„Sehende Menschen machen mir Hoffnung“

Ein Gespräch mit der belarussischen Übersetzerin und Kulturvermittlerin Iryna Herasimovich

Von den Ukrainern, den Russinnen und den Belarussen zu sprechen, verdeckt aus meiner Sicht das Wesen dieses Krieges. Dies ist ein Krieg einer imperialen Macht gegen die pluralistische, freiheitliche Demokratie. So gesehen sind die Revolution in Belarus, die oppositionellen Proteste in Russland und der Kampf gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine Glieder von ein und derselben Kette. Immer wieder habe ich den Satz gehört: ‚Wie können wir euch helfen?‘ Dabei wäre die größte Hilfe, nicht mehr in den Kategorien wir und ihr zu denken.“ (Iryna Herasimovich, „Im Dazwischen“, in: Republik 9. März 2022, mit Bildern von Christian Grund)

Wer ist in Europa eigentlich wer? Wer sind „wir“, wer sind „die anderen“. Was geschieht, was geschah jenseits, das heißt im westlichen Denken immer östlich von Oder, Bug und Dnister? Sofern jemand in Deutschland weiß, durch welche Länder und an welchen Grenzen Bug und Dnister fließen. Es hat sich mit dem 24. Februar 2022 schon etwas verändert, weil man auch in Deutschland zu merken begann, dass die Warnungen aus Polen und den baltischen Staaten vor einer russischen Bedrohung, die man zuvor nicht hören wollte, sich bewahrheiteten.

Veranstaltung „Schweigen das in den Ohren brennt“ am 27. November 2022. Von links nach rechts: Iryna Herasimovich, Yirgalem Fisseha Mebrahtu, Sabina Brilo, Zmicier Vischniou, Foto: Nikita Fedosik

Manche Zögerlichkeiten in der deutschen Politik lassen sich vielleicht gerade daraus erklären, dass man es bei allen rhetorischen Bekenntnissen zur Ukraine eigentlich noch immer nicht glauben möchte, aber die Fakten sprechen eine deutliche Sprache. Doch was ist mit Belarus? Im Sommer 2020 gab es zahlreiche Berichte in den deutschen Medien über die belarussische Opposition, über den Wahlbetrug des herrschenden Diktators Aljaksandr Lukaschenka, doch mit der Zeit verschwand diese Aufmerksamkeit.

Jetzt – im Herbst 2022 – denkt man bei Nachrichten aus dem Osten vielleicht an Polen und die baltischen Staaten, vor allem aber an die Ukraine. Doch was ist mit Belarus? Darüber habe ich mit Iryna Herasimovich gesprochen, die im Jahr 1978 in Belarus geboren wurde, dort Deutsch lernte und studierte, sich in der alternativen belarussischen Kulturszene engagierte, dann aber im Jahr 2021 in die Schweiz emigrierte. Dort arbeitet sie inzwischen am Slavischen Seminar der Universität Zürich. Den Kontakt vermittelte mir Ines Geipel, die ein Interview mit Iryna Herasimovich am 6. August 2022 in der „Emma“ veröffentlicht hat. In diesem Gespräch sagte Iryna Herasimovich, dass es um mehr gehe als nur um die Frage der staatlichen Gewalt: „Meine große Hoffnung ist, dass die belarussische Gesellschaft, wenn sie überlebt, sensibler in Bezug auf jede Art von Gewalt sein wird. Nicht nur in Bezug auf die staatliche Gewalt, sondern auch in Bezug auf die private Gewalt. Das hängt ja zusammen.“

Schließlich geht es um Sichtbarkeit. Dies benennt Iryna Herasimovich am Schluss des Textes „Im Dazwischen“ als die eigentliche Aufgabe ihrer Arbeit im Exil: Diesen Text zu schreiben, war für mich ein Wagnis. Der Krieg in der Ukraine hat auch mich sprachlos gemacht. Ich bin dieser Sprachlosigkeit noch längst nicht entkommen, aber ich kann sie sichtbar machen und teilen. Vielleicht hilft das nicht nur mir.“

Büchners Woyzeck und der Weg nach Zürich

Norbert Reichel: Seit etwa einem Jahr leben Sie in Zürich. Sie sind nicht mehr nach Belarus zurückgekehrt. Sie sind Übersetzerin, Dramaturgin, Kuratorin und knüpfen in Zürich an Ihre vorangegangene Tätigkeit als Übersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Belarussische an.

Iryna Herasimovich: Ich komme aus Belarus und lebe jetzt seit etwas mehr als einem Jahr in der Schweiz. 2021 habe ich Belarus verlassen. Ich bin eigentlich nicht zurückgegangen, nachdem es zu der erzwungenen Flugzeuglandung zur Verhaftung von Roman Protassewitsch kam. Es war für mich zu riskant. Ich hatte das Gefühl, jetzt ist alles möglich. Weil ich die Ereignisse in Belarus von Anfang an kommentiert habe, habe ich beschlossen, nicht zurückzugehen. In Belarus war ich in der alternativen Kulturszene unterwegs, als Übersetzerin, als Kuratorin. Ich habe verschiedene Ausstellungen kuratiert. Ich habe mit Theaterleuten zusammengearbeitet, Projekte gemacht wie eine Theatersommerschule, auch als Übersetzerin und als Dramaturgin bei den Aufführungen mitgemacht. Das war spartenübergreifend.

Studiert habe ich in Minsk Deutsch als Fremdsprache (DaF) und Literaturwissenschaft. Ich habe ein paar Jahre an unterschiedlichen Hochschulen Deutsch unterrichtet, Deutsch als Fremdsprache. Ich war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutschlandstudien. Seit 2009 bin ich freiberuflich in Minsk tätig. Jetzt arbeite ich an der Universität Zürich. Seit dem 1. August 2022 habe ich eine Forschungsstelle im Forschungsprojekt „Kunst und Desinformation“. Ich arbeite nach wie vor auch freiberuflich als Referentin, als Autorin. Ich schreibe für verschiedene Zeitungen, bin aber vor allem Übersetzerin. Ich habe zeitgenössische Autor:innen aus dem deutschsprachigen Bereich ins Belarussische übersetzt, beispielsweise Lukas Bärfuss, Jonas Lüscher, Ilma Rakusa, Franz Hohler, viele Schweizer, daher auch meine Verbindungen in die Schweiz. Ich habe Michael Kumpfmüller, auch den Woyzeck von Georg Büchner ins Belarussische übersetzt.

Szene aus Woyzeck, Foto: Varvara und Siarhei Miadzvedzieu

Zurzeit bin ich mittendrin in einem Rechercheprojekt. Ich möchte eine Doktorarbeit über die Woyzeck-Rezeption in Osteuropa schreiben. Das ist an der Universität Zürich möglich. Mich interessiert sehr, warum der Woyzeck so in Osteuropa herumgeistert. In Belarus gab es vier Aufführungen, ganz viele in der Ukraine, in Russland, in Serbien, in Bulgarien. Ich habe selbst am Woyzeck gearbeitet, er wurde dann 2017 aber vom Spielplan abgesetzt. Der Intendant nannte das Stück ein „Teufelswerk“.

Norbert Reichel: Nannte er einen Grund?

Iryna Herasimovich: Dazu hat er nichts Plausibles gesagt. Das möchte ich bei meiner Recherche noch herausfinden, warum der Woyzeck so eine Wirkung hat. Vielleicht, weil Woyzeck so unideologisch ist? Büchner hat im Woyzeck keine ideologische Basis, er hat keinen Standpunkt, von dem aus er bewertet.

Norbert Reichel: Meines Erachtens liegt die Ideologie mehr in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Büchner entlarvt Gewaltbeziehungen, beispielsweise in den Szenen mit dem Arzt oder dem Hauptmann.

Iryna Herasimovich: Ja, das stimmt. Aber die Frage ist auch, wo ist diese Gewalt, ist sie in uns, zwischen uns? So wie Lukas Bärfuss in seiner Büchner-Rede sagte, es ist zwischen uns? Woher kommt das? Oder ist es etwas genuin Menschliches, etwas, das wir gar nicht loswerden können? Wann wird das eingeschaltet? Woyzeck ist in Osteuropa, im slawischen Raum, vor allem interessant, wenn es zu Krisensituationen kommt, zum Beispiel in der Wendezeit oder auch nach den Protesten in Belarus. Viele von den Theatermacher:innen, die sich am ersten Woyzeck beteiligt haben, haben 2020 aus Protest des Janka-Kupala-Theater verlassen. Bereits im Herbst 2020 inszenierten sie einen neuen Woyzeck, diesmal in der Regie von Raman Padaliaka. Dieser Woyzeck hatte einen unmittelbaren Bezug zu den Protesten.

Norbert Reichel: Warum gerade der Woyzeck?

Iryna Herasimovich: Ich kann die Frage noch nicht beantworten. Vielleicht, weil in diesem Stück so explizit die Frage nach Macht und Gewalt verhandelt wird. Vielleicht weil das Fragmentarische ziemlich genau den Zusammenbruch auffängt. Ich möchte natürlich auch die Übersetzungen analysieren, denn es ist eine große Herausforderung, diesen Text zu übersetzen. Es ist eine gebrochene Sprache. Was macht man mit den Lakunen und dem Fragmentarischen, den Doppeldeutungen, was ist da möglich, überhaupt wie diese Sprache funktioniert. Georg Büchner provoziert, er sticht in uns mit seinen Sätzen und befördert dabei Fragen über Fragen an das Tageslicht, die man immer wieder neu beantworten muss, aber nie vollständig beantworten kann. Eine Krise, eine gesellschaftliche wie persönliche ist die Zeit der Befragungen, vielleicht wendet man sich deswegen an Woyzeck in Krisenzeiten? Ich bin dabei, das herauszufinden.

Im Halb-Untergrund

Norbert Reichel: Darf ich fragen, wer Ihre Übersetzungen abnimmt?

Iryna Herasimovich: Das ist eine gute Frage. Ich übersetze ja ins Belarussische. Die alternative Kulturszene hat seit der Wendezeit, auch schon davor, vor allem auf Belarussisch funktioniert. Das Belarussische war in der sowjetischen Zeit eine Sprache des Widerstands gegen das sowjetische System, gegen dieses imperiale Russland, gegen die Russifizierung. Man muss auch wissen, dass Belarussisch in den 1930er Jahren künstlich an das Russische herangebracht wurde, die Texte wurden umgeschrieben, es gab neue Wörterbücher. Es gibt heute drei Varianten der belarussischen Sprache, die vorreformierte, die nachreformierte und die neue. Diese Thematik hat viele Spannungen, Reibungen. Belarussische Dialekte werden eher in den Dörfern gesprochen, ausgenommen in der alternativen Kulturszene, die eher auf Belarussisch funktioniert. Es gibt auch eine Mischvariante zwischen Russisch und Belarussisch, genannt Trasjanka vom „dreschen“, also gedroschene Sprache. Aber auch diese Situation ist nicht statisch, sondern verändert sich.

Ich habe mit kleinen unabhängigen Verlagen gearbeitet, von denen es heute kaum noch einen gibt, keinen, der ungestört arbeiten kann, auch weil alles sehr intransparent ist. Einem (Verlag) ist die Lizenz entzogen worden, bei einem anderen sind die Konten blockiert, einer war im Gefängnis, einige mussten das Land verlassen, um nicht ins Gefängnis zu kommen. Zurzeit könnte ich solche Bücher, wie ich sie früher gemacht habe, nicht mehr machen. Es waren keine großen Auflagen, aber in besseren Zeiten wurden sie ganz normal in Buchhandlungen verkauft. Nicht ganz so normal, denn die Bücher aus unabhängigen Verlagen standen viel zu oft ganz unten.

Norbert Reichel: So eine Art „Bückware“? Man musste wissen, dass es sie gibt?

Szene aus Woyzeck, Foto: Varvara und Siarhei Miadzevedzieu

Iryna Herasimovich: Ja, eher für Insider, Menschen, die sich für die unabhängige Kulturszene interessierten. Wir hatten aber auch Lesungen, an denen ganz viele Menschen teilnahmen, auch sehr unterschiedliche. Ich erinnere mich an Lesungen mit Jonas Lüscher, in Minsk, in Witebsk, dort waren wir im Rathaus. Es war ein buntes gemischtes Publikum.

Norbert Reichel: Es gab somit vor der offenkundigen Wahlfälschung und den folgenden Protesten in Belarus ein vielfältiges Kulturleben, nicht als Mainstream, aber aktiv und in den Kreisen bekannt, die sich für diese Kulturszene interessierten. Oder überschätze ich das?

Iryna Herasimovich: Im Untergrund. Es war so ein Halb-Untergrund. Immer wieder kam die Frage, darf man überhaupt mit den staatlichen Institutionen arbeiten und wenn ja wie. Zwei Positionen waren am meisten verbreitet, die einen sagten, wir wollen mit den staatlichen Institutionen gar nichts zu tun haben, die anderen wollten über die Zusammenarbeit dieses scheinbar monolithische Gebilde des Staates ein wenig lockern. Es gab natürlich auch welche dazwischen, wie auch solche Menschen, die sich nicht viele Gedanken darüber gemacht haben. Es war ja auch dort nicht so einheitlich. Man muss es sich so vorstellen, es war nicht so streng. Bei den Protesten hat man ja auch gesehen, dass viele Künstlerinnen und Künstler, die in staatlichen Institutionen gearbeitet haben, gegen die Gewalt aufgetreten sind und dann auch das Land verlassen mussten.

Ich spreche von Untergrund in folgenden Kontexten: erstens hatten wir keine staatliche Unterstützung, gerade diejenigen, die in der alternativen Szene waren, wir kannten auch die „Regeln“ nicht, und es konnte sein, dass man die „Regeln“, die man nicht kannte, verletzte, dann gab es Konsequenzen. Ich habe beispielsweise ein Projekt zu Kunst im öffentlichen Raum für das Goethe-Institut kuratiert, bei dem ein Künstler mit Würfeln mit dem Titel „Personalmonument“ arbeitete. Er wollte erforschen, wie ein Gegenstand im öffentlichen Raum, der kontrolliert ist, mit Inhalten gefüllt wird. Es waren vier Würfel, die er in der Stadt aufgestellt hatte, er beobachtete, wie die Passanten auf diese Würfel reagierten. Auf dem Oktoberplatz, auf dem Kundgebungen stattfanden, wurde er wurde verhaftet, war auf der Polizeistation, kam wieder heraus, es gab eine Gerichtsverhandlung. Er wurde sogar freigesprochen, kein Straftatbestand lag vor.

Aber durch die Reaktionen des Goethe-Instituts, das sich von dieser Geschichte eher distanziert hat, und einiger Kolleg:innen aus der Kulturszene habe ich gelernt, dass die Willkür des Staates funktioniert, in vielem gerade deswegen, weil es Leute gibt, die versuchen, alles richtig zu machen und sich rauszuhalten.

Das war 2012. Diese Situation hat für mich eine gewisse Wende markiert. Ich war von vielen Kolleg:innen enttäuscht und hatte danach viel weniger Illusionen. Ich habe verstanden, dass das Staatssystem unter anderem durch die kleinen Schritte der Menschen, durch kleine Verschiebungen so produktiv wird: jemand will nicht auffallen, ein anderer bangt um die Förderung, jemand ist überzeugt, dass man am besten vorsichtig sein soll und selber schuld ist, wenn man es nicht ist. Es sind keine großen Entscheidungen, sondern eben kleine Verschiebungen in den Einschätzungen und im Handeln, verschwiegene Konflikte, Verzicht auf die eigene Sensibilität und das kritische Denken – das alles stärkt letztendlich das System.

Norbert Reichel: Schikanen und Einschüchterungen.

Iryna Herasimovich: Ja, und auch vorauseilender Gehorsam, nicht dahinterstehen, sich die Sache schönreden, all diese Verschiebungen, diese Selbst-Manipulationen. Die finde ich ganz schlimm. Es war 2020, da war ich noch in Belarus, da habe ich Brecht übersetzt, für das Janka Kupala Theater, das jetzt auch Belarus verlassen musste, es war das Stück „Furcht und Elend des Dritten Reiches“. Es wurde auf youtube aufgeführt, dann auch mit einer richtigen Premiere in Augsburg, am Vorabend des Krieges, am 23. Februar 2022.

Norbert Reichel: Es wurde nicht in Belarus aufgeführt?

Iryna Herasimovich: Auf youtube. Der Link wird allerdings nur an bestimmten Tagen für einige Stunden zugänglich. Am ersten Abend gab es 30.000 Zuschaltungen! Ich habe die Kommentare verfolgt und habe Gänsehaut bekommen, weil die Menschen so gut die Parallelen gesehen haben. Gerade bei Brecht. Das war unheimlich und ich habe zugleich Hoffnung. Sehende Menschen machen mir Hoffnung.

Sprachspiele mit Adrenalin

Norbert Reichel: In Minsk haben Sie am Institut für Deutschlandstudien gearbeitet. Davor haben Sie an der Linguistischen Universität in Minsk deutsche Sprache und Literatur studiert. Haben Sie dort Deutsch gelernt oder schon vorher?

Iryna Herasimovich: Ich habe in der Schule Deutsch gelernt.

Norbert Reichel: Wie kam es dazu, dass Sie schon in der Schule Deutsch lernten?

Doppelportrait Iryna Herasimovich und Jonas Lüscher in der NZZ

Iryna Herasimovich: Ich bin eigentlich eher zufällig in diesen Bereich hineingerutscht. Ich bin in einem Dorf aufgewachsen. Deutsch war in der Sowjetunion eine Sprache, die in Dorfschulen unterrichtet wurde. Wir hatten russischsprachigen Unterricht, aber Deutsch als Fremdsprache. In den städtischen Schulen wurde eher Englisch als Fremdsprache unterrichtet. Deutsch war in meiner Schule Pflichtfach. Mir war klar, dass ich etwas mit Sprache machen wollte, auch etwas mit Kunst, denn ich hatte auch eine Kunstschule besucht. Ich war da unentschieden.

In Belarus ist es schon so, dass man nach der Schule ein Studium braucht. Es ist untypisch, dass man eine Zeit lang etwas anderes macht. So wurde es die Linguistische Universität. Ich habe sie allerdings nicht besonders gemocht, mich dort unwohl gefühlt, es war so hierarchisch, überhaupt nicht lebendig. Später habe ich festgestellt, man kann in einer solchen Situation nicht gut sprechen, weil man ständig korrigiert, ständig bewertet wird. Nach der Uni konnte ich nicht gut sprechen. Ich habe mich sehr unsicher gefühlt.

Norbert Reichel: Das hat sich ja nun geändert!

Iryna Herasimovich: Ja, weil ich deutsche Kollegen hatte, Schweizer:innen, Österreicher:innen, damit auch immer mehr Bezug, immer mehr Freunde. Ich habe viel gelesen, auch den Unterricht geschwänzt und bin in die Bibliothek gegangen. Im ersten Studienjahr mussten wir in der österreichischen Bibliothek helfen, die Bücher zu sortieren, die neu angekommen waren. Da habe ich die Konkrete Poesie für mich entdeckt, Eugen Gomringer, Ernst Jandl und andere. Die kannte ich vorher nicht. Das hat mich extrem fasziniert, was man alles mit Sprache machen kann. Ich habe mir die Seiten herauskopiert und sie hingen dann bei mir im Zimmer, weil ich das so faszinierend fand, dass es erlaubt ist, so zu schreiben. Die sowjetische Tradition, das ist das, was man so in der sowjetischen Schule mitbekommt, das ist sehr gradlinig. Man hat eine Bahn, die fährt man dann, man hat auch wenig Möglichkeiten, Sprache als Material, als etwas Greifbares auszuprobieren. Das literarische Übersetzen war für mich schon sehr früh faszinierend, aber ich habe mir nicht vorstellen können, dass ich das kann. Die Literaturübersetzer waren für mich Halbgötter.

Essay im Magazin der Münchner Kammerspiele

Es hab eine zuerst sowjetische und später russische Literaturzeitschrift, die ich richtig gut fand, sie heißt „Ausländische Literatur“, sie hatte gute Übersetzungen von ganz verschiedenen Autoren veröffentlicht. Das war für mich der Ausgangspunkt. Viel später, etwa 2005, war ich bei meiner Freundin Ute Siebert und habe bei ihr im Regal Bücher einer plattdeutschen Dichterin entdeckt, Greta Schoon. Die Bilder waren so vertraut, sie könnten so in belarussischen Gedichten vorkommen. Und ich wusste plötzlich, wie diese Gedichte auf Belarussisch sein könnten. Ich habe die Gedichte von Greta Schoon übersetzt, habe eine Veranstaltung vorgeschlagen. Wir haben über kleine Sprachen gesprochen: „Kleine Sprachen – keine Sprachen“, Plattdeutsch, Belarussisch. Greta Schoon wurde in die Ecke Heimatlyrik gedrängt, obwohl sie überhaupt nicht so ist.

Norbert Reichel: Solche Literatur kommt schnell in eine Nische, das wird dann ganz gerne so gemacht.

Iryna Herasimovich: Das sind diese Zuschreibungen. Die Zuschreibung ist dann auch die, dass man, wenn man aus Belarus kommt, sofort in so einer Nische ist, eine aus der letzten Diktatur Europas, eine von den Revolutionär:innen und so weiter.

Norbert Reichel: Und jetzt hat sich auch Russland wieder in eine Diktatur verwandelt, obwohl sich sicherlich darüber nachdenken lässt, was wir vorher gesehen haben und was nicht. Aber wie kamen Sie zu den Autor*innen, die Sie aus dem Deutschen ins Belarussische übersetzt haben?

Iryna Herasimovich: Ich habe sehr oft Autorinnen, Autoren vorgeschlagen, was die Literatur angeht. Im Theater waren es öfter Anfragen. Ich habe viele gute Sachen gemacht, Dea Loher zum Beispiel. Sie ist eine Theaterautorin, die ich sehr mag. Sie arbeitet sehr intensiv mit der Sprache, charakterisiert ihre Figuren durch die Sprache. Das kann man im Belarussischen sehr gut machen, weil die Sprache viele Register hat. Ich kann das Hochbelarussische wählen, ich kann die Dialekte wählen, ich kann sie mischen, ich kann etwas kreïren, ich kann die Trassjanka wählen. Es ist eine Sprache zwischen dem Russischen und dem Belarussischen. Das kommt daher, dass die Menschen, die aus den Dörfern in die Städte gezogen sind, vor allem in der Nachkriegszeit, versucht haben, schnell Russisch zu lernen. Das ist nicht gelungen. Sie sind irgendwann eingefroren. Es klingt sehr ungebildet. Es ist auch ein Charakteristikum, wenn man Trassjanka spricht. Aber es gibt auch manche Sätze, die man besser auf Trassjanka sagen würde.

Sie sehen, es ist immer die Spannung, wie übersetze ich, wie arbeite ich mit den Texten. Das ist etwas, was mich nicht nur als Leserin, auch als Übersetzerin herausfordert. Es muss ein Spiel sein. Ich will versuchen, das Gleiche in meiner Sprache zu machen. Ob ich das schaffe oder nicht. Es ist immer mit etwas Adrenalin verbunden.

Feministische Bilder – feministische Wirklichkeiten

Norbert Reichel: Sie konstruieren mit der Übersetzung vielleicht auch jeweils eine andere Wirklichkeit. Das ist mir schon bei der Lektüre Ihres Essays „Die Kraft des Unwissens“ in dem Buch „Belarus – Das weibliche Gesicht der Revolution“ (edition. fotoTAPETA_Flugschrift, 2020, 2021 in einer zweiten Auflage erschienen) aufgefallen. Sie deuten die Konstruktion einer Wirklichkeit an, bei der niemand weiß, wie sie mal aussehen wird und auch nicht, wie man sie – von innen wie von außen gesehen – verstehen soll. Ein Punkt ist das Thema Feminismus. In dem Buch hat mich auch ein Essay von Irina Solomatina mit dem Titel „Die Revolution hat kein weibliches Gesicht“ beeindruckt. Das passte gut dazu, dass ich wenige Tage zuvor das Buch von Olga Shparaga „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht – Der Fall Belarus“ gelesen hatte (Berlin, edition suhrkamp, 2021). Zwei Titel, die sich widersprechen? Oder zeigen sie vielleicht zwei Seiten einer Medaille? Über das Thema des Feminismus in der belarussischen Revolution – oder wenn man so will – Revolte lässt sich ja auch sehr unterschiedlich nachdenken.

Iryna Herasimovich: Ich glaube, das ist auch sehr uneindeutig. Es wird sehr wenig beachtet, dass in Belarus wie bei jeder Krise sehr unterschiedliche Aspekte sichtbar geworden sind. Es ist sehr ambivalent. Einerseits: die Frauen waren auf der Straße. Ja, sie waren auf der Straße. Die Motivation, auf die Straße zu gehen, war sehr unterschiedlich. Wir finden Frauen, die aus feministischen Motiven auf die Straße gehen, wir finden aber auch Frauen, die für ihre Männer gehen. Es ist sehr vielfältig.

Norbert Reichel: Inwiefern?

Iryna Herasimovich: Weil die Wirklichkeit so unterschiedlich ist. Es gibt in Belarus Feministinnen, auch sehr traditionell gesinnte Frauen. Sviatlana Tsikhanouskaya hat Frauen angesprochen, die sehr traditionell gesinnt sind, geradezu archaisch. Sie sagte ursprünglich, ich beteilige mich an dieser Wahl, weil ich meinen Mann liebe.

Norbert Reichel: In Deutschland machten ihr das manche zum Vorwurf, sie habe nicht das richtige feministische Bewusstsein.

Iryna Herasimovich: Ich würde ihr feministisches Bewusstsein auch in Frage stellen. Ich habe aber keine Antwort. Ich sehe nur, dass es komplexer ist. Ich mag auch gar nicht die Rede von den schönen Frauen von Belarus. Es ist doch egal, wie sie aussehen.

Norbert Reichel: Und was heißt schon „schön“? Man geht dem Frauenbild eines Lukaschenka sogar noch auf den Leim. Das ist Verkitschung. So ähnlich wie in manchen Hollywood-Filmen, wenn dort eine Jüdin vorkommt. Liz Taylor spielte einmal eine Jüdin, da war sie die „schöne Jüdin“. Und diese Verkitschung, die in diesem Fall nur die Kehrseite von Antisemitismus ist, gab es nicht nur dort. So war das dann mit den belarussischen Frauen, die in den westlichen Medien präsentiert wurden. Das Gegenbild wäre dann eine Frau mit Maschinengewehr gewesen, genauso klischeehaft.

Iryna Herasimovich: Genau. Kein Klischee kann die Wirklichkeit abdecken. Ich wollte nur sagen, es ist auch so, dass es diese Frauen, die diesem Klischee entsprechen würden, tatsächlich gab. Es gab diese Frauen, die barfuß mit offenen Haaren demonstrierten, aber es gab auch andere. Aber so ist die Presse: die interessiert sich viel zu oft für eindeutige Bilder und Erzählungen, die leicht Emotionen hervorrufen und eigentlich nach den Mustern der Pop-Kultur funktionieren. Ich finde das entsetzlich. Einerseits kann man natürlich nicht alles wissen, es ist auch diese Aufmerksamkeitsökonomie, aber anderseits: diese Selbstverständlichkeit, mit der diese Klischees verbreitet werden. Es gibt manche Journalisten, die dann von diesen Klischees ausgehend von oben herab die Fragen stellen. Da möchte man sich die Ohren zuhalten. Beispielsweise die Frage, sind denn alle Männer für Lukaschenka? Naja, okay (schaut ziemlich widerwillig). Kann man sich irgendein Land vorstellen, in dem ALLE Männer oder Frauen für oder gegen etwas wären? Wie kann man so eine Frage nur formulieren? Das geht nur, wenn man sich nicht wirklich einen lebendigen, realen Raum vorstellt, sondern auf der Ebene von flachen Bildern bleibt. Das ist für mich ein Denken aus dem Kalten Krieg, wo man in binären Oppositionen denkt, es gibt den Westen, es gibt den Osten. Und wenn man sich mit dem Osten beschäftigt, muss es klare Konturen haben. Aber wenn es etwas komplexer wird, ist die Presse viel zu oft überfordert.

August 2020

Norbert Reichel: In Ihrem Text, den ich eben genannt habe, haben Sie versucht, die genannten Klischees zu dekonstruieren. Darf ich fragen, wie Sie die Zeit erlebt haben?

Der leere Oktoberplatz in Minsk, Copyright: Mikhail Gulin

Iryna Herasimovich: Vor den Wahlen gab es große Begeisterung. Viele hatten auch große Hoffnung, dass sich die Situation tatsächlich verändern kann. Es war aber auch sehr angespannt. Im Westen ist auch nicht wirklich angekommen, dass sich die alte Opposition an den Wahlen kaum beteiligt hatte, weil sie die Gefahr erkannten, dass Russland die Situation beeinflussen kann. Die Einstellung zu Russland war ein heißes Thema von Beginn an. Die einen wollten den großen Nachbarn nicht wirklich wahrnehmen und betonten, das sei interne belarussische Angelegenheit. Die anderen fanden dieses Ausblenden völlig naiv und machten darauf aufmerksam, dass Russland keineswegs auf seinen Einfluss in Belarus verzichten wird. Immer wieder gab es im Freundeskreis gerade unter Künstlern Konflikte, weil die einen in dieser Euphorie waren und andere, die wenigsten, sehr vorsichtig waren. Ich war sehr hin- und hergerissen: Einerseits war die von Russland ausgehende Gefahr für mich sichtbar, andererseits war es klar, dass die Menschen dieses System satthatten. Wie satt die Menschen diese Macht haben, ist mir bei den Schmarotzerprotesten 2017 klar geworden.

Norbert Reichel: Lukaschenka wollte alle Menschen, die nicht arbeiteten, enorm hoch besteuern.

Iryna Herasimovich: Ich habe das sehr genau wahrgenommen, weil ich eine deutsche Journalistin als Dolmetscherin begleitet habe. Mir war klar, das legt sich nicht. Es ging um die letzte Würde, es war die Not, es ging so nicht weiter. Die meisten Menschen waren nicht ideologisch angehaucht, es gab keine Programme, sondern eben die Not am eigenen Leben, die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann. 2020 kam die Pandemie dazu. Es wurde unübersehbar, wie wenig der Staat sich um die Menschen kümmert. Die Menschen haben sich aber sehr gut selbst organisiert. Die Tage um die Wahl herum: ich bin wählen gegangen, obwohl klar war, es sind gefälschte Wahlen. Ich habe im Dorf, wo ich ein Haus habe, meinen Wahlzettel abgegeben und in diesem Dorf soll offiziell Tsikhanouskaya gewonnen haben. Die drei Tage nach den Wahlen waren ein Horror. Wir hatten kein Internet, der Mobilfunk war überlastet, wir wussten nicht, wo die Menschen sind, was vor sich geht. Es gab große Unsicherheit.

Belarussische Auslage im Berner Buchladen zum Zytglogge, Foto: privat

Ich habe die Ereignisse, die Situation, den Kontext kommentiert. Mein erstes Interview war am 10. August 2022 und die Journalisten vom Deutschlandfunk haben mir von Berlin aus erzählt, was in Minsk läuft. Weil sie die Nachrichten lesen konnten, die ich wegen des fehlenden Internets nicht lesen konnte. Es erscheint mir jetzt fast heldenhaft, damals war ich mir der Gefahr doch nicht ganz bewusst. Ich war mit Künstlern zusammen, bei künstlerischen Aktionen. Das Nein zur Gewalt war eindeutig und entschieden, es war eine besondere Ernsthaftigkeit in jedem Gespräch, sie lag in der Luft, andererseits war das wie Karneval, die Heiterkeit, der Aufschwung, die gefühlte Umkehrung der Machtverhältnisse.

Es waren dann auch viele dabei, die vor den Wahlen nicht dabei waren. Auch viele, die an staatlichen Kulturinstitutionen arbeiteten, die Musiker:innen aus dem Opernhaus, ein staatlich subventioniertes Haus, sie leben gut, sie haben gegen die Gewalt gesungen, auch das Janka Kupala Theater, wo dann später Brecht inszeniert wurde, fast das ganze Ensemble hat gekündigt, weil sie gegen die Gewalt aufgetreten sind. Das war ein staatliches Theater. Es macht mir für die Zukunft schon Hoffnung, dass die Toleranzschwelle für Gewalt so niedrig ist, dass die Leute bereit sind, gegen die Gewalt aufzustehen.

Ich war September, Oktober, bis etwa Mitte November in der Stadt. Es wurde immer düsterer, immer gefährlicher. Ich habe irgendwann verstanden, dass ich nicht arbeiten konnte. Wenn Sie beim Einkaufen immer an ein paar Patrouillen vorbeikommen, können Sie nicht an einem Text arbeiten. Die Stimmung war beklemmend. Ich bin dann ins Dorfhaus gefahren und habe dort überwintert.

Exil

Norbert Reichel: Wie weit ist das von Minsk entfernt?

Iryna Herasimovich: Etwa 300 Kilometer. Es ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Es war eigentlich gar nicht für einen längeren Aufenthalt geeignet. Ich habe erst einmal mit Holz geheizt. Aber ich habe mich etwas sicherer gefühlt und konnte arbeiten. Im März 2021 war ich dann in Deutschland und habe dort an einer Diskussion teilgenommen, in Bonn in der Bundeskunsthalle. Ich weiß noch, wie ich auf dem Flughafen in Minsk nach der Diskussion ankam. Es sind schon Leute auf dem Flughafen verhaftet worden. Ich stand da mit laufendem Handy bei der Kontrolle, eine Freundin war mit mir verbunden, damit man weiß, falls ich verhaftet werde. Das war kein gutes Gefühl. Das Leben in ständiger Angst tut nicht gut.

Mit Valerian Maly im Literaturhaus Zürich, Foto: privat

Ich brauchte eine Auszeit und das Übersetzerhaus Looren in der Schweiz, mit dem ich seit einigen Jahren verbunden bin, gab mir diese Möglichkeit. Mitten in diesem Arbeitsaufenthalt kam es zu der gezwungenen Flugzeuglandung, die Situation ist noch beklemmender und unübersichtlicher geworden, und ich habe mich spontan dafür entschieden, nicht zurück nach Belarus zu gehen. Ohne Unterstützung von Kolleg:innen und Freund:innen in der Schweiz wäre das natürlich undenkbar, ich kann mich glücklich schätzen, dass ich diese Menschen um mich herum in dieser Zeit hatte. Wieder mal konnte ich mich davon überzeugen, wie wichtig, ja tragend für unser Leben die Verbindungen von Mensch zu Mensch sind. Ein Jahr konnte ich im Übersetzerhaus bleiben, seit Anfang Juli 2022 hatte ich eine Wohnung in der Nähe von Zürich.

Jetzt lebe ich wie in zwei Realitäten, die füreinander kaum durchlässig sind. Ich versuche das zusammenzustricken, aber das ist (sie spricht emotional sehr angefasst) eine große Herausforderung.

Norbert Reichel: Thomas Mann hat in seinem Exil in Pacific Palisades gesagt, wo er sei, da sei die deutsche Kultur.

Iryna Herasimovich: Und Lion Feuchtwanger schrieb, Exilerfahrungen können stärker machen oder schwächer. Das kann ich bestätigen. Es kommen so viele Entscheidungen hinzu, die man sonst nicht kennt. Man hat keine Routine, man hat keinen Alltag. Aber wir hatten auch in Belarus überhaupt keine Routine, keinen Alltag. Diese Situation seit etwa drei Jahren, in der wir ohne Routine, ohne Alltag leben, ist schon sehr belastend.

Norbert Reichel: Haben Sie Kontakt zu anderen Menschen, die aus Belarus geflüchtet sind?

Iryna Herasimovich: Ich habe Kontakt zu engen Freunden, weniger zu Diasporas. Einerseits machen sie einiges für die Sichtbarkeit von Belarus, andererseits ist solch eine Sichtbarkeit nach meinem Gefühl oft plakativ, dekorativ, befasst sich nicht mit den Widersprüchen.

Norbert Reichel: Das kann ich nachvollziehen. Es ist dann wieder diese Verkitschung, von der wir sprachen, auch wenn sich diese Verkitschung mehr noch in der Rezeption geschieht als bei denen, die ihr Gegenstand sind. Das ist meines Erachtens auch ein Problem des weiteren Schicksals der Proteste von 2020 im Westen. Inzwischen gibt es noch das ein oder andere Interview mit Sviatlana Tsikhanouskaya, aber das war es dann auch. Im Westen herrscht doch inzwischen große Gleichgültigkeit. Belarus spielt eigentlich nur noch eine Rolle als Vasallenstaat Putins. Wer dort in den Gefängnissen sitzt, wer ins Exil musste, wer sich verstecken muss, all das ist in den westlichen Medien kaum Thema, zumindest nicht in den Medien des Mainstreams. Es gibt zum Glück ja durchaus auch einige sehr interessante Bücher, die hoffentlich von vielen Menschen gelesen werden, beispielsweise „Die Frauen von Belarus – Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit“ von Alice Bota, (Berlin Verlag 2021).

Mit Lukas Bärfuss und Artur Klinaũ in Minsk, Foto: privat

Iryna Herasimovich: Das ist ein gutes Buch. Ein anderes sehr gutes Buch, das ich sehr wichtig finde, ist das Buch eines guten Freundes von mir, von Artur Klinaũ, „Acht Tage Revolution“ (die deutsche Ausgabe erschien 2021 in der edition suhrkamp).

Norbert Reichel: Zurzeit droht allen, die sich kritisch gegenüber der belarussischen Regierung äußern oder bei Lukaschenka den Eindruck erwecken, sie täten dies, Verhaftung, Folter, Gefängnisstrafen.

Iryna Herasimovich: Nicht nur, wenn jemand etwas macht. Manchmal ist es einfach Pech, zum Beispiel weil jemand eine ungünstige Farbkombination trägt. Viele werden wegen ihrer Kommentare im Internet verhaftet. Es ist wirklich absurd: zuletzt behauptete jemand, der verhaftet wurde, er habe im Auftrag des Geheimdienstes gehandelt, aber er wurde trotzdem zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Und man weiß nicht, was von all dem wahr ist.

Norbert Reichel: Ist es möglich, die Zeit vor der Auflösung der Sowjetunion und die Zeit danach, auch die heutige Zeit miteinander zu vergleichen?

Iryna Herasimovich: Jein. Das sind völlig verschiedene Situationen, auch weil wir heutzutage Internet haben. Dessen Bedeutung dürfen wir nicht unterschätzen, nicht für die Vernetzung, nicht für die Literatur. Die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Räumen sind ohnehin viel stärker. Aber ich möchte sagen, dass damals in der sowjetischen Zeit mehr möglich war als heute, damit meine ich die späte Sowjetunion, nicht die stalinistische Sowjetunion. So krass wie heute war es nicht. Es ist heute viel brutaler.

Norbert Reichel: Gibt es noch Ausweichmöglichkeiten?

Iryna Herasimovich: In Belarus ist das gar nicht möglich. Ich beobachte jetzt, dass eine massive Zerstörung des Kulturraums Belarus im Gang ist. Andererseits stimmt die Auffassung, dass alle ausgereist sind, nicht. Viele sind noch im Land und arbeiten auch im Land. Es ist ihnen gegenüber nicht gerecht zu sagen, dass alle ausgereist wären, die gegen das System sind. Die, die dageblieben sind, sehen ihre Arbeit auch als eine Art Widerstand. Ich kenne einige solche Menschen. Ich habe gerade ein Tagebuch einer belarussischen Schriftstellerin aufgearbeitet, auch LGBT-Aktivistin. Sie wird bleiben. Sie ist immer mit der Frage befasst, soll ich gehen, soll ich bleiben.

Mit dem Verleger Zmicier Vishniou in Minsk, Foto: privat

Ich betreue zurzeit auch den belarussischen Teil des Projekts „Weiter Schreiben“. Wir haben im Juli 2022 einen Text von Zmicier Vishniou veröffentlicht. Er ist Verleger und Autor, er lebt jetzt in Berlin. Sein Verlag hat die Lizenz verloren. Wenn man einen Verlag gründet, muss man eine Prüfung beim Informationsministerium ablegen. So bekommt man die Lizenz. Das hat er auch vor Jahren gemacht. Noch vor der Revolution, vor etwa drei Jahren, hat er die Lizenz verlängern müssen. Sie haben die Lizenz verlängert, doch dann hieß es im Nachhinein, er hätte bei der Verlängerung die Prüfung noch einmal ablegen müssen. Das hatte man ihm damals nicht gesagt. So hat man ihm die Lizenz entzogen. Er hatte versucht, sich zur Prüfung anzumelden, aber er bekam die Anmeldung nicht. Jetzt möchte er den Verlag liquidieren lassen, aber sie verzögern die Liquidierung, sodass er weiter für die Räume, die Buchhandlung bezahlen muss. Er hat dafür bereits Schulden angehäuft.

Wider die „Selbstverständlichkeit des Unwissens“

Norbert Reichel: Das sind die Schikanen im Alltag, um jemanden mundtot zu machen.

Iryna Herasimovich: Ich würde schon von der Notwendigkeit sprechen, die Literatur und die Kunst zu retten. Ich arbeite zurzeit an einer Aktion, die hoffentlich in den nächsten Monaten anläuft. Ich bereite die Aktion gemeinsam mit Lukas Bärfuss und Sylvia Sasse vor, das ist die Professorin am Slavischen Seminar, wo ich arbeite. Die Aktion heißt „33 Bücher für das andere Belarus“. Wir wählen 33 Bücher aus, die in Belarus nicht erscheinen können, und wollen europäische Verlage motivieren, je ein Buch zu machen. In belarussischer Sprache. Das sind zum Teil schon gesetzte Bücher, die bei belarussischen Verlagen erscheinen sollten, aber nicht gedruckt werden können. Dabei sind auch Kinderbücher. Kinderbücher auf Belarussisch sind besonders wichtig, weil es kaum Kindergärten und Schulen gibt, in denen Belarussisch unterrichtet wird.

Das sind sehr unterschiedliche Bücher, zum Beispiel eine kommentierte Ausgabe von Ihnat Abdziralowitsch, ein ganz wichtiger Philosoph vom Anfang des 20. Jahrhunderts, auf den sich auch die Revolutionsbewegung berief, vor allem auf sein Konzept der „Fließenden Form“. Das ist eine Form, die keine klaren Konturen hat, eine Form, die sich ständig verändert, aber doch eine Form bleibt. Ein Heldenepos aus dem Mittelalter, zwei Kunstbände, vorbereitet von Artur Klinaũ, über die Kunst der 1990er und 2000er Jahre, Lyrik, Romane. Unter den ersten Büchern planen wir eine Übersetzung aus dem Ukrainischen: „Wörterbuch des Krieges” von Ostap Slyvynsky Wir haben für die Seite auch ein Logo entwickelt.

Wir sehen dieses Projekt unter anderem als Modell für andere Räume, in denen Bücher nicht erscheinen dürfen. Das wäre tätige Solidarität, denn oft sind Solidaritätsbekundungen eher dekorativ, man hängt eine Flagge auf, das sieht schön aus, bewirkt aber vielleicht doch nicht so viel.

Norbert Reichel: So wie zurzeit in Deutschland an Rathäusern und an vielen anderen Orten ukrainische Flaggen hängen. Manche haben auch ukrainische Anstecker am Revers, einige auch verkehrt herum.

Iryna Herasimovich (lacht): Einerseits ist das gut. Aber ich sehe das auch kritisch. Es erzeugt das Gefühl, wir haben schon etwas getan, wir haben uns eingesetzt, wenn ich eine ukrainische Flagge auf meinem Facebook-Konto platziere. Das hat mich schon im belarussischen Kontext geärgert, will man etwas Konkretes, dann ist das schwierig, weil die Planungen für das Jahr angeblich schon abgeschlossen sind.

Norbert Reichel: Ich nehme an, Spenden sind willkommen.

Iryna Herasimovich: Das ist ein guter Ansatz, ganz konkret zu helfen, ein konkretes Projekt auszusuchen, das man unterstützen möchte. Zum Beispiel, ich mache gerade mit zwei Kolleginnen ein Heft „Befragungen am Nullpunkt“, Interviews mit belarussischen Kulturschaffenden, auch mit Texten von Deutschen, mit Dozent:innen und Student:innen. Das ist aus einem Kurs entstanden. Es wird auf belarussisch und deutsch erscheinen. Wir haben da ein paar Spenden bekommen, über die wir uns sehr gefreut haben, weil wir dadurch ganz konkrete Möglichkeiten bekommen haben, wie einen Text mehr übersetzen zu lassen. Mit diesem Heft versuchen wir, viele Facetten des Kulturlebens in Belarus aufzugreifen, es ist mehrdimensional, nur so kann man einen Kulturraum sichtbar machen. Kein Land der Welt verdient es, monothematisch zu sein.

Kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz habe ich einen Text in der WOZ über die Frage geschrieben, ob Belarus sichtbarer wird, wenn es sich von einem weißen in einen weiß-roten Fleck verwandelt.

Die dritte vice-versa deutsch-belarussische Übersetzerwerkstatt in Kaptaruny, Foto: privat

Wie wichtig es ist, diesen auseinanderfallenden Raum zu sammeln, Erfahrungen zu fixieren, habe ich auch im Rahmen des Projektes „Minsk – City of Translators“ des TOLEDO-Programms erkannt. Als ich die Anfrage bekam, Minsk als eine Übersetzerstadt darzustellen, dachte ich zuerst, das sei nicht die richtige Zeit. Es stellte sich aber heraus, dass das Bedürfnis unglaublich groß ist, den Kulturraum in Erzählungen festzuhalten, der vom Verschwinden bedroht ist. Vielleicht retten wir so dieses Netz an Beziehungen und Erzählungen, das eine Kultur ausmacht.

Norbert Reichel: Ich befürchte, dass Belarus in der deutschen Öffentlichkeit – sicher auch in anderen westlichen Öffentlichkeiten – durch den Krieg um die Ukraine an Aufmerksamkeit verliert. Es bewahrheitet sich wieder ein alter Post-DDR-Witz: ein Mensch aus dem Osten sagt, man habe immer nach Westen geschaut, ein Mensch aus dem Westen antwortet, wir auch. Naja, jetzt schaut man auf die Ukraine, aber wo schaut man sonst hin? Vielleicht muss man aber einfach vieles wissen, was man nicht weiß, um die Blickrichtung zu ändern.

Iryna Herasimovich (lacht): Das ist genau das, was mich stört. Die Selbstverständlichkeit des Unwissens, der Ignoranz, das ist wohl etwas, das geht gar nicht (schüttelt den Kopf).

Norbert Reichel: Vielleicht muss man auch eine ganze Menge wissen um zu wissen was man nicht weiß. Beispielsweise darüber, dass es eine russische, eine belarussische Opposition gibt und wie vielfältig die ist. Selbst in der Ukraine haben wir ein differenziertes oder – besser gesagt – zu differenzierendes Bild. Da gibt es Absurditäten: wenn ich nicht mehr Tschaikowsky hören will, wie ich das in der Ukraine vielleicht noch verstehen kann, aber nicht in Deutschland, und dann Richard Wagner in Bayreuth höre, ist das schon von einer höheren Absurdität.

Iryna Herasimovich: Und vor allem bringen all die Verbote nicht viel, wenn es darum geht, weg von der Fokussierung auf die russische Kultur zu kommen. Jetzt ist aber höchste Zeit, auch andere Kulturräume in diesem Teil der Welt wahrzunehmen, andere Erfahrungen zu Sprache kommen zu lassen.

Während der Dreharbeiten zu „Minsk – City of Translators“, Foto: privat

Wenn Sie versuchen, eine Vorlesung über die belarussische Literatur zu machen, wird es Ihnen nicht gelingen, weil Sie keine Übersetzungen haben. Die Russlandlastigkeit der Slawistik in den deutschsprachigen Ländern ist ein Problem. Im diesem Semester biete ich an der Universität Zürich ein Belarussisch-Kolloquium an, mit Übersetzer-, Sprachlerngruppen, Vorträgen, auch von Belarussen. Zusammen mit vielen anderen Kolleg:innen beteilige ich mich an der Ringvorlesung mit dem Titel „Den Krieg dokumentieren: Ukraine 2014 – 2022“. Letztes Jahr war das die Ringvorlesung „Belarus bewegt”.

Was Sylvia Sasse in Zürich macht, ist beeindruckend. Das ist die Richtung, in die ich gerne gehen würde. Ich habe mir früher nicht vorstellen können, irgendwann im akademischen Bereich tätig zu sein, aber am Slavischen Seminar fühle ich mich sehr wohl, weil es eben vor allem dank Sylvia Sasse nicht nur akademisch ist, sondern immer in Verbindung mit der Lebenswirklichkeit. Das ist ein Eintauchen in die Themen und Fragestellungen, die mich eh nicht loslassen. Das so ein Eintauchen institutionell verankert sein kann, ist für mich und, ich glaube, es ist auch für viele andere ein großer Gewinn.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2022, Internetzugriffe zuletzt am 30. November 2022. Die belarussischen Namen habe ich in der jeweiligen belarussischen Fassung zitiert, nicht in der oft üblichen russischen Version.)