder „still“ noch „edel“ ist, sondern laut und aufdringlich.

Um jedes Missverständnis zu vermeiden möchte ich betonen, dass es keine eugenischen Fantasien im Zionismus gab. Es gab allerdings bis in die 1940er Jahre von führenden Zionist*innen praktizierte Vorbehalte gegen die Einreise von nicht dem martialischen Bild der Fantasie Max Nordaus entsprechenden Menschen in das damals britische Mandatsgebiet, in dem wenige Jahre später der Staat Israel gegründet wurde.

Peter Bierl dokumentiert die Normen, die viele Menschen im Kopf haben, nicht nur völkisch-rechter Gesinnung, sondern auch Linke und Liberale. Linke und Liberale bekämpfen durchaus ernsthaft rechte, völkische und antidemokratische Positionen, werfen sich aber auch gerne gegenseitig vor, einander zu diskriminieren. Sie merken kaum, dass sie mit sogenannten „woken“ Gesinnungen das Spiel der Neuen Rechten spielen. Adrian Daub hat dies in seinem Buch „Cancel Culture Transfer – Wie eine moralische Panik die Welt erfasst“ (Berlin, edition suhrkamp, 2022) als die eigentliche Gefahr der Debatte um die sogenannte „Cancel Culture“ beschrieben. Nicht Linke verbieten Literatur, das tun Rechte. In den USA veranlassen republikanische Mehrheiten das Verbot bestimmter Bücher in ganzen Staaten, verhindern Eltern die Lektüre ihnen unliebsamer Bücher in den Schulen.

Noch weniger reflektieren jedoch Linke und Liberale, wie anfällig sie selbst für rechts konnotierte Ideen waren und sind. Traditionen einer nationalistischen Linken sind angesichts der Aktivitäten einer Sahra Wagenknecht durchaus en vogue, auch wenn ihre Verfechter*innen jeden Verdacht des Nationalismus von sich weisen würden, Traditionen einer eugenischen Linken kennen sie wahrscheinlich gar nicht. Anti-demokratischen Auftritten von links und rechts wagen sie nichts entgegenzusetzen, so „erweisen Linke und Liberale der Emanzipation einen Bärendienst, wenn sie darauf verzichten, Antisemitismus oder Frauenfeindlichkeit zu kritisieren um nicht den Rechten in die Hände zu spielen oder weil sei vor den Vorwürfen des Eurozentrismus oder der ‚Islamophobie‘ zurückschrecken.“ Mit diesem Kulturrelativismus schaden sie sich aber letztlich selbst, denn Rechtsextremist*innen und Islamist*innen sind sich durchaus einig, wenn die Rechte von Frauen, die Rechte von Minderheiten eingeschränkt oder gar abgeschafft werden sollen.

Exkurs in die Populärkultur: The Needs of the Many

Es ist das Verdienst von Peter Bierl, die unheiligen Traditionen der Linken ausführlich zu dokumentieren und zu kommentieren. Auch Linke und Liberale sind anfällig für die „utilitaristische Logik, einige zu opfern, um eine größere Zahl zu retten“. Ein von Peter Bierl zitiertes Beispiel ist Ferdinand von Schirachs Stück „Terror“, in dem zu entscheiden ist, ob der Abschuss eines Flugzeugs zur Rettung der von ihm in einem vollbesetzten Fußballstadion bedrohten Menschen moralisch und juristisch gerechtfertigt wäre. So etwa: 200 gegen 60.000 Menschen. Das Publikum des Stücks entschied: Ja. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den Versuch einer entsprechenden Änderung des Luftsicherheitsgesetzes aufgrund der unter anderem von Gerhart R. Baum eingereihten Klage für verfassungswidrig.

Ein kleiner Ausflug in die Populärkultur entlarvt den anti-demokratischen und illiberalen Grundgedanken. Im Star-Trek-Universum wird immer wieder der Satz des Vulkaniers Spock zitiert: „The needs of the many outweigh the needs of the few.“ Durchgehend wird jedoch in den diversen Star-Trek-Serien vorgeführt, dass dieser Satz nicht gilt, sondern das Leben jedes und jeder Einzelnen einen eigenen Wert hat und deshalb geschützt werden muss. Und wenn sich jemand auf eine Beinah-Kamikaze-Tour begibt wie Captain Janeway in „A Year of Hell“, endet diese natürlich glücklich, niemand muss sich opfern. Der friedliche Zustand vor diesem höllischen Jahr wird wieder hergestellt. Hier entscheiden nicht „the many“, was mit „the few“ zu geschehen habe, sondern Einzelne, dass sie sich als „the few“ zum Wohle von „the many“ opfern. Die Bereitschaft, das eigene Leben für das Leben aller anderen zu opfern, ließe sich als Heroismus bezeichnen. J.R.R. Tolkiens „Lord of the Rings“ und Joanne Rowlings Harry-Potter-Zyklus funktionieren nach dem gleichen Modell.

In den von Peter Bierl dokumentierten Fallkonstellationen jedoch entscheiden selbsternannte Vertreter*innen von „the many“, was mit „the few“ zum angeblichen Wohle von „the many“ zu geschehen habe. Das ist nicht weit entfernt von der Ideologie eines Heinrich Himmler in seiner berüchtigten Posener Rede vor Höheren SS- und Polizeiführern, in der er die Grausamkeiten der Nazis mit dem Anspruch der von ihm vertretenen Fiktion einer „rassereinen“ Mehrheitsgesellschaft rechtfertigt. Der im Beispiel Ferdinand von Schirachs von Staats- und Polizeiführung herbeigeführte Flugzeugabsturz unterscheidet sich letztlich davon nur graduell. Es macht letztlich auch keinen Unterschied, ob eine auserwählte Führungscrew entscheidet oder eine zufällig zusammengekommene Versammlung aus dem Kreis der Mehrheitsgesellschaft.

Im Marvel-Universum gibt es eine offen extremistische Version. In „Infinity War“ entscheidet ein Einzelner, der Bösewicht Thanos, was zum Wohle aller zu geschehen habe. Er sorgt dafür, dass die Hälfte der Menschheit, darunter auch mehrere Superheld*innen der Avengers, ausgerottet werden, um die den Planeten gefährdende Überbevölkerung zu regulieren, im Grunde eine Art angewandter Populär-Malthusianismus oder – wenn man so möchte – genozidale Ökodiktatur. Nicht einmal die Koalition der Superheld*innen der Avengers kann das Vorhaben des Thanos verhindern. Zum Glück werden die Ausgerotteten einschließlich der Superheld*innen im Folgefilm, der dann auch der letzte der „Avengers“-Reihe ist, in „The Endgame“, wieder alle lebendig. Der ursprüngliche Zustand wird mit einer Zeitreise wieder hergestellt. Das funktioniert natürlich nur im Märchen und im Fantasy-Roman. Wir erlebten in „Infinity War“ Massenmord als Cliffhanger und einen mörderischen Diktator, der dank seiner Superkräfte noch nicht einmal eine SS brauchte.

Emanzipatorische vs. darwinistische Linke

Der in Schirachs Stück beschriebene Fall hat mit Eugenik noch nichts zu tun, wohl aber viel damit, dass Menschen offenbar immer geneigt sind, andere Menschen als weniger relevant als sich selbst zu beschreiben oder zumindest auf sich selbst bezogen die Schlussszene von George Orwells „Animal Farm“ zu reproduzieren: manche wären eben gleicher als andere. Die dahinterstehende Logik ist immer die gleiche und die Begrifflichkeit im harmlosesten Sinne euphemistisch. Sozialer Vulgärdarwinismus ist attraktiv, sonst ließe sich ein Massenpublikum möglicherweise nicht für solche fiktiven Szenarien gewinnen, wie sie Ferdinand von Schirach oder die Science-Fiction- und Fantasy-Autor*innen entwickelten. Siegfried Kracauer hat in „Von Caligari zu Hitler – Eine psychologische Geschichte des deutschen Films“ (die amerikanische Erstausgabe erschien 1947, drei Jahre nach Theodor W. Adornos und Max Horkheimers „Dialektik der Aufklärung“) die gegenseitige Bedingtheit von Massengeschmack und Produktionsbedingungen beschrieben: „Gewiss, amerikanische Kinobesucher kriegen vorgesetzt, was Hollywood will, dass sie wollen; auf lange Sicht aber bestimmen die Bedürfnisse des Publikums die Natur der Hollywood-Filme.“ Siegfried Kracauer belegt den offensichtlich „präfaschistischen Charakter“ des Horrorgenres der 1920er Jahre.

In einem Kapitel beschreibt Peter Bierl ausführlich die Debatte um Peter Singer und seinen Begriff des „Effektiven Altruismus“. Einerseits konnten von den 1990er bis in die 2010er Jahre Veranstaltungen, in denen Peter Singer seine Thesen und Bücher vorstellen wollte, verhindert werden, andererseits ist schon bedenkenswert, warum renommierte Veranstalter wie die phil.cologne in Köln überhaupt auf die Idee kommen, ihn einzuladen. „Dennoch wurde seine Bioethik auch von einigen Linken unterstützt. Ähnlich wie liberale Journalist*innen unterstellten sie, Singer könne schon deshalb keine menschenverachtenden Ansichten hegen, weil seine Großeltern von den Nationalsozialisten ermordet worden wären.“ Ähnlich argumentieren auch manche Antisemit*innen. Schließlich wurde Singers „Antispezieismus“ zu seiner Verteidigung herangezogen, da Gesellschaft und Politik die Rechte der Tiere ignorierten. Wer Tiere liebt, muss doch ein guter Mensch sein, oder?

In seinem Vorwort beschreibt Peter Bierl die gegenläufigen Einstellungen auf Seiten der Linken: „Ich bezeichne sie als darwinistische Linke in Abgrenzung zu einer emanzipatorischen Linken“: „Eine emanzipatorische Linke fußt im Unterschied zu darwinistischen Linken, evolutionären und Transhumanist*innen auf der Annahme, dass alle Menschen gleich sind, nicht im Sinn von uniform, sondern dass alle ein Recht auf Leben, freie Entfaltung und Glück haben Das ist ein universalistischer und transnationaler Ansatz, der vom Individuum ausgeht nicht von nationalen, religiösen oder sonstigen identitären Gebilden.“ Als „darwinistisch“ werden hier nicht sozialdarwinistische Konzepte bezeichnet, wie sie in neoliberalen Konzepten bejubelt werden, nicht zuletzt in solchen, die Politiker, die sich selbst für sozialdemokratisch halten, wie Bill Clinton („It’s the economy, stupid“), Tony Blair oder Gerhard Schröder schätzen. Es geht um biologistische Konzepte.

Peter Bierl zitiert Karl Marx, demzufolge „alle Verhältnisse umzuwerfen (sind), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (in: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, MEW 1). Leider äußert sich Peter Bierl nicht dazu, wie der ebenso von Karl Marx, unter anderem in „Die deutsche Ideologie“ (MEW 3) und im Kommunistischen Manifest (MEW 4), eingeführte Begriff des „Lumpenproletariats“ dazu passt. Anders gesagt: auch Karl Marx und schon gar nicht die diversen Strömungen späterer Marxismen sind frei vom Gedanken der Exklusion von Menschen, deren bloße Existenz schon als Hindernis auf dem Weg zur Entwicklung einer höheren und letztlich für alle Menschen gleichermaßen Gerechtigkeit und Freiheit garantierenden politischen Organisationsform betrachtet wird. Die Entwicklungsfähigkeit wird dieser Gruppe letztlich abgesprochen. Und wer nicht entwicklungsfähig ist, wird an der für die Zukunft versprochenen Gleichheit und Gerechtigkeit nicht teilhaben können, zumal Marx die durchaus relevante Gefahr beschwört, dass sich diese Gruppe von den als „Reaktion“ bezeichneten Kräften vereinnahmen lässt.

Peter Bierl gelingt es, die „Biologisierung gesellschaftlicher Ungleichheit“ sichtbar zu machen. Diese lässt sich nicht aus den Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels ableiten, ist aber ein bedeutender Beitrag von Cross-Over-Konzepten konservativ-rechter und progressiv-linker Akteure zu einer Querfront der Exklusion. Diese vermengt Marx, Darwin und andere Theoretiker des 19. Jahrhunderts munter miteinander: „Denn ein Teil der Linken huldigte einem kruden mechanistischen Materialismus, teilte biologistische Deutungen menschlichen Verhaltens und fasste den Klassenkampf als Element eines umfassenden und ewigen Kampfes ums Dasein, der sich in der gesamten Natur und unter Menschen abspielen müsse.“ Alles andere wäre „Humanitätsduselei“.

„Rassehygienische Internationale“

Hier kommt der „Neue Mensch“ wieder ins Spiel. Wenn es ihn noch nicht gibt, muss er entwickelt, sprich: gezüchtet werden. Der Züchtungsgedanke findet sich nicht nur dort, wo man ihn ohnehin schon vermuten könnte, bei Thomas Malthus oder Jean-Baptiste de Lamarck, sondern auch bei Ernst Haeckel, bei John Stuart Mill und Ferdinand Lasalle, immer wieder auch in Verbindung mit einer drohenden Überbevölkerung. „So verbanden sich Eugeniker*innen, Neomalthusianer*innen und Feminist‘innen zu einer rassehygienischen Internationale.“ Auch fortschrittliche Frauenvereine im Umfeld der SPD vertraten die Ansicht, Aufgabe der Frau wäre, „die Verbesserung der Rasse“. August Bebel sah „Darwinismus und Sozialismus in vollkommener Harmonie“ (in: „Die Frau und der Sozialismus“, zitiert nach Peter Bierl). „Die Befreiung der Frau und die freie Liebe propagierte Alexandra Kollontai, Ikone des kommunistischen Feminismus. Sie forderte eine ‚geschlechtliche Zuchtwahl im Interesse der Rasse‘ und wollte die Beziehung zwischen den Geschlechtern per Gesetz regeln und zwar im Interesse der ‚Gesundheit und Hygiene von Nation und Rasse“ sowie des Arbeitskräftebedarfs.“

In einem Punkt irrt allerdings Peter Bierl leider. Er zählt auch Friedrich Nietzsche zu den Vertretern der Züchtungsideologie. Dies lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei belegen. Nietzsche teilt mit Niccolo Machiavelli das Schicksal, dass sie in ihrer Rezeption als Autoren von Handlungsanweisungen gelesen wurden, obwohl sie eigentlich nur die Struktur des Systems ihrer Zeit beschrieben, dies im Falle Nietzsches noch nicht einmal systematisch, sondern perspektivisch gebrochen, oft auch – im Nachlass der 1880er Jahre – lediglich in einer Art Zettelkasten überliefert, der dann ein Steinbruch für seine Schwester wurde, die in mehreren Ausgaben das Werk ihres Bruders verfälschte. Das Ausmaß dieser Fälschungen wurde erst in den 1950er Jahren von Karl Schlechta aufgedeckt. Zarathustra ist auch nicht die Stimme Nietzsches, sondern eine literarische Figur mit zahlreichen Querverweisen auf zeitgenössische Akteure und Entwicklungen. Hier ist nicht der Ort, dies im Detail zu erörtern, daher zur Illustration nur eine Stelle aus „Also sprach Zarathustra“ in dem Abschnitt „Von tausend und einem Ziele“: „Nie verstand ein Nachbar den andern: stets verwunderte sich seine Seele ob des Nachbarn Wahn und Bosheit. / Eine Tafel der Güter hängt über jedem Volke. Siehe es ist die Stimme seines Willens zur Macht.“ Deshalb war Nietzsche noch lange kein Demokrat, aber in der Analyse gibt es eine Fülle von Texten, in denen sich Marx und Nietzsche durchaus treffen. Die rassistische Rezeption Nietzsches wurde beispielsweise durch das ausgesprochen wirkmächtige Buch befeuert, das Alfred Baeumler 1931 veröffentlichte: „Nietzsche, der Philosoph und Politiker“.

Aber der Züchtungsgedanke und der damit einhergehende Gedanke unterschiedlicher Wertigkeit menschlichen Lebens war in der damaligen Zeit ausgesprochen verbreitet. Noch in den späteren 1930er Jahren fehlte jede grundsätzliche Kritik sozialdemokratischer Exil-Politiker*innen an der nationalsozialistischen Eugenik. „Am Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses bemängelte die SPD lediglich den Zwangscharakter.“ Peter Bierl zitiert Karl Kautsky, die Fabian Society und das Nobelpreisträger-Ehepaar Gunnar und Alva Myrdal. Die Begründungen unterschieden sich graduell, nicht grundsätzlich, so ging es der Fabian Society um die „imperial race“, dem Ehepaar Myrdal um „eine negative Eugenik, um so genannte Fehlerbehaftete auszumerzen.“ Andere wie beispielsweise der Anthropologe Claude Lévy-Strauss verknüpften „Kultur“ und „Rasse“ und „bedauerte, dass die unterschiedlichen ‚Populationen‘ zu einer Weltkultur verschmelzen, denn kultureller stillstand wäre die Folge. Nur die Fortexistenz voneinander getrennter Kulturen bringe schöpferisches Experimentieren und Hochkulturen hervor.“ Martin Sellner und die Identitären hätten es nicht klarer formulieren können.

Politische Konsequenzen ließen nicht auf sich warten. Der erste US-Bundesstaat, der die Zwangssterilisation einführte, war Indiana, 34 Bundesstaaten folgten. Eheverbote gab es in Bulgarien, den skandinavischen Staaten und der Schweiz. Dies ist nur eine ganz kleine Auswahl der Daten und Fakten, die Peter Bierl präsentiert. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass unbeschadet der politischen Couleur der jeweiligen Regierungen es im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts immer wieder Bestrebungen gab, Zwangssterilisationen und Eheverbote durchzusetzen. Allerdings: „Je länger das NS-Regime währte und je offensichtlicher die Verbrechen wurden, desto zurückhaltender operierten Eugeniker*innen in anderen Ländern. / Denn die Verbrechen der Deutschen waren auch in der Geschichte der Eugenik singulär, sowohl in Bezug auf das Ausmaß als auch die Taten selbst.“

Mit dem Ende der NS-Herrschaft schwächte sich jedoch offenbar diese abschreckende Wirkung wieder ab. „Nur zwei Jahre nach Ende der NS-Verbrechen forderte Alva Myrdal erneut eine systematische Erfassung und Sterilisierung solcher Menschen, notfalls unter Zwang.“ Schweden richtete noch im Jahr 1992 (!) „ein Institut für Rassenhygiene in Uppsala ein, das eine Studie über den Rassencharakter der Schwed*innen anfertigte. Die Eugeniker*innen wähnten den Volkskörper bedroht durch falsche Ernährung, Alkohol, Tabak und Einwanderung; eine Spezialität war die Kampagne gegen die Gefahren des Kaffeetrinkens.“ Ministerpräsident war damals Carl Bildt von den Moderaten. Schweden wurde ohnehin gerne als Vorbild zitiert. Peter Bierl sieht darin einen der Gründe, warum das NS-„Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in der Bundesrepublik Deutschland erst 1986 aufgehoben wurde.

In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist die Frage einer eugenisch begründeten Geburtenregelung ein Dauerbrenner. Konrad Lorenz äußerte eine „gewisse Sympathie für AIDS“, Daniel Bahr, der mit Christian Lindner und Philip Rösler Ende der 2000er Jahre zu den Hoffnungsträgern der FDP gehörte, sagte 2005: „Es ist falsch, dass in diesem Land nur die sozial Schwachen die Kinder kriegen.“ Im Jahr 1966 forderte Carl-Friedrich von Weizsäcker, „die Begrenzung des Bevölkerungswachstums müsse Hand in Hand gehen, ‚mit einer Bestimmung darüber, wer Kinder haben darf und wer nicht‘“. Peter Bierl nennt dies treffend „sozialrassistisches Denken“. Thilo Sarrazin war mit seinem Bucherfolg des Jahres 2010 nur die Spitze eines Eisbergs und so ungewöhnlich waren seine Thesen wohl nicht.  Der Skandal des Buches liegt dabei allerdings nicht unbedingt in den fremdenfeindlichen Parolen, sondern in der biologistischen Begründung, türkische und arabische Zugewanderte wären von Natur aus weniger intelligent als Deutsche.

Ein Bruder im Geiste ist der insbesondere als „Islamkritiker“ – was auch immer das sein mag – auftretende Hamad Abdel-Samad, der nicht nur Verständnis für die grundlegende Auffassung Sarrazins über die Gefährdung der Demokratie durch den Islam teilte, sondern dies auch in Auftritten bei der AfD und mit Beiträgen in der „Jungen Freiheit“ kundtat. Hamad Abdel-Samad ist schließlich Beiratsmitglied der Giordano-Bruno-Stiftung, die eine Schlüsselrolle in der Querfront der Exklusion spielt.

Peter Bierl beschreibt ferner die diversen quasi-religiösen und religionskritischen Bewegungen im Kreise diverser esoterischer Weltanschauungen, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts von einer neuen Naturreligion träumten, zu der dann auch die Züchtung eines entsprechenden Menschen gehörte. „Viele Sozialdarwinist*innen und Eugeniker*innen waren Naturwissenschaftler*innen mit einem Hang zum Religiösen. Sie attackierten Juden- und Christentum, plädierten aber für eine neue Religion auf streng biologistischer Grundlage. Sie wollten Ausmerzung und Menschenzucht metaphysisch rechtfertige und en Glauben an die Heiligkeit und Gleichheit aller Menschen überwinden.“ Eine der Schlüsselfiguren ist Michael Schmidt-Salomon, einer der Gründer der Giordano-Bruno-Stiftung. Rudolph Steiner und diverse Ariosoph*innen und Esoteriker*innen finden auch heute noch Anhänger*innen, Künstler*innen und Literat*innen wie Joseph Beuys und Luise Rinser bewegten sich in solchen Kreisen und verbanden in Biographie und Werk völkische, mitunter antisemitische und anti-demokratische Elemente, die die Partei, die sie in den 1980er Jahren unterstützen, damals entweder teilte oder ignorierte.

Ich möchte niemandem unterstellen, mehr oder weniger reflektiert oder unreflektiert den eugenischen Thesen Peter Singers oder Michael Schmidt-Salomons zuzustimmen. Auffällig ist jedoch, dass religionskritische und esoterische Kreise ebenso wie Akteur*innen der Tierschutzbewegung, sogar höchst qualifizierte Naturwissenschaftler*innen, darunter Nobelpreisträger*innen, aber auch eben viele Linke und Liberale aus unterschiedlichen Gründen höchst anfällig für diese Thesen sind. Die Dokumentation Frédéric Valins belegt, dass der Weg zu eugenischen Thesen nicht weit ist. Von der Missachtung der Würde eines Menschen ist es zu mörderischen Fantasien nicht allzu weit. Die Verkaufszahlen der Bücher von Thilo Sarrazin sprechen für sich. Wer einmal einen der Sprechchöre auf PEGIDA-Demonstrationen gehört hat, in denen gefordert wurde, die Boote von Geflüchteten zu versenken und die Flüchtenden „absaufen“ zu lassen, müsste eigentlich begreifen, welche Geister hier losgelassen wurden. Es ist kaum erwähnenswert, dass die PEGIDist*innen natürlich auch dafür eintreten, dass behinderte Kinder auf keinen Fall in Regelschulen unterrichtet werden sollen, eine Forderung, die viele konservativ denkende, aber auch liberale und linke Eltern durchaus teilen. Die Ängste mancher selbsternannter „Querdenker*innen“, man wolle ihnen mit der Impfung gegen COVID 19 einen zerstörenden Chip implantieren, sind im Grunde die andere Seite der Medaille einer Biologisierung jeder politischen Debatte.

Peter Bierl kommt zu folgendem Schluss und zitiert ein zweites Mal Ferdinand von Schirach mit einer Variante des Flugzeug-Dilemmas: „Biologistisches Denken ist perfekt geeignet, eine umfassende, antidemokratische Wende hin zu einer Elitenherrschaft zu rechtfertigen. Das Abwägen von effektiven Altruist*innen kann schon heute tödlich enden. Das Individuum wird zum Objekt, das im Namen des Notstands und des Wohlergehens einer Mehrheit geopfert werden darf. Ferdinand von Schirach konstruiert den Fall von vier Patienten im Warteraum einer Praxis. Drei sind sterbenskrank: einem fehlt eine Niere, der zweite hat viel Blut verloren und beim dritten versagt das Herz. Der vierte ist gesund bis auf einen Schnupfen. Würde der Arzt den Gesunden ausschlachten, könnte er drei Leben retten.“ Anders gesagt: die Querfront der Exklusion hat im Zweifel jede*n im Visier“!

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2023, Internetzugriffe zuletzt am 8. Mai 2023.)