Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine

Zweiter Teil: Die SF im Kampf zwischen Humanität und Barbarei

„Moderne Science Fiction ist die einzige Art der Literatur, die ständig das Wesen der uns herausfordernden Veränderungen bedenkt.“ (Isaac Asimov, in: Modern Science Fiction, ed. by Reginald Bretner, 1953, deutsche Übersetzung: HF.)

SF als Wirklichkeitsmaschine bedeutet, dass die SF neben ihren Funktionen als ausgewiesenes Unterhaltungsmedium und als Spiegel der Zeit zusätzlich in der Lage ist, selbst Wirklichkeit zu schaffen und zu gestalten. Das zeigt sich darin, dass die SF entweder ihre Topoi tatsächlich realisiert oder diese in eine neue, spezifische Ästhetik, die kulturprägend ist, umwandelt. Oft macht sie beides gleichzeitig. Das eine verkörpert sich in der handfesten Materialisierung ihrer Ideen, das andere macht sich fest in einer neuen Sprache, in neuen Symbolen, Metaphern, Stilen und einem bestimmten Ambiente mit typischen dekorativen und ornamentalen Elementen. Das alles durchzieht unsere gesamte Kultur.

Was ist Wirklichkeit?

Wirklichkeit, verstanden als strukturelles Ereignisnetz, in dem etwas eine Wirkung auf etwas anderes hat und dadurch eine Entwicklungsdynamik auslöst, bedeutet für den Menschen (als Individuum, Gruppe oder als Menschheit), dass etwas auf ihn eine Wirkung ausübt oder er etwas bei Sachen oder Lebewesen bewirkt. Die Science Fiction ist nun fraglos ein Teil dieser Wirkungsbeziehungen. Einwände wie „Es gibt keine Zeitmaschine, und es wird sie nie geben“ im Sinne von „Was die SF erzählt, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun“ gehen am Thema vorbei. Selbst wenn niemals so etwas wie eine Zeitmaschine existieren würde, ist doch schon allein die Beschäftigung mit dieser Idee und ihren möglichen Folgen „Software-Wirklichkeit“. Wie bei der Grundlagenforschung weiß man anfangs nie, wozu das alles gut sein könnte. Und wenn sich dann das intellektuelle Spiel in der Realität manifestiert, zum Beispiel in der Fahrt zum Mond, im Klon-Schaf oder im Roboter, dann haben wir echte „Hardware-Wirklichkeit“ vor uns.

Wie und in welchem Ausmaß das in, mit und durch die SF geschieht, soll nun erörtert werden, wobei es nur vordergründig um die Frage geht, welche Voraussagen der SF sich tatsächlich realisiert haben. Das ist keineswegs uninteressant, aber wichtiger ist die Frage, welche Wirkmächtigkeit die SF auf unsere Wahrnehmungen, auf unser Denken, Fühlen und Handeln ausübt und wie sie dadurch unsere Lebenswelt verändert.

Beispiele aus der deutschen SF-Literaturgeschichte von 1871 bis 1933

Es folgen nun eine Fülle von Beispielen, die meine These verifizieren sollen. Zunächst konzentriere ich mich auf zwei Themenbereiche aus der Geschichte der deutschen SF zwischen der Gründung des deutschen Kaiserreichs 1871 und der sog. Machtergreifung Hitlers 1933 (Ausnahme: siehe die Replik auf Julius von Voß).

  • Die zwei Linien des Modernismus: Im Kaiserreich und vor allem in der Weimarer Republik gab es eine Art weltanschauliche Großwetterlage, die man Modernismus nennt. Die Anhänger des Modernismus waren Menschen, die die Industriegesellschaft auf der Grundlage von Wissenschaft und Technik bejahten oder zumindest akzeptierten. Die einen wollten sie aber demokratisch-sozial ausgestalten und forderten einen fortschrittlichen Modernismus. Die anderen interessierte nur das „schneller, größer, höher, mächtiger“, eine politisch-soziale Gesellschaftsveränderung wurde hingegen abgelehnt, ja vehement bekämpft. Das war der reaktionäre Modernismus.Fortschrittlicher und reaktionärer Modernismus sind keineswegs ausgestorben. Noch heute durchziehen sie als Paradigmen den politisch-gesellschaftlichen Diskurs, einfach deshalb, weil die hinter ihnen stehenden Fragen noch immer nicht endgültig entschieden sind.
  • Social Science Fiction, zielführende Unterscheidungen und der völkische Faschismus: Das Subgenre Social Science Fiction umfasst alle politisch-gesellschaftliche SF-Zukunftsentwürfe und vereint damit Utopie und Dystopie unter einem definitorischen Dach. Dem Zeitgeist entsprechend sammelten sich in diesem Subgenre fortschrittlicher und reaktionärer Modernismus, wobei gerade für den Zeitraum des Kaiserreichs und der Weimarer Republik die Unterscheidung zwischen einer demokratisch-fortschrittlichen und einer reaktionär-faschistischen SF zielführend ist. Während der Naziherrschaft erübrigte sich das, da in diesem Regime nur eine einzige Ideologie galt.

Sehr wichtig ist der Hinweis auf den völkischen Faschismus, der in der Nazi-Weltanschauung eine zentrale Rolle spielte. Diese Richtung widersprach selbstverständlich dem fortschrittlichen Modernismus in jeder Hinsicht. Ideologiegeschichtlich interessanter ist, dass die „Völkischen“ auch den der Technik zugewandten reaktionären Modernismus bekämpften. Der völkische Faschismus lehnte die aufklärerische Moderne in toto ab und wollte das Rad der Geschichte durch eine Flucht in eine „rassereine“ Phantasievergangenheit zurückdrehen. Reaktionärer Modernismus und völkischer Faschismus trafen sich in einem ideologischen Gemischtwarenladen der Nazis, der nicht stimmig war und nur durch einen ordinären Machtanspruch verkleistert wurde.

Für die Weimarer Ära war die Kluft zwischen fortschrittlichem und reaktionärem Modernismus noch wesentlich relevanter als im Kaiserreich. Es gibt sogar zwei SF-Romane, die fast idealtypisch und symbolhaft diesen Bruch offenlegen. Das sind Utopolis (1930) von Werner Illing und Metropolis (1926) von Thea von Harbou. In Utopolis entwirft Werner Illing das Bild einer demokratischen Arbeiterrepublik, die auf höchstem wissenschaftlichem und technischem Niveau die alten Träume der Arbeiterbewegung verwirklicht hat. In Metropolis – das Buch diente dem gleichnamigen Film als Vorlage – geschieht das Gegenteil. Die Arbeiter bleiben im hypermodernen Metropolis entrechtet und ausgebeutet, versöhnen sich aber trotzdem mit ihrem diktatorischen Maschinenherrn Fredersen, weil alle an eine organische Volksgemeinschaft glauben.

Demokratisch-fortschrittliche SF – Die Gründer Julius von Voß und Kurd Laßwitz

Die deutschsprachige demokratisch-fortschrittliche SF hat eine große Tradition, die hier nur angedeutet werden kann. Deshalb durchbreche ich an dieser Stelle ausnahmsweise den von mir selbst gesetzten Zeitrahmen, um einen Autor zu würdigen, der seit fast zweihundert Jahren so gut wie vergessenen war. Erst in den letzten Jahren wurde er wiederentdeckt. Er hat es verdient, besonders hervorgehoben zu werden.

Es geht um den preußischen Offizier Julius von Voß (1768-1832), der nicht nur schon ganz früh dem Lager der Aufklärung innerhalb der SF zuzurechnen ist, sondern auch nach meinen Recherchen mit seinem Roman Ini oder Ein Roman aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert (1810) den ersten originären SF-Roman der Weltgeschichte überhaupt vorgelegt hat. Obwohl Voß selbst dem preußischen Kleinadel entstammte und eine typische Militärkarriere absolviert hatte (die er dann aus eigenem Entschluss beendete), gehörte er zu den scharfen Kritikern des Preußentums, die sich eine andere, humanere Art von Politik und Gesellschaft vorzustellen vermochten. Im Rahmen einer durchaus spannenden, heute noch gut lesbaren, aber eher konventionellen Liebesgeschichte präsentiert Voß ein Ideenfeuerwerk. Der Preuße kombiniert sein brennendes Interesse an Zukunftsfragen wissenschaftlich-technischer Art mit utopischen Politikmodellen zu einem Werk, das für sich in Anspruch nehmen kann, aus den verstreuten Versatzstücken unterschiedlicher Gattungsarten (siehe Proto-SF) ein eigenständiges Genre gemacht zu haben. Inhaltlich setzte er mit Ini den ersten Markstein im deutschsprachigen Raum für eine ausdifferenzierte Fortschritts- und Ideen-SF.

Auch wenn der Roman Ini über einen unglaublich langen Zeitraum hinweg von der Literaturkritik abgewertet oder schlicht ignoriert wurde, so ist sein Einfluss literaturhistorisch geblieben (wenn auch nur verhalten im Hintergrund). Julius von Voß steht am Anfang einer deutschen SF-Geschichte, die dem Genre bei allen schmerzhaften Verstümmelungen das unverwechselbare aufklärerische Wesen gegeben hat. Auch die miserabelsten Irrläufer können diese grundlegende Prägung nicht ungeschehen machen.

Kurd Laßwitz: Mit Beginn des Kaiserreichs 1871 betritt das SF-Genie Kurd Laßwitz (1848-1910) die öffentliche Bühne. In ihm lebt die von Julius von Voß begründete Tradition wieder auf und entfaltet sich in einem weit größeren Maße zu einem regelrechten Gedankenuniversum, das in der deutschen SF Einmaligkeitscharakter genießt. Sein Engagement für Demokratie, Meinungs- und Pressefreiheit, die Gleichberechtigung der Frau und individuelle Freiheit ist signifikant. In seiner SF-Erzählung Bis zum Nullpunkt des Seins (1871) plädiert er für eine Synthese von Wissenschaft und Kunst, im weiteren Sinn für eine Versöhnung von Aufklärung und Romantik. In seiner groß angelegten SF-Utopie Auf zwei Planeten (1897) beschreibt er – inspiriert von Schiller und der Philosophie Kants – das Ringen der globalen Menschheit um eine neue Ethik. Gerade in seiner SF ist die Selbstbestimmung des Menschen, der sich „aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) befreit hat und in Verantwortung vor der Gemeinschaft und der Natur lebt, sein Leitbild.

Doch Laßwitz brilliert keineswegs nur im Subgenre der Social Science-Fiction. Unter wissenschaftlich-technischen Aspekten ist die Laßwitz-SF eine fast unerschöpfliche Fundgrube für originellste, zum Teil weit in die Zukunft greifende Ideen. Selbst für den Cyberpunk und virtuelle Welten lassen sich bei ihm klare Spuren erkennen.

Alles, was Laßwitz nachfolgte, kann in einem bestimmten Sinn als epigonal bezeichnet werden, ohne damit andere SF-Autoren/innen und/oder die anschließende Entwicklung abwerten zu wollen. Gemeint ist, dass die Fülle dessen, was Laßwitz anzubieten hatte, einmalig war, sodass niemand, der in seine Fußstapfen trat, mit seinem umfassenden Erzählkosmos vergleichbar gewesen wäre. Ohne jeden Zweifel gab und gibt es in der Folgezeit eine ganze Reihe von großartigen SF-Werken, doch Laßwitz bleibt als SF-Generalist ein deutsches Unikat. Nicht zufällig und keineswegs falsch bezeichnet man ihn als den Vater der deutschsprachigen SF, während Julius von Voß als Großvater des Genres in seiner deutschen Ausprägung gelten kann.

Andere wichtige Namen

In dem SF-Werk Mene tekel! Eine Reise durch Europa (1893) von Arnold von der Passer (das ist Franz Lewi Hoffmann) stehen die Bewahrung humanitärer Werte und die Rettung der Vernunft unter widrigsten Bedingungen im Mittelpunkt. Bei Bertha von Suttners Das Maschinenzeitalter (1889), der ersten Friedensnobelpreisträgerin, und anderen Werken zählt neben vielen Einzelaspekten der unbedingte Friedenswille, ebenso wie bei Wilhelm Lamszus‘ Dystopie Das Menschenschlachthaus (1912), in der er bedrückend die Schrecken des ersten Technokriegs der Weltgeschichte prognostiziert. Bei Albert Daiber dominieren in Die Weltensegler (1910) und Vom Mars zur Erde (1914) die soziale Verantwortung, die Solidarität und erste ökologische Fragestellungen.

Emil Felden, seines Zeichens evangelischer Pastor, weiß in Mensch von morgen (1918) auch als gläubiger Christ, dass nicht Bibelzitate, sondern nur gesellschaftliche Veränderungen zu einem humaneren Zusammenleben führen. Friedrich Wilhelm Mader, ebenfalls protestantischer Pastor, entwirft in Wunderwelten (1911) eine erste deutsche Space Opera, die zugleich eine animierende Utopie ist. Ganz entscheidend für eine neue, bessere Welt ist der allseits gebildete Mensch. In Max Winters Die lebende Mumie (1929) findet die Zukunftsmacht der Bildung ihren angemessenen Ausdruck.

Von Hertzka bis Ri Tokko

Vielen SF-Autoren/innen ist klar, dass eine funktionierende Demokratie nur auf der Grundlage gerechter wirtschaftlicher Verhältnisse bestehen kann. Der bürgerliche Theodor Hertzka propagiert in Freiland (1890) eine neue, nichtmarxistische Polit-Ökonomie auf genossenschaftlich-antikapitalistischer Basis, die alle Menschen an der Wertschöpfung teilhaben lässt. Eine glühende Anklage gegen den Raubtierkapitalismus ist Bernhard Kellermanns stilbildender SF-Roman Der Tunnel (1913). Er kann zwar nicht mit einer utopischen Perspektive aufwarten, entlarvt jedoch mit seiner expressionistischen Kraft die weitverbreitete Lethargie gegenüber inhumanen Zuständen.

Unter dem Pseudonym Mundus greift der Schweizer Jakob Vetsch in Die Sonnenstadt (1922) den Genossenschaftsgedanken auf und sieht in vielen autonomen Gemeinschaften, die gleichzeitig eng zusammenarbeiten, die Alternative zum Kapitalismus.

Bei dem Autor Heinrich Ströbel sind es in Die erste Milliarde der zweiten Billion (1919) vom Staat gelenkte ungeheure Geldströme, die Wohlstand bringen. Francis D. Pelton (das ist Franz Oppenheimer) kreiert in Sprung über ein Jahrhundert (1934; als frühe Exilliteratur publiziert) einen liberalen und demokratischen Sozialismus. Oppenheimer hatte bis zu seiner Flucht vor den Nazis den ersten Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Frankfurt/Main innegehabt. Einer seiner Schüler, der spätere Bundeswirtschaftsminister und Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU), hat seine Ideen im Konzept einer sozialen Markwirtschaft bei deutlicher Zurückdrängung der sozialdemokratisch-sozialistischen Aspekte umgesetzt.

Eine Sonderstellung innerhalb der genannten Autorengruppe nimmt Ludwig Dexheimer ein, der sich das merkwürdige Pseudonym Ri Tokko zugelegt hatte. Er schreibt nur einen, wenn auch voluminösen SF-Collageroman mit dem Titel Das Automatenzeitalter (1930, vordatiert auf 1931). Das Werk wird kaum beachtet und fristet bis heute eine Nischenexistenz – völlig zu unrecht. Das Automatenzeitalter ist ein unglaublich reichhaltiges Kompendium aller SF-Ideen, die zur Zeit der Niederschrift in der Luft lagen. Kenntnisreich, sensibel und tiefgründig breitet Dexheimer sein SF-Panorama aus, dabei gleichzeitig eine unmissverständlich demokratisch-liberale Position vertretend. Neben Illings Utopolis, das von anderer Art ist, ist Das Automatenzeitalter die bedeutendste SF-Utopie der Weimarer Republik.

Die demokratisch-fortschrittliche Fraktion der deutschen SF-Autoren bis 1933 (Autorinnen gab es nur als Ausnahmeerscheinungen) ist in sich durchaus unterschiedlich, trifft sich aber in einer konstituierenden Grundüberzeugung. Das ist die Erkenntnis, dass eine zukünftige Gesellschaft, will sie der Menschheit eine humane Entwicklungsperspektive bieten, demokratisch und sozial sein muss. Zudem muss sie dem Individuum genügend Freiheit einräumen, damit es sich entfalten kann. Und es geht immer um das Wohl aller Menschen.

Das trifft sich nach meinem Überblick mit der interessanten Feststellung, dass sich die Science-Fiction generell und weltweit keine wirklich intelligente, innovative und sinngebende Zukunftsgesellschaft vorstellen kann, bei der diese Merkmale nicht gegeben sind. Integration, Offenheit, Bildung, Pluralität, Diversifizierung, Toleranz, Weltläufigkeit, globale, ja „kosmische“ Orientierung sind einige der Essentials, die das Prinzip ausfüllen und ergänzen.

Reaktionär-faschistische SF – Wegbereiter des Unheils und zerstörerische Neomythen

Im Lager der reaktionär-faschistischen SF von 1871 bis 1933 sah es extrem anders aus. Ein wesentliches Ergebnis der SF-Forschung auf diesem Gebiet ist, dass die grundlegenden Ideologeme des Faschismus bereits im deutschen Kaiserreich vorformuliert wurden. Dazu einige bezeichnende Beispiele für die Wegbereiter des Unheils.

Das SF-Elaborat Ein Blick nach vorn (1906) von A. Venir, das ist Christian Stephan Grotewold, erfindet den Begriff National-Sozialismus (!) und skizziert die ersten Umrisse einer entsprechenden Staatsorganisation. Ein gewisser Excelsior, das ist Karl Sigmar von Schultze-Galléra, überführt in Michael der Große. Eine Kaiserbiographie der Zukunft (1912) den Kaisermythos in den Führermythos. Aus dem altbackenen, rückwärtsgewandten Kaiser wird der charismatische Führer mit der Aura eines Messias. Ein Graf Teja, das ist Thomas Westerich, bietet mit dem rassistisch motivierten Der Abgrund. Bilder aus der deutschen Dämmerung im Jahr 2106 (1914) gleich mehrere Bestandteile des künftigen Faschismus an.

In der dort ihr Unwesen treibenden Urda-Partei inkarniert sich eine Vorform der NSDAP. Parallel dazu vermischt sich eine unterdrückte wie krankhaft verbogene Sexualität mit einem esoterisch-okkulten Mythengebräu. Beide Merkmale sind wesentliche Bestandteile der NS-Ideologie. Schließlich werden in bestimmten Maßnahmen, die im Roman greifen, sogar die Nürnberger Rassegesetze von 1938 vorweggenommen.

In der Weimarer Republik werden die im Kaiserreich vorformulierten Faschismus-Ideologeme ausgeformt, weitergeführt und radikalisiert. Rechtspopulistische Neomythen (heute gebraucht man meistens den eher unglücklichen Begriff der Verschwörungstheorie) wie die Welteislehre, die Hohlwelthypothese und der Atlantis/Thule-Mythos mit dem „arischen Herrenmenschen“ unterstützen derlei Weltsichten.

In Deutschland ohne Deutsche. Ein Roman von übermorgen (1929) von Hans Heyck werden unter anderem rassistische und antisemitische Sprachmuster vorgegeben („Verjudung“, „Verniggerung“ etc.). Rechtsextreme Intellektuelle wie Oswald Spengler (Preußentum und Sozialismus von 1919) und Arthur Moeller van den Bruck (Das dritte Reich von 1923) unterfüttern im Gestus der Social Science-Fiction die Illusion der Volksgemeinschaft und den abstrusen Willen, Geschichte rückgängig zu machen. Völkisch-faschistische Zukunftsbilder werden in Hans Grimms Volk ohne Raum (1926) und Margart Hunkels Von deutscher Gottesmutterschaft (1919) infantil aufs Papier gebracht.

Eine sogenannte linke Variante des Nationalsozialismus, auch Nationalbolschewismus genannt, versucht durch Zukunftsphantasien wie Bismarck II. (1921) von Otto Autenrieth und Revolution 1933 (1930) beziehungsweise Kampf dem Hunger (1931) von Martin Bochow durch eine demagogische Verhunzung des Marxismus keineswegs erfolglos, der Arbeiterbewegung ideologisch das Wasser abzugraben.

Der sogenannte Zukunftskrieg als Heilsversprechen

Die im Kaiserreich boomende Zukunftskriegsliteratur, die bereits alle Elemente einer deutschen Weltherrschaft und eines Rassenkriegs enthält – siehe zum Beispiel August Niemann Der Weltkrieg. Deutsche Träume (1904) und Seestern, das ist Ferdinand Grautoff, 1906: Der Zusammenbruch der alten Welt (1905) – haben nicht unwesentlich zur Kriegstreiberei beigetragen. Der deutsche Begeisterungstaumel beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 ist ebenfalls ein Resultat der hetzerischen Zukunftskriegsliteratur.

Nach dem verlorenen Krieg kühlt die Begeisterung in der Breite merklich ab. Doch unbeirrt spielen Kriegsfanatiker in der Weimarer Ära auf demselben Klavier weiter, wobei nur der Ausgangspunkt ein anderer ist. Jetzt gebietet angeblich die Rache an Frankreich einen neuen Krieg. Die Revanchismus-SF, die aufs Engste mit dem Gedanken an den faschistischen Führer verbunden ist, zum Beispiel Kommen wird der Tag! (1921) von Dietrich Arndt, das ist Roderich Müller-Guttenbrunn, verwandelt sich schnell in eine neue Form der Zukunftskriegsliteratur. Alfred Reifenbergs Des Götzen Moloch Ende (1925), Die Rettung des Abendlands (1921) von Ernst Otto Montanus, das ist Ernst Otto Melzer, Wilhelm Gellerts Tragödie dreier Weltteile (1922) und Gelb-Weiß (1932) von einem gewissen Kondor (Pseudonym nicht aufgeklärt) forcieren den Trend. In der Nazidiktatur wird das Kriegsmotiv zum beherrschenden und erdrückenden Topos.

Zusammenfassend muss festgestellt werden: Das große Verhängnis beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein irregeleiteter menschlicher Geist erfindet neue rechtsnationalistische und faschistische Mythen (deshalb auch Neomythen). Sie verdichten sich im Kaiserreich. Anfang der 1920er-Jahre beginnt der eigentliche Faschismus in Italien als identifizierbare politische Bewegung, um dann in der Nazidiktatur ihren monströsen Höhepunkt zu finden.

Zweifellos haben Teile der damaligen SF zum Verhängnis beigetragen, wenngleich sie angesichts anderer grundstürzender Bedingungsfaktoren nur als Begleiterscheinung eines Polit-Pyroklasmus zu bewerten sind. Gleichwohl sind diese SF-Anteile nicht irrelevant, da sie so manches inspirierten, was später grausam realisiert wurde. Andererseits muss unmissverständlich mit einem zähen Vorurteil aufgeräumt werden. Weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Epoche konnte von einem rechtsextremen SF-Einheitsbrei die Rede sein. Das Gegenteil war der Fall.

Das Verdienst der fortschrittlichen SF…

Wie schon im Kaiserreich so war auch in der großen ideologischen Gemengelage der Weimarer Republik der fortschrittliche Modernismus zwar der schwächere Teil, aber die Ideen einer entsprechend ausgerichteten SF haben eine bedeutend langfristigere Wirkung erzielt als die Hasstiraden ihrer Antipoden. An der Tatsache, dass wir heute trotz aller Mängel und Probleme in einer politischen und gesellschaftlichen Situation leben, die zum Besten gehört, was Deutschland je in seiner Geschichte erlebt hat, haben auch die Autoren/innen der demokratisch-fortschrittlichen SF ihren bemerkenswerten Anteil.

 …und eine Warnung: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem es kroch.“ (Bertolt Brecht)

Umso erschreckender ist, dass in einem Deutschland der 2010er und 2020er Jahre bestimmte Gruppen diese Errungenschaften wieder leichtfertig aufs Spiel setzen wollen. Fakt ist: Die AfD als faschistoide Partei mit offen völkisch-faschistischen Tendenzen reproduziert dabei nur die rechtsextremen Grundmuster, die seit dem Kaiserreich gleichgeblieben sind. Abschottungsmentalität, eine illusionäre Volksgemeinschaftsideologie, Schüren von Hass und Angst, Rassismus, eine Überhöhung des Deutschen, Verniedlichung bzw. Banalisierung der Nazi-Vergangenheit, Fake-News statt Information, Antimodernismus, Antirationalismus usw. Auch die Agitationsmuster gleichen sich. Zum Beispiel sind alle südländisch aussehenden Männer per se Verbrecher und Vergewaltiger deutscher Frauen, die selbstverständlich blond zu sein haben. In der Weimarer Republik verzichtete praktisch kein SF-Roman von rechtsaußen auf diese Stereotype.

Hans Frey, Gelsenkirchen

Der dritte Teil folgt in der nächsten Ausgabe des Demokratischen Salons

Zum Autor Hans Frey:

Der Lehrer Hans Frey war 25 Jahre lang für die SPD Abgeordneter im Landtag Nordrhein-Westfalen. Er errang regelmäßig ein Direktmandat in Gelsenkirchen. 2005 kandidierte er nicht mehr und widmete sich seiner Leidenschaft, der Science Fiction. Heute ist er einer der bedeutenden Chronisten und Experten der Science Fiction mit Verbindung zu verschiedenen Verlagen und vielen anderen Experten und Expertinnen der SF-Community.

Zur Editionsgeschichte des Essays:

Der Essay „Science Fiction als Wirklichkeitsmaschine“, © 2023 by Hans Frey, ist in seinen drei Teilen eine überarbeitete und ergänzte Fassung eines erstmalig in „Gestaltbare Zukünfte“ erschienenen Textes. Es handelte sich dabei um das Abschlussheft des innovativen Praxisprojekts „Technikzukünfte in der deutschsprachigen Science-Fiction-Literatur“, Germanistisches Institut der Ruhr-Universität Bochum. Herausgeber und Redaktion: Dr. Markus Tillmann. © 2020 by Markus Tillmann und den jeweiligen Autoren/innen; Coverillustration © 2019 by Maikel Das.

Eine ähnliche, an die Ursprungsfassung angelehnte Version erschien in DAS SCIENCE FICTION JAHR 2020, © 2020 by Hirnkost Verlag Berlin, Hrsg. Hardy Kettlitz & Melanie Wylutzki, unter dem Titel „Wie Science Fiction Geschichte macht“.

(Anmerkung: Erstveröffentlichung des zweiten Teils in dieser Fassung im Demokratischen Salon im Oktober 2023, Internetlinks zuletzt am 1. September 2023.)

Zum Weiterlesen:

Neben zahlreichen Primär- und Sekundärwerken der SF, die nicht extra aufgeführt werden, beruht der Essay im Wesentlichen auf der von Hans Frey herausgegebenen und geschriebenen Reihe „Geschichte der deutschsprachigen SF-Literatur“. Die bereits erschienenen vier Bände sind alle in Berlin bei Memoranda erschienen, lieferbar und auch als EBook über den Buchhandel oder direkt über die Verlagsadresse erhältlich. Die Bände 1 und 2 wurden 2020 mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet. Die Bände im Einzelnen:

Band 1: Fortschritt und Fiasko – Vom Vormärz bis zum Ende des Kaiserreichs 1810-1918, 2018.

Band 2: Aufbruch in den Abgrund – Von Weimar bis zum Ende der Nazidiktatur 1918-1945, 2020.

Band 3: Optimismus und Overkill – Von den Anfängen der BRD bis zu den Studentenprotesten 1945-1968, 2021.

Band 4: Vision und Verfall – Von der sowjetischen Besatzungszone bis zum Ende der DDR 1945-1990, 2023.