Realistische Fantastik

Ein Werkstattgespräch mit der Autorin Zara Zerbe

„Die Dinge, die so passieren, mit einem tieferen Sinn auszustatten, liegt bei mir in der Familie.“ (Zara Zerbe, Limbus)

Das ist der zweite Satz der Erzählung „Limbus“, der schon die Richtung weist, in der die Erzählerin die mehr oder weniger alltäglichen Katastrophen des Alltags reflektiert. Die Erzählung „Limbus“ (2020 bei Sukultur) endet katastrophal und pragmatisch zugleich. Die Personen der Erzählungen von Zara Zerbe bewegen sich in Zwischenwelten, durch die immer wieder die Frage nach dem „tieferen Sinn“ geistert, obwohl diese Frage eigentlich eher Attitüde ist. Die Autorin versteht sich auf die Entlarvung der Scheintiefen des menschlichen Bewusstseins. Mit nüchtern-ironischer Distanz. Manches ist in Wirklichkeit viel nüchterner als Leser:innen beim ersten Lesen vermuten. Auch in „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ (2021 im stirnholz-Verlag, inzwischen in dritter Auflage) ist dies ein zentrales Thema.

Man muss noch nicht einmal einen „tieferen Sinn“ vermuten, wenn Bewusstsein – oder sollte man sagen: Seele? – und Körper eines Menschen unabhängig voneinander zu existieren vermögen. Diese Variante entfaltet Zara Zerbe in ihrem ersten Roman „Phytopia Plus“, den 2024 der Verbrecher Verlag veröffentlichte. Menschen sterben, aber wer finanziell gut vorgesorgt hat, darf das Bewusstsein auf Pflanzen speichern lassen. Der Mensch wird als Pflanze unsterblich, vorausgesetzt es gibt jemanden, der die Pflanzen pflegt. Daran verdient ein Unternehmen ganz gut.

Schon in den „Metamorphosen“ des Ovid gibt es Menschen, die als Pflanze weiterleben, allerdings nicht aus freien Stücken, sondern in der Regel, weil anmaßende Götter sie in solche verwandeln. Die Geschichte der Daphne mag vielleicht als Muster gelten. So ungewöhnlich ist das Thema in der Literatur nicht, ungewöhnlich sind die philosophischen und soziologischen Kontexte, die Zara Zerbe in „Phytopia Plus“ anklingen lässt. Es geht eben nicht um Esoterik oder Religion, sondern um handfeste materielle Vorgänge.

Zara Zerbe geht es um das Schicksal der Welt in Zeiten einer Klimakrise, von der niemand weiß, ob die Menschheit sie bewältigen wird. Apokalyptisch erscheint die Welt in dem von ihr mitgestalteten Kurzfilm „Primetime of my Life“. Wer will die Welt erklären, wenn in der Primetime die Katastrophen von höchst seriös ausstaffierten Menschen alltagskompatibel vorgelesen werden? Wie ließe sich dem entkommen? Oder bleibt nur Testbildrauschen? So beginnt und endet der Film.

Wir leben in Grenzgebieten, vielleicht in einer Art „Limbus“, dem Ort, den die katholische Kirche zwar inzwischen offiziell abgeschafft hat, der aber in ihrer Geschichte als der Ort galt, an dem diejenigen, die anständige Menschen waren, aber eben keine Christ:innen, freudlos, aber wenigstens ohne Qual leben, und natürlich all die ungetauften Kinder. Die Figuren der vorchristlichen Heilsgeschichte warteten dort auf die Erlösung, die dann ja auch eintrat. Im Limbus beginnt Dantes Reise durch die Hölle, dort trifft er den Dichterkollegen Vergil und all die griechischen Philosophen und römischen Literaten, die einfach nur das Pech hatten, dass sie vor Christi Geburt lebten und daher keine Christen werden konnten.

Zara Zerbes Erzählungen bewegen sich in den Gefilden zwischen sinnlich Erfahrbarem und Übersinnlichem, durchaus in der Tradition der deutschen fantastischen Literatur eines E.T.A. Hoffmann oder Franz Kafka. Sie reflektiert diese und andere Fragen in ihrem Blog superspacelabor 2020. Jeder einzelne Satz wird zur Reise in „Zwischenwelten“: Ein Hauch der Wälder von „Twin Peaks“ im Stadtpark? „Dass der Park zwischen 8 und 11 Uhr morgens eine Art Zwischenwelt ist, die in diesem Zeitraum nur von Wesen betreten werden kann, die sich gerade um jemanden oder etwas kümmern (z.B. um Kinder, Hunde oder Pflanzen) – und von Geistern, die es zeitlebens verpasst haben, einen bestimmten Auftrag zu erledigen und nun für immer auf eine neue Gelegenheit warten müssen, das Versäumte nachzuholen.“

Zara Zerbe wurde mehrfach ausgezeichnet. Für „Limbus“ erhielt Zara Zerbe den Preis „Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019“, ebenso wie 2022 für „Das Orakel von Bad Meisenfeld“. Für „Phytopia Plus“ wurde ihr der Phantastikpreis der Stadt Wetzlar verliehen. Zara Zerbe ist eine ausgesprochen gut gelaunte Gesprächspartnerin, bei all den schrecklichen Themen, über die sie schreibt. Sie lacht viel, auch über sich selbst, und so war es bei dem hier dokumentierten Gespräch.

Der Text als Collage

Norbert Reichel: Im September 2024 wurde dir der Phantastikpreis der Stadt Wetzlar für den Roman „Phytopia Plus“ verliehen. Bei der Lektüre der Laudatio hatte ich den Eindruck, du verknüpfst eine ganze Reihe von literarischen Gattungen miteinander, etwas Mystery, etwas Fantastik, Fantasy, Science Fiction, Sozialromane, Dystopie. Aber wie würdest du dich selbst einordnen?

Aiki Mira. Foto: Miguel Ferraz, Rechte bei Aiki Mira.

Zara Zerbe: Als ich angefangen habe zu schreiben habe ich darüber überhaupt nicht nachgedacht. So einfach ist es ja nicht sich einzuordnen. Vieles, was ich gemacht habe, finde ich in dem Manifest „Post-Cli-Fi“ von Aiki Mira wieder. Der Kollaps ist ja schon in vollem Gange. Manche nennen meinen Roman eine „Dystopie“, aber ob er in allen Fazetten fach- und sachgerecht dystopisch ist? Ich weiß es nicht.

Ich bekomme oft die Rückmeldung, dass alle bei dem Label „Dystopie“ so ein „Walking-Dead-Szenario“ erwarten und dann irritiert sind, dass der Roman dafür irgendwie zu leichtfüßig daherkommt. „Dystopie“? Ich habe oft den Eindruck, dass eine solche Zuschreibung in so eine Richtung „Der Mensch ist ein Wolf“ abdriftet. Das gefällt mir persönlich gar nicht, weil es philosophisch nicht passt, auch schon tausend Mal so erzählt worden ist und uns nicht weiterbringt. Ich möchte eigentlich nicht, dass „Phytopia Plus“ eine Dystopie ist, auch wenn ich es etwas dystopisch angelegt habe.

Norbert Reichel: Es muss ja nicht gleich ein „1984“ oder ein „Brave New World“ werden. Vielleicht ist das Dystopische viel banaler? So eine Art Apokalypse im Alltag?

Zara Zerbe: Das denke ich auch. Wir erleben in unserem Alltag eine ganze Reihe dystopischer Dinge. Im Sommerloch 2024 zum Beispiel den Fünf-Punkte-Plan der FDP fürs Auto.

Norbert Reichel: Ich hätte den in die Gattung Satire eingeordnet. Das Dumme ist nur, dass alle ernsthaft darauf reagierten. Wenn ich nicht gewusst hätte, von wem das kam, hätte ich so manche Kabarettist:innen verdächtigt. Gehörte vielleicht in die „Anstalt“.

Zara Zerbe: Aber im Ernst. Alles, was wir zurzeit im Rahmen der Klimakrise erleben, hat schon dystopische Anteile.

Norbert Reichel: Aber es gibt auch Auswege, zumindest für einige, die es sich leisten können. In „Phytopia Plus“ können Menschen nach ihrem Tod ihr Bewusstsein auf Pflanzen speichern.

Zara Zerbe: Das passt auch zu manchen Filmen, die ich gesehen habe. Ich mag den Horrorfilm „A Quiet Place“ von John Krasinski. Die Menschen müssen sich völlig geräuschlos verhalten, weil die Aliens, die die Erde erreicht haben, zwar nicht sehen, aber sehr gut hören können und durch kleinste Geräusche angelockt werden. In „A Quiet Place“ endet es mit diesem wunderbaren Maschinengewehr-Move von Emily Blunt. Irgendwie gibt es einen Weg, vielleicht auch eben wie bei mir in „Phytopia Plus“ über ein pflanzliches Ding.

Norbert Reichel: Ein Ende wie etwa in „Mars Attacks“ von Tim Burton, wo ein Country Song, Slim Whitmans „Indian Love Call“, dazu führt, dass die Köpfe der Marsianer platzen? Geschmacklosgikeit rettet die Welt! In „Phytopia Plus“ retten Menschen ihr „Bewusstsein“, ihre Seele. Das letzte Wort des Romans lautet „Paradies“. Da soll es ja friedlich sein und Pflanzen sind von Natur aus doch recht friedlich, wenn wir einmal von der Darstellung von Tiere und Menschen umschlingenden und vertilgenden Pflanzen in Horrorfilmen absehen.

Zara Zerbe: In meinem Buch kommentiert ein Pflanzenchor die Ereignisse .

Norbert Reichel: Fast schon wie ein antiker Tragödienchor. Höheres Bewusstsein?

Zara Zerbe: Na ja, wenn wir ehrlich sind, haben wir alle schon die ein oder andere Zimmerpflanze auf dem Gewissen. Aber es gibt genug Beispiele von Pflanzen, die es dann doch immer wieder geschafft haben, die durch den Asphalt hindurchwachsen, unbenutzte Straßen oder Eisenbahnschienen überwuchern. Das ist einfach eine Form von Resilienz.

Norbert Reichel: Ich darf einen der Pflanzenchöre zitieren:

„Wisst ihr, was ich manchmal denke?

                                                                       Ja. Natürlich wissen wir das.

Es müsste immer Musik da sein.
Bei allem, was wir machen.

                                                                      Also beim Wachsen.

Ja, genau. Und auch sonst.

                                                                     Ein paar Schwingungen auf der Zellmembran
haben uns noch nie geschadet.“

Zara Zerbe: Das ist ein Filmzitat aus „Absolute Giganten“ von Sebastian Schipper aus dem Jahr 1998. Ich fand es eine hübsche Referenz, weil es auch ein Hamburg-Film ist. Ich habe einige Studien über Pflanzen gelesen, auch dieses etwas quatschige Buch „Das geheime Leben der Pflanzen“ von Peter Tompkins und Christopher Bird. Peter Tompkins war Kriegsberichterstatter, dann im zweiten Weltkrieg Geheimagent. Die beiden wollen ja mit ihren Messungen festgestellt haben, dass sich Pflanzen erschrecken oder sauer werden können. Sie haben Lügendetektoren an die Pflanzen angeschlossen und die Pflanzen beleidigt, in deren Gegenwart über sie gelästert. Ich habe auch Studien über die Musik gefunden, die Pflanzen gut oder schlecht finden. Lange hat man gedacht, dass Pflanzen lärmige Musik wie Heavy Metal nicht mögen, aber inzwischen weiß man, dass es ihnen egal ist, vielleicht ein paar Schwingungen, aber es tut ihnen nicht weh. Das hat mich dazu gebracht, dass man zumindest auf einer spaßigen Ebene in Pflanzen viel Charakter hineinlesen kann.

Norbert Reichel: Ich finde deine Arbeitsweise interessant. Du liest wissenschaftliche, halb-wissenschaftliche oder pseudo-wissenschaftliche Bücher, schaust Filme, kombinierst das. Wie muss ich mir vorstellen, dass dann ein Roman wie „Phytopia Plus“ entsteht? Das ist schon deutlich komplexer als eine Erzählung wie „Limbus“.

Zara Zerbe: „Limbus“ ist eigentlich aus zwei Geschichten zusammengeschustert. Bei „Phytopia Plus“ sind es Ideen, die ich zusammenbringe. Ich kombiniere eigentlich immer alles, was ich so höre, so sehe, irgendwo einmal gelesen habe und mache etwas Neues daraus.

Norbert Reichel: Du setzt die Welt neu zusammen.

Zara Zerbe: Ja, irgendwie so. Wie Collage basteln. Für „Phytopia Plus“ habe ich etwas von Leuten gelesen, die es geschafft haben wollen, Daten auf DNA zu speichern, und von Leuten, die sich mit Mind Uploading beschäftigen, der Digitalisierung von Bewusstsein. Ich bastele schon ziemlich viel.

Norbert Reichel: Mind Uploading ist sonst eher ein Thema Künstlicher Intelligenz von Maschinen. Du hast eben Pflanzen genommen. Da Pflanzen Lebewesen sind, wäre das vielleicht eine utopische Überlebensperspektive, dass das Bewusstsein von Menschen auf Pflanzen überlebt, auch wenn ihre Körper sich längst aufgelöst haben. Nicht mehr mobil, …

Zara Zerbe: …. aber am Leben. Irgendwie wie Kryotechnik. Es soll ja Leute geben, die sich haben einfrieren lassen. Nur wer weiß, wie man da wieder herauskommt. Aber wer möchte, bitteschön. Ich habe das Bewusstsein auf die Pflanzen verlagert, weil der Mensch bei schlechten Überlebensaussichten vielleicht einfach umziehen sollte, eben nicht unbedingt auf einen anderen Planeten, sondern in einen anderen Körper. Es ist eigentlich schon reichlich absurd, weil es eben doch sinnvoller wäre, dafür zu sorgen, dass der Planet heil bleibt. Es hat schon etwas Mietnomadenmäßiges.

Bibliothek der Geschichten

Norbert Reichel: In „Limbus“ – da schon im Titel – und in „Das Orakel von Meisenfeld“ fand ich – mehr noch als in „Phytopia Plus“ – einiges Mysteriöse, mit dem sich Menschen im Alltag beschäftigen. Die Mutter, die jeden Tag das Horoskop der „Brigitte“ liest, die Tarotkarten. Aber was hat es mit dem „tieferen Sinn“ auf sich, der immer wieder erwähnt wird.

Zara Zerbe: Kann man das überhaupt herausfinden? Ich glaube, man kann sich dem nur annähern.

Norbert Reichel: Vielleicht tust du das, indem du Personen auftreten lässt, die versuchen, das herauszufinden, aber dann doch nicht herausfinden?

Zara Zerbe: Vielleicht ist es das ein bisschen. Ich muss aber auch sagen, dass ich den ganzen New-Age-Kram von zu Hause mitbekommen habe. Ein Satz wie „Alles hat seinen Sinn“ gehörte in meiner Familie dazu. Das bleibt wohl nicht aus, wenn man Eltern hat, die in den späten 1960er geboren wurden. In den 1990er Jahren war das wohl angesagt. Ich bin im Hamburger Speckgürtel aufgewachsen, da gab es immer eine Szene, diese Spät-Hippies, die etwas auspendelten, Horoskope lasen, Tarotkarten legten. Ich weiß nicht, ob das irgendwann wieder verschwand oder ob ich einfach nur familiär weniger damit zu tun hatte. Meine Oma sagte immer „Gott bestraft die kleinen Sünden immer sofort“. Niemand ist in die Kirche gegangen, aber das gehörte eben auch dazu.

Seit ich in der Lage bin, eigenständig zu denken, habe ich mich gefragt, warum Leute das machen. Aber es ist ja vielleicht auch eine Art, sich Geschichten zu erzählen, beispielsweise aufgrund einer Tarotkarte, und das ist etwas, das mich als Schriftstellerin und auch als Literaturwissenschaftlerin interessiert hat. Gleichzeitig ist es eine lustige Möglichkeit, Mystery-Elemente in eine Erzählung hineinzubringen.      

Norbert Reichel: „Limbus“ und „Das Orakel von Meisenfeld“ enden irgendwie im Nichts. Es ist alles wie vorher, eigentlich ist nichts geschehen. Ob das wirklich so ist, weiß niemand, aber es sieht einfach so aus. Das ist in „Phytopia Plus“ aus meiner Sicht anders. Aylin lehnt sich auf.

Zara Zerbe: Aylin ist davon überzeugt, dass sich die Gegenwart verändern lässt. Die Personen in „Limbus“ und „Das Orakel von Meisenfeld“ sind eher schicksalsergeben, auch so eine Art Slackerinnen, die nur das Nötigste tun. Ich setze mich ja gerne mit dem Thema Arbeit auseinander und wollte sogar einmal über das Thema „Arbeit in Fernsehserien“ promovieren, habe das dann aber gelassen. Ich hatte an der Uni nur einen Lehrauftrag, eine Teilzeitstelle außerhalb der Universität und wollte ja auch noch schreiben. Anlass war ein Seminar in Medienwissenschaften über „Arbeit im Film“. Ich habe mir vor allem Serien wie „The Good Wife“ angeschaut, da geht es um eine Anwältin, die lange Hausfrau und Mutter war, dann ihren Mann verlässt, weil dieser, ein ehemaliger Staatsanwalt, wegen Veruntreuung von Geldern und anderer Verstrickungen ins Gefängnis muss. Dann „Parks and Recreation“, eine Comedy-Serie über Leute, die im Grünflächenamt arbeiten. „Mad Men“ kam noch dazu.

Norbert Reichel: Grünflächenamt haben wir in „Phytopia Plus“ in einer anderen Variante. Da müssen auch Pflanzen gezogen und gepflegt werden.

Zara Zerbe: Das Grünflächenamt wäre schon für mich eine Art Traumjob. Literatur oder Grünflächen.

Norbert Reichel: „Phytopia Plus“ wäre auf jeden Fall serientauglich.    

Zara Zerbe: Wenn jemand möchte, …. Mich interessierte an Serien, dass da immer wieder Männer vorkommen, die im Job große Dinge tun, zumindest tun wollen, aber im Privatleben Versager sind.

Norbert Reichel: Da ließe sich aus dem Dr. Fichte noch einiges machen. Absolut serientauglicher Bösewicht. Mit den dünnen Brillengläsern schaut er schon ein bisschen aus wie ein Bösewicht aus James-Bond- oder den Sherlock-Holmes-Filmen mit Benedict Cumberbatch. Eingeführt wird er mit dem „Verdacht, Dr. Fichte könne ein Hochstapler sein“. So eine scheinbare Harmlosigkeit. Dr. Fichte erinnert mich irgendwie an Elon Musk oder Donald Trump, zwei ausgesprochene Unsympathen. Oder eher Anna Sorokin aka Anna Delvey? Deren Geschichte ist fast schon – um im deutschen Kontext zu bleiben – eine Felix-Krull-Geschichte. Es gibt eben auch nette Hochstapler:innen. Eher stellt sich die Frage, warum Leute auf Hochstapelei hereinfallen, eine Frage, die nicht nur bei den beiden Unsympathen, die ich eben nannte, auf der Hand liegt. Aber Ist Dr. Fichte wirklich ein Hochstapler?

Zara Zerbe: Das wird man vielleicht in Teil 3 herausfinden. Aber ich denke ja. Auf eine Art auf jeden Fall. Er ist auf jeden Fall der Typ Mensch, bei dem man sich wünscht, dass er ein Hochstapler ist.

Norbert Reichel: So eine Art Jordan Belfort, den Martin Scorsese in „The Wolf of Wall Street“ sogar persönlich auftreten lässt?

Zara Zerbe: Steven Spielbergs „Catch Me If You Can”! Ich habe auch eine große Schwäche für Mafia-Filme, „Scarface“ von Brian de Palma zum Beispiel. Auch europäisches Indie-Kino. „The Lobster“ von Giorgos Lanthimos kam auch in „Phytopia Plus“ kurz vor. In der ARD-Mediathek ist wohl noch der Film „Wir könnten genauso gut tot sein“ von Natalia Sinelnikova zu finden. Mir wurde gesagt, der Film passe gut zu „Phytopia Plus“, in das Genre absurder Dystopien. Er spielt in einer Gated Community in einem Hochhauskomplex.

Norbert Reichel: Eine Totalitarismus-Parabel.

Zara Zerbe: Ich mag auch sehr gerne „The Royal Tenenbaums“ von Wes Anderson. Ich schaue auch gerne Horrorfilme, zuletzt habe ich „Midsommar“ von Ari Astar angeschaut. Wichtig für „Phytopia Plus“ sind noch „Blade Runner“ von Ridley Scott und „In den Gängen“ von Thomas Stuber. Als ich mit „Phytopia Plus“ anfing, hatte ich die Idee, „Blade Runner“ und „In den Gängen“ kombiniert und das alles mit Pflanzen. Das wäre ein pop-kulturelles Erzeugnis, das ich gerne hätte, aber das muss ich dann wohl selbst machen. 

Norbert Reichel: Als ich „Phytopia Plus“ das erste Mal las, dachte ich an die südkoreanische Autorin Han Kang und ihren Roman „Die Vegetarierin“, in dem sich eine Frau schrittweise in eine Pflanze verwandelt. Auch Erzählungen und Romane der japanischen Autorin Yōko Ogawa kamen mir in den Sinn. In „Das Museum der Stille“; soll ein junger Mann ein Museum mit gestohlenen für ihren Charakter exemplarischen Gegenständen Verstorbener einrichten, in „Der Ringfinger“ werden unter anderem immaterielle Erinnerungen präpariert, wie Tiere in einem naturkundlichen Museum.

Zara Zerbe: Das einzige Buch asiatischer Autor:innen, das ich gelesen habe, ist „Von Beruf Schriftsteller“ von Haruki Murakami. Ich fand interessant, wie er erzählte, dass es sich ergeben hat, dass er das Schreiben zu seinem Beruf gemacht hat. Er ist wohl auch ein witziger Typ. Als Begleitprogramm macht er wohl viel Ausdauersport, Laufen und zum Teil auch Schwimmen, um sich im Durchhalten zu üben. Ich bin eigentlich niemand, der sich etwas aus Sport macht, aber als ich meine Masterarbeit geschrieben habe, habe ich angefangen zu laufen. Als ich sie abgegeben habe, habe ich wieder aufgehört.

Norbert Reichel: Und jetzt?

Zara Zerbe: Ich laufe. Manchmal. Ich bin sogar jetzt bei einer Sportveranstaltung mitgelaufen, obwohl ich mich eigentlich von solchen Veranstaltungen fernhalte. Ich habe einen Hund, mit dem muss man natürlich dauernd raus. Der ist ein guter Trainer.

Norbert Reichel: Sport und Schreiben – irgendwie passt das. Murakami hat Romane von John Irving ins Japanische übersetzt. John Irving war Ringer, daher sind auch manche seiner Hauptpersonen Ringer. Zum Beispiel in „The World According to Garp“.

Zara Zerbe: Das ist eines meiner Lieblingsbücher. Vor allem als Teenager habe ich ihn gerne gelesen. Ich lese ohnehin gerne ausgefallene US-amerikanische Romane, vor allem wenn darin eine ganze Lebensgeschichte erzählt wird. Mir gefielen sehr „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ und „Witwe für ein Jahr“. Ich habe mich in der Figur der Ruth Cole wiedergefunden, die ja dann auch Schriftstellerin wird. John Irving gefiel mir, weil er einerseits recht witzig schreibt, andererseits aber auch düster. Und dann lese ich natürlich gerne Walter Moers.

Norbert Reichel: Interessant finde ich die dramatisierende deutsche Übersetzung mancher Titel, zum Beispiel „Gottes Werk und Teufels Beitrag“. Im Original heißt es ja ganz lapidar „The Cider House Rules“. So lapidar sind – finde ich – auch deine Titel. Deshalb gefallen sie mir so gut. Kein falsches Drama. In „The Cider House Rules“ geht es um Regeln, die dann immer gebrochen werden, ein Thema, das ich auch in deinen Texten finde. Der ganze Roman ist die Geschichte eines einzigen Regelbruchs in einer Welt falscher Moral, der aber eben etwas Gutes bewirkt: Waisenhaus und Abtreibungsklinik in einem Haus.

Zara Zerbe. Ich habe mir zuletzt mit meinem Freund die Verfilmung angeschaut. Ich hatte vergessen, ihm die schrecklichen Dinge mitzuteilen, zum Beispiel die Vergewaltigung von Rose Rose durch ihren Vater, sodass er sich wunderte, dass ich ihm angekündigt hatte, dass ich das Buch als Kind schon so toll gefunden habe.

Norbert Reichel: Geschichten und wieder Geschichten. Und dein Pflanzenchor sammelt sie:

„Wir sind eine Bibliothek. Ein Lexikon!

                                                                         Eine Sammlung. Damit wir uns alle daran erinnern.

Zum Beispiel daran, wann wir wachsen können
und wann es zu heiß dafür ist.

                                                                         Oder zu kalt.

Das nicht relevant in letzter Zeit.

                                                                         Also unser Gedächtnis.

Das ist eher molekular.

                                                                          Aber.

Wir merken uns, was passiert.

                                                                          Und wie es sich anfühlt.

Und wie wir darauf reagieren können.

                                                                            Ohne, dass es uns stresst.

Weil Stress.

                                                                            Oh je.“

Zara Zerbe: Davon träume ich, eine Bibliothek, gespeichert auf meinen Pflanzen. E-Books auf meinen Pflanzen. Ich habe da zu Hause so eine Loggia. Da geht es den Pflanzen eigentlich ganz gut.

Antikapitalistische Magie

Norbert Reichel: Die Übertragung des Bewusstseins auf die Pflanzen funktioniert nun aber nicht für alle Menschen. Es kostet ziemlich viel Geld: 350.000 Euro.

Zara Zerbe: Das ist das Armuts- und Reichtumsthema, das doch viele umtreibt. Es gibt natürlich diese Christianlinderismen, für die Probleme der Klimakrise gäbe es schon immer irgendeine technische Lösung, CO2 in den Weltraum, E-Fuels, Kernfusion. Ich denke dann doch, wie kurzsichtig es ist, nur auf technologische Dinge zu setzen, oder darauf, einfach umzusiedeln, was schon ziemlich teuer wäre. Und wohin?

Norbert Reichel: Mit Elon Musk auf den Mars. Da soll es in der Tiefe Wasser geben.

Zara Zerbe: Das läuft doch auf jeden Fall darauf hinaus, dass diejenigen, denen das nötige Kleingeld fehlt, auf der Strecke bleiben. Arme Menschen sind von der Klimakrise viel mehr betroffen als reiche, global betrachtet die Menschen im globalen Süden. Aber es wird auch darauf hinauslaufen, dass es uns hier erreicht. Man kann sich natürlich ein ökologisches Pfahlhaus bauen, aber das Geld haben nun auch nicht alle. Mitgedacht werden bei solchen Lösungen in der Regel nur gutverdienende Menschen.

Norbert Reichel: Würdest du deine Literatur als anti-kapitalistisch bezeichnen?

Zara Zerbe: Das hoffe ich doch.

Norbert Reichel: Du verwendest den Begriff „antikapitalistische Magie“.

Zara Zerbe: Das ist mir schon ein großes Anliegen. Den Begriff hat Julia Ingold erfunden, als Oberbegriff für die Gedanken, die wir für Herbst 2024 in unserem Hexenvortrag als Sukultur-Leseheft zusammenstellen. Wenn ich antikapitalistische Magie anwenden könnte, würde ich das tun.

Norbert Reichel: Nur was macht man, wenn man arm ist? Aylin, deine Hauptperson in „Phytopia Plus“, hat das Geld nicht, um ihrem Großvater das Weiterleben als Pflanze zu ermöglichen. Die Lösungen, die sie sucht, sind nun nicht gerade so supermoralisch.

Zara Zerbe: Bei manchen Sachen ist eben die Leidenschaft größer als das Rechtsempfinden.

Norbert Reichel: Würdest du Aylin als amoralisch bezeichnen?

Zara Zerbe: Das würde ich eher nicht sagen. Es gibt natürlich auch den Schlag Menschen, die sich an alle Regeln halten. Diese Person hätte bei Unterschrift unter den Arbeitsvertrag ihre Zimmerpflanzen ausquartiert und hätte auch keine Stecklinge geklaut.

Norbert Reichel: Aber das ist doch viel menschlicher. Und ich würde mal sagen, als Straftatbestand auf den ersten Blick ziemlich harmlos. Auch arbeitsrechtlich.

Zara Zerbe: Absolut.

Norbert Reichel: Das Unternehmen sieht das etwas anders und kündigt ihr unter Androhung rechtlicher Schritte. Aber der Kernpunkt: Aylin handelt individuell. Sie gründet keine Bewegung, keine Partei, sucht keine Mitstreiter:innen. Das wäre in einem in der Zukunft spielenden Roman sicherlich auch eine Option. Aylin ist Einzelkämpferin.

Zara Zerbe: Darüber habe ich nachgedacht. Ich hätte aus der Geschichte natürlich ein soziales Projekt machen können. Das Thema der Gewerkschaften wird auch angesprochen. Aber es hat sich in eine andere Richtung entwickelt. Bei Aylin geht es um die Erfahrung der Vereinzelung, mit der viele Leute in prekären Lebensverhältnissen zu kämpfen haben, die auch gar nicht die Möglichkeit und die Zeit haben, sich zu organisieren. Aylin organisiert sich nur insofern, als sie Kontakt mit ihren Freund:innen hat.

Norbert Reichel: Einige deiner Personen haben keine individuellen Merkmale, sondern sind Typen, so zum Beispiel die „Pelzmantelfrau“, die mich ein wenig an die „kuchenfressenden Pelztiere“ bei Günter Grass in „Örtlich betäubt“ erinnerte. Allerdings vermeidest du eine Bewertung, was mir besser gefällt als die despektierliche Bemerkung bei Grass. Du zeigst einfach, dass es Klassenunterschiede gibt, nicht mehr und nicht weniger.

Zara Zerbe: Die „Pelzmantelfrau“ gehört jetzt nicht zu den Superschurken. Der „Pelzmantel“ sollte eigentlich nur zeigen, dass die Frau etwas exzentrisch ist. Als Statussymbol war es eigentlich gar nicht gedacht. Ein verrücktes Kleidungsstück. Natürlich Upper Class, sie kann sich eine gewisse Exzentrik leisten. Ganz anderes ist das bei „Dr. Fichte“.

Norbert Reichel: Ich darf vielleicht eine Stelle zitieren, die dazu passt: „Das wütende Flirren in ihrer Brust sagt ihr, dass es angebracht wäre, sich ausgiebig selbst zu bereichern mit den Pflanzen aus diesem Drecksladen. Die stehlen doch selbst. Von wegen Life Science – was wäre der richtige Ausdruck für das, was da läuft? Kapitalismus, denkt sie, das würde Samira wahrscheinlich sagen und darüber lachen. Wenn Großvater sich nicht speichern lassen will, nimmt sie das Geld und kauft eben eine gute Bewässerungsanlage für seinen Gemüsegarten beeilen. Das Geld muss her, bevor sie sich in Großvaters Augen für immer in Noura verwandelt, also dringend. Zugleich darf sie bei der Gewinnmaximierung keine allzu hohen Wellen schlagen.“

„Kapitalismus“, das heißt: ungleiche Verteilung von Ressourcen. Für Aylin gilt, dass sie nur an Ressourcen herankommt, wenn sie sich eben nicht an die Regeln hält. Das hat doch schon etwas Subversives.

Zara Zerbe: Eines meiner größten Hobbys ist es, über den Kapitalismus zu meckern. Einerseits profitieren wir vom Kapitalismus, andererseits führt das Geschäftsmodell dazu, dass er am Ende des Tages unseren Planeten zerstört. Ich denke, Aylin verspürt eine absolut berechtigte Wut. Es heißt ja so oft, dass die armen Leute von den Gewinnen der großen Unternehmen profitieren, aber das stimmt ja nun einmal überhaupt nicht. Wenn es so wäre, wäre die Welt eine ganz andere. Aylin ist so eine Art Robin Hood für ihre eigene Sache.

Norbert Reichel: Und Dr. Fichte? Der Bösewicht?

Zara Zerbe: Der verkauft im Grunde eine Art Heilsversprechen. Das, was das Unternehmen tut, bringt natürlich auch die Forschung weiter, aber es geht ihm natürlich um den Profit. Es ist daher durchaus angebracht, in Frage zu stellen, warum die Verteilung so ist wie sie ist, dass Reiche reicher werden und Ärmere sich das Angebot des Unternehmens gar nicht leisten können. Umverteilung erfolgt dann im Roman – wie eben auch manchmal im Leben – nicht unbedingt mit legalen Mitteln. 

Norbert Reichel: Aber politische Energie entsteht so nicht.

Zara Zerbe: Das wäre eine andere Geschichte. Man könnte beispielsweise die Geschichte der Computerspezialistin und Hackerin Mila weiterschreiben. Sie wird konsultiert, um Aylins Computer zu retten. sie weiß schon etwas mehr, ist auch im Grunde organisiert, nicht unbedingt auf einem legalen Weg. In dieser Person gäbe es noch einiges Potenzial. Es gibt dann noch Aylins Arbeitskumpel Joe, der sehr stolz darauf ist, dass seine Familie schon immer in der Gewerkschaft war. Es gibt auch Nebenfiguren, die noch andere Perspektiven hätten. Aber der Rahmen einer Erzählung ist natürlich begrenzt.

Alles nach Plan?

Norbert Reichel: Der vorletzte Absatz von „Limbus“ beginnt mit der lapidaren Feststellung: „Es gibt kein Entrinnen.“ Ein Problem, wie viele es immer wieder einmal mit der Bahn erleben, wird zum metaphysischen Ereignis und so endet die Erzählung dann auch: „Vielleicht werde ich dann anfangen, die passierenden Dinge in die wärmende Decke eines tieferen Sinns einzuwickeln. Aber zuallererst sollte ich ausrechen, wie viel Lehrgeld ich sparen muss, damit ich mir wenigstens ein neues Fahrrad leisten kann.“

Oder in „Das Orakel von Meisenfeld“: Die Erzählerin verweist darauf, dass sich ihr „Glaube an das Übersinnliche in Grenzen“ hält, betätigt sich aber halb ernst, halb ironisch als eine Art „Wahrsagerin“, indem sie beispielsweise die Tarotkarten der Mutter nutzt. All das „im Kampf gegen die Finsternis“, wie auch immer die ausschauen mag. Und dennoch endet die Erzählung mit einem einfachen Satz, den man so dahinsagt, obwohl man eigentlich selbst nicht dran glauben möchte: „Es läuft alles nach Plan.“

Zara Zerbe: Ob es Lösungen gibt? Ob es einen Plan gibt? Beim „Orakel von Meisenfeld“ bin ich oft gefragt worden, ob die Hauptperson übersinnliche Fähigkeiten hat. Darüber schweige ich mich aus. Es gefällt mir einfach, wenn Dinge nicht eindeutig sind, wenn man nicht alles so einfach beantworten kann. 

Norbert Reichel: Sie spielt ja irgendwie damit. Die Tarotkarten zum Beispiel.

Zara Zerbe: Gerade bei der Wahrsagerei bietet sich das an. Es ist im Grunde immer nur ein Spiel mit Zeichen. Wie in der Science Fiction. Vielleicht ist es das erzählerische Anliegen, egal, ob ich einen Science-Fiction-Roman schreiben oder Tarotkarten legen will. 

Norbert Reichel: Noch einmal zu „Phytopia Plus“. Du beginnst mit dem Pflanzenchor, auch wenn da noch niemand weiß, dass das ein Pflanzenchor ist. Dann gibt es zu Beginn der nächsten Kapitelchen recht mysteriöse Sätze, bei denen sich die Leser:innen schon fragen dürften, worauf das hinausläuft. Der erste Satz nach dem Pflanzenchor: „Aylin hat noch nie einen Waschbären gefangen.“ Ganz am Schluss kommt das Waschbär-Motiv wieder vor. Waschbären wühlen im Müll, den die Menschen hinterlassen und Menschen ignorieren, dass sie, die Menschen, Müll produzieren. Im nächsten Kapitel: „Lydia weiß um die zeitliche Begrenztheit ihrer Existenz.“ Und am Schluss lesen wir einen Brief von Lydia: „Ob ich mich noch erinnern kann, wie es war, in einer Pflanze zu existieren?“ Ein Kapitel weiter: Nach einer halben Stunde im Gewächshaus beginnen Joes Haare, in dichten, schwitzigen Zotteln von seinem Kopf abzustehen.“ Und dann das Preisschild: „350.000 Euro, teurer als erwartet, doch wenn sie ihre Wohnung verkauft, sollte es zusammen mit ihren Ersparnissen ausreichen.“ In diesem Kapitelchen wird das erste Mal Dr. Fichte vorgestellt. Alle Themen werden zu Beginn angetriggert und es ergibt sich eine Klimax.

Zara Zerbe: Geschrieben habe ich in einer anderen Reihenfolge. Der erste Satz, den ich überhaupt geschrieben habe, lautete: „Lydia weiß um die zeitliche Begrenztheit ihrer Existenz.“ Das entstand über einen Open Call einer kleinen Literaturzeitschrift in Siegen zu Zukunftsvisionen. Darauf habe ich testweise ein paar Szenen geschrieben. Es begann mit Lydia, dann kam das Gewächshaus, dann die 350.000 Euro. Da ist der ganze Plot schon drin. Dann wieder ein Pflanzenchor. Es ging wie folgt weiter: „In Haus 4 sind gerade eingezogen: ein ehemaliger Kapitän, eine Anwältin, ein Krimiautor, ein Ehepaar, das den Partnergutschein aus dem vergangenen Jahr genutzt hat, eine Mathe- und Französischlehrerin, ein Chefredakteur einer überregionalen Zeitung, ein Berufssohn und eine Philosophieprofessorin. Aylin und Joes übliche Klientel; für die echten VIPs werden die Aushilfen nur in absoluten Ausnahmefällen eingeteilt.“

Diese Blöcke habe ich an die Zeitschrift geschickt und nachher eskalierte es.

Norbert Reichel: Es folgt eine Passage über die Pflanzen und die Probleme, die man so hat, sie zu pflegen. Ein hübscher Begriff ist die „Heterözie“, die ich in keinem Wörterbuch gefunden habe.

Zara Zerbe: Die gibt es auch nicht, den Begriff habe ich erfunden.

Der Cliffhanger

Wie endet „Phytopia Plus“? Oder sind es drei Schlüsse? Oder überhaupt keiner?

Zunächst das Ende der Karriere Aylins: sie fliegt auf und ihr wird gekündigt, „rechtliche Schritte“ würden folgen. Sie zeigt ihr Kündigungsschreiben Joe, der traurig ist, aber auch neugierig, wie Aylin ihr „Pflanzenimperium gesteuert“ hätte, wenn sie erfolgreich gewesen wäre. Diese Frage wird nicht beantwortet. Aylin schaut, „ob ihr Avatar bereits gelöscht wurde. die Anzeige ist jedoch gestört. Zuerst ist nur ein Bildrauschen zu sehen, bis etwas Vertrautes erscheint: die historische Aufnahme von dem Rennpferd, das in Endlosschleife über den Bildschirm galoppiert. / ‚Das wird mal wieder ein interessanter Tag heute‘, sagt Joe.“

Es folgt ein zweiter Schluss, diesmal in einer Icherzählung und ein Brief von Lydia, der mit der Frage beginnt: „Ob ich mich noch erinnern kann, wie es war, in einer Pflanze zu existieren?“ Der dritte Schluss: wieder ein Pflanzenchor, der darüber nachdenkt, ob das Leben als Pflanze ewig währt. „Nett ist es hier. wir müssen nur aufpassen, es nicht gleich zu übertreiben.“ Man kann also wohl auch als Pflanze dazu beitragen, dass die Welt, in der man lebt, das bleibt, was der letzte Satz des Romans andeutet, der auch als Vers eines Gedichtes gelesen werden kann: „So lange ist das hier das Paradies.“ Aber auch nur so lange als nichts passiert. Es werden Blätter abgebrochen, es gibt Sabotage. Welche Welt ist denn nun wirklich gefährlicher?

„Wisst ihr noch: Diese unkomplizierte Welt
hinter den Glasscheiben?

                                                                       Hier sind wir auf uns allein gestellt.

Oder frei! Je nachdem, von welcher
Seite wir es betrachten.

                                                                      Wir werden sehen, wie lange der Boden
an unseren Wurzeln bleibt.“

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung September 2024, Internetzugriffe zuletzt am 31. August 2024. Das Titelbild zeigt Zara Zerbe in Pflanzenambiente. Foto: Corinna Haug. Alle Pflanzenbilder im Text: Pixabay.)