Schwierige Partnerschaft

Ein Gespräch mit Ulrich Deinet über Jugendhilfe und Schule

„Mit dem Ausbau der Offenen Ganztagsschule im Primarbereich (…) verändert sich der Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler und (…) kommt mehr Jugendhilfekompetenz in die Schulen. Festzustellen ist, dass die Kooperation zwischen den beiden Bildungsbereichen deutlich gestiegen und die Leitbilder, die mit dieser neuen Form von Schule verbunden werden, sich mehr und mehr durchsetzen: mehr individuelle Förderung, vielfältigere Gestaltung des Schulalltags, mehr Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Professionen und Einführung einer neuen Lernkultur, die durch ein offeneres Bildungsverständnis geprägt ist.“ (Klaus Schäfer, Landespolitische Entwicklungen in der Kinder- und Jugendpolitik und ihre Auswirkungen für die Kinder- und Jugendhilfe, in: ISA-Jahrbuch zur sozialen Arbeit 2007)

Die Offene Ganztagsschule (OGS) ist eine der Innovationen, die die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule in Nordrhein-Westfalen beflügelt hat. Nordrhein-Westfalen ging dabei erheblich systematischer und nachhaltiger vor als andere Länder. De Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule ist die „zentrale Grundlage“ der OGS und anderer Ganztagsangebote. So steht es in den einschlägigen Rechtsgrundlagen, in den Erlassen und demnächst hoffentlich auch in dem nordrhein-westfälischen Ausführungsgesetz zum bundesweit geltenden Ganztagsfördergesetz, das spätestens zum 1. August 2026, dem Tag des Inkrafttretens des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz, beschlossen werden muss.

Aber natürlich gibt es ein Auf und Ab in der Zusammenarbeit von zwei Systemen mit derartig unterschiedlicher Geschichte und Praxis. Ulrich Deinet und ich haben uns seit den 1990er Jahren mit diesem Thema befasst und uns in diesem Kontext kennengelernt. Er war damals Fachberater des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe beim dortigen Landschaftsverband, ich Referatsleiter im Schulministerium. Es war die Zeit, in der ich mit Klaus Schäfer, dem späteren Staatssekretär, der damals Referats- und Gruppenleiter im für die Kinder- und Jugendhilfe zuständigen Sozialministerium war, gemeinsam an vielen Orten für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule geworben habe. Ein wichtiges Anliegen war die Verbesserung der Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule in den Kommunen sowie in der gemeinsamen Verantwortung von Land und Kommunen u.a. für die Schulen. Die fünf Bezirksregierungen und die beiden Landesjugendämter waren die zuständigen Aufsichtsbehörden, die gleichzeitig Impulse setzten, durch Tagungen, Arbeitstreffen, die Begleitung konkreter Projekte. Im Jahr 2003 wurde Ulrich Deinet Professor an der Fachhochschule Düsseldorf. Dies war auch das Jahr, in dem die OGS entstand.

Erste Schritte – immer noch aktuell

Norbert Reichel: Was hat sich aus Ihrer Sicht seit Ihrer Zeit im Landesjugendamt Westfalen-Lippe entwickelt oder auch verändert?

Ulrich Deinet: Damals ging es vor allem darum, die bis heute unterschiedlichen Systeme in Kontakt zu bringen. Als Praktiker fällt mir ein, dass wir damals sehr erfolgreich gemeinsame Fortbildung auf Ortsebene vorangebracht haben. Ich kann mich an eine solche Fortbildung in Hagen erinnern, die für die Teilnehmer*innen die Begegnungen boten, die sie brauchten. Sie haben gesagt, dass sie endlich die Leute getroffen hätten, die sie ansprechen könnten, von der Schule her, von den Hilfen zur Erziehung. Das haben wir damals vom Landesjugendamt her sehr gefördert. Da wir als Fachberater – mein Kollege war Benedikt Sturzenhecker, der dann Professor an der Universität Hamburg wurde – auch die Zeit dazu hatten, haben wir dafür gesorgt, dass wir für solche gemeinsame Fortbildungen angefordert wurden.

Norbert Reichel: Welche Rolle spielten die Lehrkräfte? Beteiligte sich die Schulaufsicht mit der staatlichen Lehrerfortbildung?

Ulrich Deinet: Ich habe damals mit einem Kollegen der oberen Schulaufsicht in der Bezirksregierung Arnsberg zusammengearbeitet, Martin Treichel. Er gab uns den Tipp, wie wir unsere Fortbildungen als Lehrerfortbildungen anerkennen lassen konnten. Das übernahmen dann die anderen vier Bezirksregierungen, wir wurden mit unseren Veranstaltungen in das offizielle Verzeichnis der Bezirksregierung aufgenommen. Es gab damit die Möglichkeit, dass sich Lehrerinnen und Lehrer anmelden konnten.

Norbert Reichel: Welche Themen standen im Vordergrund?

Ulrich Deinet: Das waren verschiedene Ebenen. In Hagen war beispielsweise die problematische Situation von Familien Thema, jeweils aus der unterschiedlichen Sicht der beiden Systeme. Es beteiligten sich Fachkräfte der Erziehungshilfe, aus den Jugendämtern und aus der freien Jugendhilfe der Wohlfahrtsverbände sowie Lehrerinnen und Lehrer. Allerdings hatten wir auch das Problem der unterschiedlichen Größe der Systeme. Schule ist als System erheblich größer. Wir können daher nicht alle Lehrerinnen und Lehrer erreichen. Jede Schule kann einige wenige entsenden. Das ist aber nicht problematisch.

Norbert Reichel: Voraussetzung wäre, dass die teilnehmenden Lehrkräfte ihr Wissen im Kollegium weitergeben. Dies zu organisieren wäre eine Aufgabe der Schulleitungen. Eine in den Schulen als Multiplikator*innen interessante Personengruppe sind auch die Beratungslehrkräfte, die es mittlerweile in vielen Schulen gibt. Aber auch innerkommunal ist die Kommunikation nicht immer einfach.

Ulrich Deinet: Sehr erfolgreich war eine Veranstaltungsreihe im Jugendhof Vlotho auf Leitungsebene, zu der wir die Spitzen von Schulverwaltungsämtern und Jugendämtern eingeladen hatten, dazu auch je nachdem die Schulaufsicht. Man traf sich in Vlotho sozusagen auf neutralem Boden. Ich erlebte dort, dass der Leiter eines Jugendamtes und der Leiter eines Schulverwaltungsamtes entdeckten, dass sie zu dieser Tagung auch hätten gemeinsam hinfahren können. Sie hätten sich absprechen können, um eine gemeinsame Dienstfahrt nach Vlotho zu machen!

Wir haben festgestellt, wie wichtig es für diese Leute war, sich einmal außerhalb ihrer institutionellen Zwänge miteinander zu unterhalten. Wir haben dann immer ein sehr anspruchsvolles Programm gemacht, besonders wichtig war jedoch der informelle Austausch. Wir haben schon in der Ausschreibung deutlich gemacht, dass wir Pärchen oder auch Triaden einladen wollten. Das hat sich sehr bewährt und führte sicherlich zu vielen Absprachen, die sich dann auch in der Praxis bewährt haben.

Es ist wichtig, die Leitungsebenen zusammenzubekommen. Ein Problem ist natürlich die unterschiedlichen Zuständigkeiten in der Schulaufsicht, je nach Schulform. Das ist bei diesem Thema immer wieder auch ermüdend. Es bedarf eines ganz großen Aufwandes, die beiden Systeme zusammenzubringen. Die Hilfen zur Erziehung sind beispielsweise ein rein kommunales System, auf die das Land kaum Zugriff hat. Das Schulministerium und die fünf Bezirksregierungen waren wiederum ein anderes System. Ein großer Teil unserer Arbeit bestand darin, dies auszutarieren. Ich denke zurück an die Modellprojekte, über die ich mit Ihnen und mit Klaus Schäfer gesprochen haben. Wir haben Kommunen besucht, in denen ging es immer wieder um die gleichen Themen: Öffnung von Schule in den Sozialraum, Schule anders denken, Schulentwicklung, kommunale Orientierung von Schulen. Programmatiken und Begriffe haben sich verändert, aber diese Themen gelten nach wie vor. Öffnung von Schule – ich denke noch oft an das alte GÖS-Projekt zurück. Das war und ist für mich durchaus relevant.

Norbert Reichel: Das GÖS-Projekt entstand in den 1980er Jahren und war damals zwischen sozialdemokratischer Regierung und christdemokratischer Opposition höchst strittig. Das ist der dahinter liegende Gedanke der Öffnung von Schule heute nicht mehr. Im Grunde war es ein Vorläuferprogramm für die folgenden Ganztagsprogramme. Damals befürchteten Kritiker*innen, der Gewerkschaftssekretär käme in die Schule und hetze die Schüler*innen gegen die Unternehmen auf. Das glaubt heute kein Mensch mehr. Heute geht es nicht mehr um das Prinzip, sondern eher um die Frage, für welche Systeme sich Schule in welchem Maße öffnen kann. Die einen bevorzugen die Öffnung auf Wirtschaft, andere auf Jugendhilfe. Aber eigentlich sollte das eine das andere nicht ausschließen. Es ist vielleicht eine Frage der inner- und außerschulischen Kapazitäten, letztlich aber auch des Willens der jeweiligen Schulleitungen und Vertreter*innen der Jugendhilfe.

Ich habe den Eindruck, dass die OGS, die etwa um 2003 eingeführt wurde, einen großen Schub für die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule brachte, es heute aber wieder so etwas wie ein Roll-Back gibt und die Systeme sich wieder mehr abschotten. Zumindest war das in den letzten Jahren auf der ministeriellen Ebene der Fall. Diesen Eindruck teilen manche Kolleg*innen in Jugendhilfe und Schule, die sich mehr Unterstützung für diese Zusammenarbeit wünschen. Auch in den Wahlprogrammen der politischen Parteien spielt das Thema keine tragende Rolle mehr. Erleben Sie dies auch in Ihrer Forschung?

Ulrich Deinet: Ich erlebe auf jeden Fall etwas, das auch zum Thema Demokratiebildung passt, zum Thema Kinderrechte. Es gibt ein Wiederkehren und Verschwinden von Themen. Sie erinnern sich vielleicht noch an die Zeit, als das Land mit Reinald Eichholz einen Kinderbeauftragten hatten. Der lag zwar oft quer zu den Vorstellungen seiner Hausspitze, hat aber immer wieder seine Kinderkonferenzen durchgeführt. Viele Kommunen haben dann Kinderbeauftragte benannt. In Köln gab es sogar ein Amt für Kinderinteressen. Ich weiß nicht, ob es das noch gibt. Das war eine Initialzündung: das Land hatte einen Kinderbeauftragten, da wollten die Kommunen auch einen haben. Reinald Eichholz war sich auch nicht zu schade, in jedes kleine Dorf zu fahren. Dort gab es dann eine Pressekonferenz. Er war persönlich etwas sperrig, aber er hat seine Sache gut gemacht. Nach seiner Zeit ist das wieder etwas abgesunken. In der aktuellen Situation verwundert mich, dass jetzt aus einer ganz anderen Ecke eine Diskussion um Kinderrechte entsteht. Das ist eine internationale Diskussion, aus juristischer, aus sozialwissenschaftlicher Sicht.

Partizipation – auch über informelle Bildung

Norbert Reichel: Das ist eine Debatte um Menschenrechte. Es geht letztlich um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention von 1989. Die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz ist nach wie vor nicht erfolgt. Aber immerhin gibt es einen Beschluss der KMK aus dem Jahr 2018, an dem ich mitgewirkt habe, den Verein Kinderfreundliche Kommunen mit inzwischen 44 Mitgliedern und auch manch andere.

Ulrich Deinet: Genau dies. Wir haben jetzt eine aktuelle Diskussion zu Kinderrechten, die leider wenig Verbindung zu der entwickelten Partizipations- und Beteiligungskultur in vielen Kommunen und Schulen (wenn auch noch lange nicht allen!) hat. Da existieren auch wenig Verbindungen zu den Debatten um die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Eichholz sprach auch noch nicht von Kinderrechten, ließ aber prüfen, ob es nicht eine Art Kinderverträglichkeitsprüfung oder Kinderfreundlichkeitsprüfung geben solle.

Norbert Reichel: So etwas wie die Umweltverträglichkeitsprüfung oder das Gender Mainstreaming?

Ulrich Deinet: So etwa. Reinald Eichholz war Jurist, an ihn kann sich heute aber kaum noch jemand erinnern. Als ich letztens mein Zimmer an der Universität aufgeräumt habe, fand ich aus der damaligen Zeit sehr fortschrittliche Papiere. Da kommt man sich als Alter auch ein bisschen altklug vor, aber warum kann man nicht daran anknüpfen? Das Landesjugendamt Westfalen-Lippe hat jetzt ein Landesprogramm und eine Servicestelle zur Jugendbeteiligung aufgebaut. Ich nahm an einer Veranstaltung digital teil, und es waren genau die Diskussionen der damaligen Zeit. Ich habe den Eindruck, dass es zurzeit auch wenig Konnex zwischen der sozialpädagogischen Diskussion und der Diskussion um die Kinderrechte gibt. Ich habe hier einen Artikel mit der Zwischenüberschrift „Der Zusammenhang von Partizipation und Kinderrechten in der Jugendarbeit“ von Moritz Schwerthelm, einem Kollegen von Benedikt Sturzenhecker aus Hamburg (in der Zeitschrift „Sozialmagazin“ 3-4 / 2022). Wir sprachen vor Kurzem darüber: es sind zwei Diskurse, die gehören eigentlich zusammen. Das ist etwas, das Sie wohl meinen, wenn Sie sagen, die Diskurse der Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule seien zurückgegangen.

Ich kann das nicht im Einzelnen beurteilen, aber ich habe den Eindruck, dass diese Euphorie der Bildungslandschaften – wie ich finde eine sehr gute Idee – im kommunalen Rahmen nicht mehr so diskutiert wurde, wie dies der Fall war. Da ging und geht es um Verbindungen, Vernetzungen im Raum. Raum ist für mich ohnehin ein zentrales Thema. In Bezug auf die Forschung: wir sind da völlig raus. In den ersten Jahren hatten wir mal ein Forschungsprojekt mit der Stadt Gevelsberg zur Entwicklung von kommunalen Bildungslandschaften. In dem Augenblick, als das Schulministerium in NRW mit seiner Unterstützung, auch mit eigenen Stellen eintrat, verlor das in der Jugendhilfe an Bedeutung. Ich habe dazu einmal ein kleines Forschungsprojekt gemacht, auch mit Jugendverbänden gesprochen. Das war ziemlich enttäuschend. Wenn die nicht zufällig in ihren kommunalen Bildungszusammenhängen, in diesen Gremien beteiligt waren, ist da wenig.

Auch die Verbindung zwischen Schulentwicklungsplanung und Jugendhilfeplanung, die Sie und Klaus Schäfer damals sehr betont haben, ist in den Hintergrund gerückt. Es gibt doch diese kommunalen Bildungsberichte. Der Kreis Lippe hatte einen sehr guten Bericht vorgelegt, der auch informelle und non-formale Bildung einbezog. Ich bin in den letzten Jahren öfter einmal eingeladen worden, aber das ist abgeebbt. Es war wohl in den Bildungskonferenzen der lokalen Bildungslandschaften Thema. Man hat versucht, formelle und non-formale Bildung zu verknüpfen, sich – was natürlich schwierig ist – auch für informelle Bildung zu öffnen. Wie ist das fassbar? Welche Probleme gibt es da? Ist jeder Spielplatz ein Bildungsort? Ich habe gesagt, eher nein, aber die Frage besteht: wo fängt das an, wo hört das auf?

Norbert Reichel: Es gab beim 10. Kinder- und Jugendbericht des Landes Nordrhein-Westfalen einmal eine Studie zur informellen Bildung bei Skatern. Es zeigte sich, dass die Jugendlichen eine ganze Menge an Kompetenzen entwickelten, die nicht geplant waren, aber offenbar genauso wirksam oder sogar noch wirksamer waren, als wenn sie in der Schule oder in einer Einrichtung der offenen Jugendarbeit gefördert worden wären. Ähnliches höre ich, wenn mir jemand sagt, dass Siebenjährige englische Rap-Texte beherrschen, aber im Englischunterricht stottern.

Ulrich Deinet: Es gab vom Jugendministerium einmal ein Projekt zu informellen Treffs von Jugendlichen. Wir haben diese damals auch an den Modellstandorten besucht und festgestellt, wie schwierig es ist. Aber es gab immer gute Beispiele, wie es gelungen ist, zum Beispiel in Münster in Verbindung mit einer Hauptschule, auch unter dem Aspekt der Berufsorientierung, einen solchen Treff aufzubauen. Das hat sich auch nicht zurückentwickelt. Es gibt eine breite positive Erfahrung mit Schülerfirmen. Ich habe den Eindruck, das hat in die Breite gewirkt. Wir haben im Auftrag des Jugendministeriums kurz vor Corona immerhin 250 Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit nach ihren Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Schule befragt. Man kann sagen, dass viele Einrichtungen die Kooperation mit Schulen schätzen, wissen damit umzugehen, kennen die Hürden, wissen auch um die positiven Nebeneffekte für die Entwicklung der Schulen, auch gerade weil viele Schulen jetzt Ganztagsschulen sind.

Eine sehr gute Brücke, die es zu unserer Zeit eigentlich nur an Gesamtschulen gab, ist der unglaubliche Ausbau der Schulsozialarbeit. An vielen Schulen auch im Primarbereich, finden wir heute einen furiosen Ausbau der Schulsozialarbeit. Das verändert im Positiven.

Ein neuer Impuls – die Schulsozialarbeit

Norbert Reichel: Das sehe ich auch so. Durch den Ausbau der Schulsozialarbeit sind eine Menge an Jugendhilfe-Kompetenzen in die Schule hineingekommen, aber das heißt noch nicht, dass die Zusammenarbeit der Systeme funktioniert.

Ulrich Deinet: In anderen Bundesländern ist das nicht so ausgebaut wie in Nordrhein-Westfalen. Es gibt hier natürlich auch diverse Hierarchiestufen. Die oberste Hierarchiestufe sind die Schulsozialarbeiter*innen auf Lehrer*innenstellen, die von den Bezirksregierungen verwaltet werden. Die werden auch besser bezahlt. Dann kommen die kommunalen Schulsozialarbeiter*innen, die mal bei Schulverwaltungsämtern, mal bei Jugendämtern, mal bei freien Trägern angestellt sind. Darunter gibt es dann noch eine dritte „Kaste“, beispielsweise die BuT-Schulsozialarbeit. Das verstehen unsere Studierenden nicht. Selbst in Prüfungen ist das eine ganz schwierige Frage. Ein Problem – gerade bei den BuT-Kräften – war, dass die Schulsozialarbeiter*innen für mehrere Schulen zuständig waren und nur ein paar wenige Beratungsstunden an einer Schule hatten. Das ist meines Erachtens keine Schulsozialarbeit.

Norbert Reichel: Vielleicht hängt das auch mit der Größe der Schulen zusammen. An kleinen Schulen, gerade an Grundschulen, ist es vielleicht schwierig, ein*e Schulsozialarbeiter*in zu etablieren. In großen Schulen, Berufskollegs, Gesamtschulen, hingegen wäre eigentlich gleich mehrere Stellen für die Schulsozialarbeit erforderlich. Ich persönlich würde einen Schlüssel bevorzugen, der allen Schulen mindestens eine Stelle zur Verfügung stellt. Alle Stellen sollten dann aber kommunal verwaltet werden, gegebenenfalls bei unterschiedlichen Anstellungsverhältnissen über Kooperationsverträge. Das macht das System auch flexibel, hilft Schwerpunkte zu bilden, Vertretungen zu organisieren und vieles mehr. Problematisch finde ich, wenn Schulleitungen die Schulsozialarbeiter*innen als Hilfskräfte betrachten.

Ulrich Deinet: Gleich fahre ich in eine Grundschule, in der wir nach Corona die erste Befragung durchführen. Dort gibt es ein durchaus komplexes System mit dem Träger der OGS, dem Träger der Schulsozialarbeit, dummerweise ein anderer Träger als der der OGS. Dann haben sie zusätzliche Programme, für die es auch wieder Personal gibt. Es gibt selbst an Grundschulen unterschiedliche Partner, in Düsseldorf kommen Kooperationspartner*innen aus einem „Kunstkatalog“ hinzu. Das hat sich schon verändert. Wie aber die Institutionen dahinter, die Ämter arbeiten, das kann ich nicht beurteilen. Dazu haben wir keine Empirie.

Systemische Planung oder Einzelberatung?

Norbert Reichel: Somit gibt es Empirie dazu, was mit den einzelnen Kindern und Jugendlichen geschieht, aber es fehlt wohl ein systemischer Blick.

Ulrich Deinet: Ich weiß jetzt nicht, was das Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung macht.   

Norbert Reichel: In den Jahren der Bildungsberichterstattung Ganztag habe ich leider festgestellt, dass die Kolleg*innen in Dortmund, die am Institut für Schulentwicklungsforschung arbeiteten, und diejenigen, die nebenan im Rahmen des Kooperationsverbundes des Deutschen Jugendinstituts u.a. für die Bildungsberichterstattung Ganztag zuständig waren, einander auch nicht wirklich wahrnahmen.

Ulrich Deinet: Die Bildungsberichterstattung Ganztag gibt es ja leider nicht mehr. Ich kann verstehen, dass Ministerien solche Untersuchungen nicht auf Dauer durchführen lassenkönnen. Die BiGa hatte wichtige Impulsfunktionen.

Norbert Reichel: Ein Problem war, dass die Beteiligung sank. Ähnliche Erfahrungen machten übrigens die bundesweite Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG). Die Wissenschaftler*innen kamen nicht mehr an die Leute heran. Ich hoffe, dass es über die Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz ab 2026 einen neuen Schub für eine längerfristig angelegte wissenschaftliche Begleitung gibt. Ich stimme Ihnen zu, dass die Impulse der BiGa sehr positiv waren. Immerhin gab es vier Berichte, die auf drei vorangegangenen Berichten zur wissenschaftlichen Begleitung der OGS aufbauten und diese weiterentwickelten. Meines Erachtens brauchen wir so etwas wie eine neue Aufbruchsstimmung. Andererseits hatte ich beim Aufbau der OGS den Eindruck, dass wir für viele Kommunen so etwas wie Mund-zu-Mund-Beatmung brauchten und nach wie vor brauchen. Es kann andererseits nicht der Auftrag einer Ministerialverwaltung sein, überall präsent zu sein.

Ulrich Deinet: Wir hatten einmal ein Projekt in Belgien und in den Niederlanden abgeguckt. Wir nannten das „Stöbertag“. Das war ein Tag, den haben Jugendämter und Wirtschaft miteinander vorbereitet. Da konnten Kinder in Handwerksbetriebe gehen, das war so ein bisschen wie „Girl’s Day“. Die Kinder konnten Hand anlegen. Das Landesjugendamt förderte es. Aber es war sehr aufwändig und wurde dann, als der zuständige Kollege, mein damaliger Chef, nicht mehr da war, eingestellt. Alle sagten, das war ein Super-Tag. Kinder standen im Mittelpunkt, einen ganzen Tag. Kinder haben die Welt der Erwachsenen erfahren. Unsere Evaluation war durchaus positiv, aber sobald es keine Treffen mehr gab, diese Beatmung nicht mehr stattfand, schlief das ein. Das ist ein grundsätzliches Thema, das wir auch in dem neugebildeten Netzwerk von Jugendforscher*innen besprechen. Es ist die Transferproblematik. Wie bekommen wir Ergebnisse so transferiert, dass die Kommunen auch weiterhin damit arbeiten können. Wie kann das mit Programmen von der Landesseite beatmet werden? Ich höre nichts mehr von gemeinsamen Fortbildungen. Das ist ein sehr einfaches Instrument.

Norbert Reichel: Das ist in der Tat ein sehr einfaches Instrument. Ich habe einen vergeblichen Kampf geführt, das Finanzministerium davon zu überzeugen, dass im Haushaltsplan des Schulministerium der Vermerk für die Mittel der Fortbildung von Lehrkräften auch für die Mitarbeiter*innen der außerschulischen Partner, in der OGS, in der Schulsozialarbeit geöffnet wurde. Es wäre noch nicht einmal um die Finanzierung der Reisekosten des Personals außerhalb des Landesdienstes gegangen, nur um die Teilnahme. Im Ergebnis hing es vom Good-Will der Bezirksregierungen ab, ob Fachkräfte, die nicht im Landesdienst waren, an den Fortbildungen der Lehrkräfte teilnehmen konnten. Mal war es möglich, mal nicht. Die Trägheit der Systeme macht dann die Eins-zu-Eins-Betreuung erforderlich, die dann abbricht, wenn Personen aus dem Dienst ausscheiden.

Ich nenne Ihnen noch ein zum „Stöbertag“ passendes OGS-Beispiel. Der Bürgermeister einer Gemeinde im Rhein-Kreis Neuss hatte in der Anfangszeit der OGS alle Berufsgruppen in seiner Gemeinde – es gab 17 Ortsteile mit insgesamt drei Grundschulen – dafür gewonnen, dass sie an einem Tag in der Woche in den OGS’en ihre Arbeit vorstellten, Handwerk, Landwirtschaft, Polizei, Feuerwehr, auch der Pfarrer und er als Bürgermeister selbst. Das war Berufsorientierung für Grundschulkinder!

Ulrich Deinet: Ich erinnere mich an tolle Beispiele, bei denen ich beeindruckt war. Eine Optikermeisterin aus Gevelsberg stellte in der Stöberstation mit drei Mädchen Brillen her. Es gab auch absurde Beispiele. Wir haben das mit einem hohen Aufwand begleitet, mit Tagungen, Besuchen und so weiter und so weiter. Das gehört alles dazu. Die Selbstreferentialität von Systemen ist nicht zu unterschätzen. Wir haben immer dagegen gearbeitet.

Norbert Reichel: Vor Ort läuft mehr als wir ahnen. Vielleicht fehlt es vor allem an der systematischen Gestaltung von oben, Entwicklung von unten, klare Ansagen von oben, das gehört für mich irgendwie zusammen. Was wären aus Ihrer Sicht jetzt die Punkte, die Jugendhilfe und Schule vor allem angehen sollten?

Ulrich Deinet: Ich sehe die verschiedenen Ebenen. Das hat man ja auch bei der Corona-Pandemie gesehen, allein schon die Frage, was gehört zu den inneren, was zu den äußeren Schulangelegenheiten, gerade bei den digitalen Dingen. Das äußere hat sofort Auswirkungen auf das innere. Da sehe ich kein Fortkommen. Ich habe auch kein Interesse mehr an solchen Forschungen, sondern habe den Eindruck, dass man mit weiteren Forschungen immer nur die bekannten Problemsichten reproduziert. Gerade jetzt bei der Einführung des Rechtsanspruchs auf einen Ganztagsplatz müssten eigentlich alle Seiten sehen, was fehlt und wer wo kooperieren muss.

Norbert Reichel: Es ist eigentlich ganz einfach. Wenn die Räume fehlen, muss ich Räume flexibel nutzen. Wenn ich Personal brauche, muss ich darüber nachdenken, wer in Frage kommt, gerade in einer Zeit, in der Mangel an Fach- und Lehrkräften auf der Tagesordnung steht. Dazu brauche ich Absprachen. Kommunen wären gut beraten, mit allen Beteiligten, auch den Eltern, auch den Kindern, Gespräche zu organisieren. Dazu brauche ich keine Studien, weil das in jeder Kommune, in jedem Stadtteil anders aussehen kann. Aber Planungsbehörden mögen gerne Reißbretter, schlage gerne alles über einen Leisten, wollen wissen, wie viele Kinder im Jahr 2030 einen Ganztagsplatz brauchen. Diese Kinder sind noch gar nicht geboren und wir wissen nicht, mit welcher Zuwanderung wir möglicherweise noch rechnen müssen.

Ulrich Deinet: Gerade dort, wo sich soziale Probleme häufen, funktioniert es sogar oft am besten. Die Schulpreise haben zum Beispiel in Dortmund immer die Schulen abgeräumt, die in den schwierigsten Stadtteilen lagen. Da wo die Probleme sichtbar werden, arbeiten die Beteiligten auch zusammen. Sobald der Druck sinkt, rücken sie wieder auseinander. Ich sehe jedoch keine Partei, die das systematisch angeht. Hinzu kommt, dass es erstaunliche Unterschiede zwischen den fünf Bezirksregierungen und zwischen den beiden Landesjugendämtern gibt. Es gibt eben nicht nur die Ministerien. Das liegt einfach an der Größe des Landes.

Ausbildungsinhalte

Norbert Reichel: Auch in Kommunen kann das schwierig werden. Ich kenne Kommunen, in denen Bildungsberichte geschrieben werden, aber nur das Schulverwaltungsamt beteiligt ist, das Jugendamt, das im selben Dezernat ressortiert jedoch nicht. Und in den Ministerien sprechen die Abteilungen auch noch lange nicht mit einer Stimme, unabhängig davon, was Minister*innen so denken. Ist das ein Thema für Ihre Studierenden?

Ulrich Deinet: Mein Motto war immer: „raus in die Praxis“. Das ist durch das System mit Bachelor und Master deutlich schwieriger geworden. Auf der anderen Seite haben die Studierenden ein großes Interesse an den neuen Feldern wie der Schulsozialarbeit. Dort wollen viele ein Praktikum machen. Sie sind oft unbelastet von Kenntnissen der strukturellen Gegebenheiten, die auch bei uns nicht richtig vermittelt werden.

Norbert Reichel: Ebenso wenig in der Ausbildung der Lehrer*innen. Die erfahren in der Ausbildung auch nichts von kommunalen Strukturen, freien Trägern, Zuständigkeiten und Spielräumen.

Ulrich Deinet: Die Studierenden sind andererseits aber auch sehr offen. Sie kennen die alten Gräben nicht. Trotzdem war es immer ein Erlebnis, die unterschiedlichen Tagesstrukturen, das unterschiedliche professionelle Selbstverständnis, die Dienstregelungen von Lehrer*innen und Sozialpädagog*innen anzusprechen. Ich habe immer eine mir bekannte Lehrerin eingeladen, die ihren Tagesablauf, ihre Pflichten, ihre Möglichkeiten vorstellte. Das kennen Sozialpädagog*innen so nicht.

Norbert Reichel: Sozialpädagog*innen arbeiten eher anlassbezogen, während Lehrer*innen ein festes Programm erfüllen müssen. Der Stundenplan schränkt schon ein. Besondere Anlässe werden von ihnen oft als Störungen empfunden.

Ulrich Deinet: In einem Modellprojekt in Remscheid hatte eine Einrichtung der Jugendhilfe das Projekt „Pausenradio“ vorgeschlagen. Die Schule fand das gut. Der Anbieter der Jugendhilfe wollte die Lehrkräfte dann in der Vor- und Nachbereitung beteiligen. Ich habe dann als Mediator – ganz gegen meine Natur – mit der Jugendhilfe gesprochen und darauf hingewiesen, dass Lehrkräfte ihren Unterricht gestalten mussten und daher nicht so viel Zeit hatten. Man kam dann zu einem Kompromiss. Die Schule hat sich dann darauf eingelassen, eine Ansprechperson für das Projekt zu benennen.

Ich finde es nach wie vor schade, dass die beiden Ausbildungen nicht aufeinander bezogen werden. Ich war auch schon öfter Gast in den Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung wie in Nordrhein-Westfalen die Einrichtungen für die Ausbildung der Referendare fürs Lehramt heißen und habe dort die Jugendhilfe vorgestellt. Das ist auch wieder Beratung als – wie Sie sagten – Mund-zu-Mund-Beatmung.

Norbert Reichel: Strukturelle Kenntnisse wären schon hilfreich.

Ulrich Deinet: Das geht alles ein bisschen unter. Ich versuche auf einer praktischen Ebene, Studierenden zu vermitteln, dass sie beispielsweise in einer Großstadt überall eine Bezirksvertretung haben. Die sind oft viel näher an der Praxis als der Rat. Aber davon haben die meisten noch nie etwas gehört.

Norbert Reichel: Die Funktionsweise der Schulaufsicht dürfte auch vielen unbekannt sein. Beispielsweise die Frage, wofür das Schulamt der Stadt Bonn im Unterschied zum Schulamt für die Stadt Bonn zuständig ist.

Ulrich Deinet: Das betrifft alle Bereiche. Sie waren in Ihrer Zeit im Schulministerium der Einzige, der sich in der Jugendhilfe auskannte.

Norbert Reichel: Danke für das Kompliment, das näher betrachtet natürlich gar kein Kompliment ist, zumindest nicht an das System, aber auch zeigt, wie schwierig es ist, Kenntnisse der Systeme, die mit und für Kinder und Jugendliche da sind, im Zusammenhang zu betrachten und zu verstehen.

Ulrich Deinet: So wurden Sie von außen auch gesehen. Es gab vielleicht noch ein par andere.

Norbert Reichel: Die Versäulung der Systeme ist und bleibt ein Problem. Schuljurist*innen wissen kaum etwas über Jugendhilferecht. Da war ich als Nicht-Jurist fitter, weil ich mich ständig damit beschäftigen musste. Ein großer Vorteil war natürlich, dass ich den Aufbau der OGS immerhin drei Jahre lang in der Jugendabteilung betreiben konnte.

Ulrich Deinet: Es geht noch weiter: viele an einer Schule wissen gar nicht, wer der Träger der OGS ist.

Norbert Reichel: Mein Eindruck ist, dass die OGS dennoch einen wesentlichen Schub bewirkte. Der zweite Schub war der Ausbau der Schulsozialarbeit. Allerdings war der Ausbau der OGS von Anfang an systemisch, der der Schulsozialarbeit ist es noch nicht.

Ulrich Deinet: Das Besondere an der OGS ist, dass sie ohne die außerschulischen Partner der Jugendhilfe nicht machbar ist. Es gab natürlich die Auseinandersetzungen um die Frage, ob die alten Horte oder eine rein schulische Ganztagsschule nicht die bessere Lösung waren. Die jeweiligen Schwächen waren jedoch die Stärke der OGS. Es geht nur gemeinsam. Dadurch hat sich Schule verändert. Viele haben jetzt auch verstanden, dass Schule der stärkste Lebensort der Kinder außerhalb der Familie ist, weil sie dort auch ihre Freund*innen haben. Meine Enkelin sagt immer, sie wolle so spät wie möglich abgeholt werden. Nachmittags haben die Kinder in der OGS ihre eigene Welt. Auch Erwachsene, aber andere Erwachsene. Das haben wir in Düsseldorf untersucht, das ist eine absolute Bereicherung gegenüber der vorherigen Halbtagsschule.

Norbert Reichel: Vielleicht schließen wir mit Leseempfehlungen?

Ulrich Deinet: Ich möchte die Lektüre der Dissertation von Katharina Gosse empfehlen: „Pädagogisch betreut – Die offene Kinder- und Jugendarbeit und ihre Erziehungsverhältnisse im Kontext der (Ganztags-)Schule“. Sie ist seit März 2022 Professorin an der Hochschule Düsseldorf und beschäftigt sich mit der Rolle der Jugendhilfe im Ganztag. Als zweite Empfehlung nenne ich Markus Sauerwein von der Fliedner Fachhochschule in Düsseldorf: „Rechtsanspruch auf Ganztag zwischen Betreuungsnotwendigkeit und fachlichen Ansprüchen“. Er hat sich mit dem Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz und der Qualität von Bildungssettings im Ganztag befasst.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2022, alle Internetlinks zuletzt am 3. Juli 2022. Die Rechte der Bilder liegen bei Ulrich Deinet. Es handelt sich um Bilder, die von Kindern einer Grundschule nach der Methode „Subjektive Landkarte“ gezeichnet wurden.)