Selbstverschuldete Hilflosigkeit

Zum zweifelnden Umgang mit Antisemitismus bei demokratischen Eliten

„Beim ideologischen Disput der politischen Fraktionen in der Haltung zu Israel / Palästina wird über die Definition von Antisemitismus gestritten, als ginge es vor allem darum, Unschuldige vor ungerechtfertigten Antisemitismusvorwürfen zu bewahren. (…) Hinzu kommt die Weigerung, sich ernsthaft mit dem Gegenstand auseinanderzusetzen.“ (Judith Coffey / Vivien Laumann, Gojnormativität – Warum wir anders über Antisemitismus sprechen müssen, Berlin, Verbrecher Verlag, 2021)

Wenn über Antisemitismus gesprochen wird, handelt es sich in der Regel um mehrere Diskurse in einem. Ein Thema ist die Frage, wer überhaupt Antisemitismus erkennt, ein anderes die Frage, wie sich Antisemitismus wirksam bekämpfen ließe. Weitere Differenzierungen ergeben sich aus Diskursen, die von manchen direkt mit Antisemitismus verbunden, von anderen jedoch von dem Verdacht auf Antisemitismus befreit werden. Schließlich ist die Frage nach der Sensibilität für potenzielle Opfer des Antisemitismus zu beantworten. Marina Weisband berichtet in dem von ihr gemeinsam mit Eliyah Havemann verfassten Buch „Frag uns doch!“ (Frankfurt, S. Fischer, 2021), dass sie seit 2021 ihre Kette mit Davidstern nicht mehr trägt, Eliyah Havemann sagt, er verstecke seine Kippa in Deutschland unter einer Mütze. Sie sind nicht die einzigen, die sich verstecken. Deutscher Alltag!

Versuch einer Typologie von Studien zum Antisemitismus

Manche Deutsche fürchten den Vorwurf, sie wären Antisemit*innen. Manchen erscheint es wichtiger, sich vor diesem Vorwurf zu schützen als gegen den realen Antisemitismus vorzugehen. Dies gilt vor allem für die Identifikation des israelbezogenen Antisemitismus als Antisemitismus. Vielleicht liegt es nur an mangelnden Informationsmöglichkeiten? Mehr als problematisch ist in der Tat die Tatsache, dass es viel leichter ist, sich in Israel höchst differenziert über Deutschland zu informieren als umgekehrt in Deutschland über Israel. Die Hebräische Universität Jerusalem hat in einem Forschungsprojekt unter Leitung von Gisela Dachs dieses Missverhältnis untersucht. Der Historiker Michael Brenner wies darauf hin, dass in Israel jede Hochschule über ein Zentrum für Germanistik verfügt. Die Frage lässt sich natürlich zuspitzen: gibt es einfach zu wenig Möglichkeiten, sich zu informieren, oder kein Interesse?

Hilfreich wäre es in der Tat, wenn wir mehr darüber wüssten, wie die genannten Debatten miteinander zusammenhängen, wie sich bestimmte Gruppen verhalten und wie jeweiliges Gruppenverhalten das Verhalten einzelner Mitglieder dieser Gruppen prägt. In der Rubrik „Antisemitismus“ des Demokratischen Salons: habe ich verschiedene Studien vorgestellt, die meines Erachtens im Kontext gelesen ein gutes Bild über Forschungs- und Bewusstseinsstand geben. Die von mir vorgestellten Studien reflektieren die jüdische Perspektive. Dieser Aspekt wird jedoch bei anderen Studien oft kaum beachtet. Ein Blick in die Literaturverzeichnisse diverser Studien vermittelt einen ersten Eindruck.

Die Studien lassen sich im Grunde in folgende Typen aufteilen:

  • Studien, in denen antisemitische Äußerungen im Internet und in E-Mails analysiert werden: dazu gehören beispielsweise die Studien von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz sowie von Julia Bernstein.
  • Studien, die den Antisemitismus bestimmter Gruppen analysieren: dies taten David Ranan und Stefan E. Hößl für Muslim*innen, Julia Bernstein und das von Marina Chernivsky geleitete Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment für die Schule, insbesondere für Lehrkräfte.
  • Studien, die die Kontinuität des Antisemitismus belegen: zu dieser Gruppe gehören die Arbeiten von Ronen Steinke für antisemitische An- und Übergriffe in Deutschland seit 1945, oder von Samuel Salzborn zur Täter-Opfer-Umkehr und anderen Motiven des Antisemitismus.
  • Studien, die sich auf den israelbezogenen Antisemitismus beziehen, der zurzeit die gängigste Form des Antisemitismus in westlichen Ländern zu sein scheint, ausführlich zu diesem Aspekt wiederum Julia Bernstein.

Diese Studien sind durchweg qualitativ angelegt, sei es als Textanalyse (e-mails, Briefe), sei es als Interviews mit Angehörigen bestimmter Gruppen. Einen repräsentativen Anspruch formulieren die Studien nicht und dennoch ergeben sie ein erschreckendes Bild von Unkenntnis, Pauschalisierungen und Abwehr. Es lohnt sich jedoch auch, diese Studien im Kontext größerer quantitativer Studien zu bewerten wie der Bielefelder MEMO-Studie, der Bielefelder Mitte- sowie der Leipziger Autoritarismus-Studie. Diese Studien belegen durchweg eine hohe Akzeptanz bestimmter antisemitischer, judenfeindlicher und anti-israelischer Äußerungen in der Bevölkerung. Eine beunruhigende Tendenz: die Zahl der Menschen mit einem geschlossenen rechtsextremen Weltbild scheint zu sinken, es steigt jedoch die Zahl der Menschen, die „teils-teils“-Antworten geben und somit zumindest annehmen, dass das ein oder andere von den Forscher*innen vorgelegte antisemitische Item zutreffen könnte. Die eindeutige Ablehnung von Antisemitismus scheint zu sinken.

Auf der anderen Seite lassen sich bestimmte Zuschreibungen nicht eindeutig belegen. Dies gilt insbesondere für das Verhältnis zwischen anti-muslimischen Ressentiments und sogenanntem „muslimischen Antisemitismus“. Abgesehen davon, dass der Begriff des „muslimischen Antisemitismus“ einer differenzierten Betrachtung bedarf, wie sie sich beispielsweise aus den historischen Monographien von Nathan Weinstock, Omar Kamil, Bernard Lewis oder David Nirenberg ableiten ließe, überschneidet sich der Diskurs über Antisemitismus mit Diskursen über anti-islamische beziehungsweise anti-arabische und anti-türkische Einstellungen.

Möglicherweise trifft die umgekehrte Diagnose zu: während beim israelbezogenen Antisemitismus Israel Anlass für eine Umwegkommunikation bietet, mit der sich diejenigen, die Israel kritisieren, von Antisemitismus zu distanzieren glauben, bietet der Antisemitismus beim Diskurs über Muslime bzw. Menschen mit einer Familiengeschichte aus dem arabischen oder türkischen Raum oft genug Anlass, muslimisch gelesene Gruppen pauschal zu verurteilen, um sich nicht mehr tiefer mit ihrer Geschichte und ihren Einstellungen beschäftigen zu müssen. In der Debatte um die Rolle von DITIB bei der Einführung des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland wurden antisemitische Äußerungen aus Kreisen der türkischen Regierung zitiert, um den islamischen Religionsunterricht in toto zu desavouieren.

Mit diesem relativierenden Hinweis soll Antisemitismus im arabischen und türkischen Raum nicht verharmlost werden, aber die pauschale Zuschreibung von Antisemitismus verhindert, sich mit den Hintergründen und nicht zuletzt mit der Verantwortung der ehemaligen europäischen Kolonialmächte und der Nazis für den Import antisemitischer Stereotype auseinanderzusetzen, der sich dann wiederum als Re-Import in Deutschland und in anderen europäischen Ländern manifestiert. Dies wiederum führt dazu, genuin deutschen und genuin christlichen Antisemitismus beziehungsweise Antijudaismus zu externalisieren. Erstaunen darf, dass der Iran, der schon seit nunmehr rund vier Jahrzehnten droht, Israel zu vernichten, in den Debatten um den sogenannten „muslimischen Antisemitismus“ keine Rolle spielt. Möglicherweise liegt dies daran, dass die iranische Community in Deutschland nicht als Bedrohung gesehen wird, arabische und türkische Communities jedoch sehr wohl.

Konstruktivistische Zugänge zum Umgang mit Antisemitismus

Zu den Studien, die in letzter Zeit versuchen, sich der Einstellung zu Antisemitismus in ausgewählten Gruppen empirisch zu nähern, gehören die Arbeiten von Christof Wolf und Michael Höttemann. Christof Wolfs Studie „Wie Politiklehrkräfte Antisemitismus denken – Vorstellungen, Erfahrungen, Praxen“ erschien 2021 im Verlag Springer VS (Wiesbaden), Michael Höttemanns Studie „Verdrängter Antisemitismus – Eine empirisch fundierte Entwicklung des Begriffs der Abwehr als soziale Handlung“ 2022 bei transcript (Bielefeld). Christof Wolf befragte zwölf Politiklehrkräfte in Niedersachsen, Michael Höttemann dokumentiert die Ergebnisse von fünf Gruppendiskussionen und 23 Interviews mit Studierenden. Die Auswahl der Befragten hat durchaus etwas damit zu tun, dass Studierende – so Michael Höttemann – zu einer Gruppe gehören, die qua Bildung prädestiniert ist, die zukünftige Gesellschaft maßgeblich zu gestalten. Es handele sich um eine Gruppe, „aus der sich die demokratischen Eliten der Zukunft rekrutieren“. Für die Auswahl von Politiklehrkräften versteht sich dies geradezu von selbst. Sie sind Schlüsselpersonen der politischen Bildung und die Entwicklung der Positionierung ihrer Schüler*innen zur Demokratie.

Christof Wolf stellte die Frage, ob schulischer Politikunterricht seinen Doppelauftrag erfüllt, gegen Mobbing und Diskriminierung zu sensibilisieren sowie die Lernenden für ein aktives Eintreten für die demokratische Kultur in der Gesellschaft zu gewinnen, ganz im Sinne von Andreas Voßkuhle, der in seiner Rede zum Festakt „100 Jahre Volkshochschule in Deutschland“ im Jahr 2019 in der Frankfurter Paulskirche Demokratie als den zentralen Bildungsauftrag des Grundgesetzes definiert hatte. Michael Höttemann fragte in seiner Studie, wie es dazu kommen kann, dass Menschen weniger den Antisemitismus, dafür jedoch umso mehr den Vorwurf des Antisemitismus als Problem ansprechen. Beide Studien konzentrieren sich in wesentlichen Teilen auf den israelbezogenen Antisemitismus, Christof Wolf im Hinblick auf „Vorstellungen und Alltagsdidaktiken zum israelisch-palästinensischen Konflikt“, Michael Höttemann über die Vorlage des am 4. Dezember 2012 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Gedichts „Was gesagt werden muss“ von Günter Grass sowie der Berichterstattung zu diesem Gedicht im ZDF-heute-journal.

Beide Studien gehen von einem konstruktivistischen Ansatz aus. Michael Höttemann betont, dass sich seine Arbeit im interaktiven Feld von Psychologie und Sozialwissenschaften bewegt. Es geht ihm um subjektive Definitionen von Antisemitismus, um „Abwehrhandlungen“, „Umwegkommunikation“, eine „Anti-Semitisierung Israels“ mit den bekannten Vergleichen der israelischen Politik mit dem Nationalsozialismus. Werden Muslime des Antisemitismus geziehen, lässt sich „Externalisierung von Antisemitismus zur Einschränkung der Antisemitismuskritik“ feststellen. Michael Höttemann zitiert Anetta Kahane, die ein „Verleugnungssyndrom“ diagnostiziert.

Christof Wolf begründet seinen sozialkonstruktivistischen Ansatz mit der Frage, wie in einer und aus einer Gesellschaft bestimmte Einstellungen entstehen. Wer Praxis und Wirkung des Politikunterrichts bewerten möchte, sollte berücksichtigen, welche Einstellungen und welches Wissen Lehrkräfte und Schüler*innen in den Unterricht mitbringen und wie diese Verlauf und Wirkungen des Unterrichts beeinflussen: „Von Antisemitismus sollte deshalb auch dann gesprochen werden, wenn im Kontext entsprechender Äußerungen zwischen ‚Juden‘ und ‚Zionisten‘ oder ‚Juden und ‚Israelis‘ differenziert wird, um letztere allerdings mit Hilfeklassischer antisemitischer Stereotype zu beschreiben.“ Der Begriff des Antisemitismus muss daher weit gefasst werden, um überhaupt eine Chance zu haben, dem Problem auf den Grund zu gehen. Sein Thema ist die „Analyse subjektiver Vorstellungswelten von Politiklehrkräften über Antisemitismus (unter Berücksichtigung ihrer damit zusammenhängenden Handlungsroutinen)“

„Curriculare Obdachlosigkeit“

Die Kultusministerkonferenz und der Zentralrat der Juden haben in den Jahren 2016 und 2021 zwei gemeinsame Erklärungen beschlossen. Die erste Erklärung thematisierte die „Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“,  Leben, die zweite, der sich die Bund-Länder-Konferenz der Antisemitismusbeauftragten anschloss, den „Umgang mit Antisemitismus in der Schule“. Beide Erklärungen wurden in der Fachöffentlichkeit sehr positiv aufgenommen, eine Auswertung der Konsequenzen muss noch auf sich warten lassen. Die Voraussetzungen für eine nachhaltige Wirkung sind leider nicht unbedingt gut. Alarmierend ist die Feststellung von Christof Wolf, dass für den Antisemitismus ebenso wie für den Nahostkonflikt im Politikunterricht „curriculare Obdachlosigkeit“ herrsche. Es herrscht allgemeine Hilflosigkeit, weil das Thema Antisemitismus weder in der Ausbildung noch in der Fortbildung eine Rolle spielt. Es bleibt „festzuhalten, dass die Lehrer*innen zwar selten über ein Konzept zur Unterscheidung von Kritik an Israel und antiisraelischem Antisemitismus verfügen, gleichzeitig jedoch israelbezogener Antisemitismus vorwiegend bei arabischen oder muslimischen Migrant*innen verorten.“ Wer weiß, wie lange eine Revision von Lehrplänen dauert, kann sich vorstellen, wie schwer es ist, vorhandene Defizite zu überwinden.

Als antisemitisch werden in den Medien, in Schulen, in Universitäten, in der allgemeinen Öffentlichkeit in der Regel erst Mordanschläge und körperliche Angriffe identifiziert. Oft geschieht jedoch selbst dies nicht, wie das bekannte Urteil eines Wuppertaler Gerichts aus dem Jahr 2015 gegen zwei junge Männer mit palästinensischer Familiengeschichte belegt, die einen Anschlag auf die örtliche Synagoge verübten. Ihnen wurde konzediert, dass sie sich nur gegen die israelische Politik hätten wenden wollen. Mit Antisemitismus hätte dies nichts zu tun. Ähnliches gilt auch für das Erkennen von antisemitischen Bemerkungen. Christof Wolf: „Alltagsantisemitismus wird mit Verweis auf die Intention des Sprechenden häufig explizit die Relevanz abgesprochen, d.h. nur wenn eine antisemitische Formulierung mit antisemitischer Absicht getätigt wurde, gilt sie auch als antisemitisch.“ Zur Rechtfertigung reicht es dann vorzutragen, dass man doch alles andere wäre, aber eben kein*e Antisemit*in. Eine solche Selbst-Rechtfertigung geht in der Regel einher mit fehlender „Sensibilität für potenzielle ‚Opfer‘, für die die Intention einer antisemitischen Aussage im Zweifel unerheblich ist.“

Die Unsicherheit im Gespür für „antisemitische Semantiken“ führt – so Christof Wolf dazu, dass Probleme „als lediglich interpersonelle Konflikte gedeutet“ werden, ein Ergebnis, das andere Studien, beispielsweise von Julia Bernstein und dem Team von Marina Chernivsky bestätigen. So erscheint „der konkrete Umgang mit antisemitischen Vorfällen – und damit die Ebene der Intervention – eher statisch und unspezifisch“. Es herrscht oft ein belehrender Ton mit Neigung zu „Dethematisierungen, Entpolitisierungen und Relativierungen“.

Lehrer*innen fürchten offenbar schon die bloße Auseinandersetzung in einem Feld, in dem sie sich selbst um Kopf und Kragen reden könnten: „Die Mehrheit der Lehrer*innen besitzt also lediglich eine vage Vorstellung von antisemitischen Ressentiments gegenüber Israel. Ein Konzept eines ‚israelbezogenen Antisemitismus‘ ist hingegen nur in Ansätzen geläufig, zum Teil wird es auch aktiv verneint.“ Die Schüler*innen sind unabhängig von ihren Einstellungen allenfalls Objekt des Unterrichts. Selbst im Politikunterricht dominieren autoritäre Methoden, oft sogar „Sprechverbote“. „Schüler*innen würden nicht aktiv in den Unterricht eingebunden, kontroverse Diskussionen würden vermieden, Deutungen einzelner Schüler*innen als ‚falsch‘ deklariert und der Meinungsbildungsprozess würde unterbrochen (…).“

Christof Wolf spricht von „Verstrickungen in antisemitische Narrative“, die sich nicht auflösen lassen, weil Antisemitismus vor allem bei bestimmten Tätergruppen gesucht wird. Diese sind in der Regel Rechtsextremist*innen und Muslim*innen. Linker Antisemitismus, wie er sich beispielsweise seit Ende der 1960er Jahre bis hin zur BDS-Bewegung äußert, spielt nur kaum eine Rolle. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass sogenannte „Israelkritik“ auch von manchen Lehrkräften geteilt wird. Pauschale Schuldzuweisungen erleichtern offenbar das Geschäft.

Und in der Tat: wie sollen Lehrkräfte, die selbst nicht gelernt haben, sich mit einem so komplexen Thema wie Antisemitismus auseinanderzusetzen, Schüler*innen helfen, genau dieses zu tun? Mitunter hilft noch der Rückzug auf die „Vermittlung von (historischem) Wissen“, aber selbst dort, wo dies geschieht, ist dies wenig reflektiert. Und oft genug fehlt eben dieses historische Wissen weitgehend. Woher soll es auch kommen? „Antisemitismus spielt in der Politiklehrerausbildung für das Fach Politik keine explizite und bedeutende Rolle.“ Christof Wolf verweist auf eine Studie von Samuel Salzborn und Alexandra Kurth, die dokumentierte, dass die Angebote der Hochschulen so gut wie ausschließlich vom jeweiligen Interesse der Dozent*innen abhängen. Eine Systematik gebe es nicht.

Zu dieser Analyse passt Christof Wolfs Feststellung, dass es schon ein Problem zu sein scheint, Lehrkräfte zu motivieren, an einer Fortbildung zum Antisemitismus teilzunehmen. Abgesehen davon, dass Schulleiter*innen immer wieder verhindern, dass selbst Interessierte an einer solchen Fortbildung teilnehmen, wird das Thema in der staatlichen Lehrer*innenfortbildung viel zu oft unter allgemeinen Inhalten der Demokratiebildung oder der Erinnerungskultur subsummiert. So lesen wir es dann auch in diversen Berichten der zuständigen Ministerien an die Landtage, gelegentlich selbst in Berichten von Antisemitismusbeauftragten.

Ein offener Politikunterricht, der – so fordert es die 2018 verabschiedete Empfehlung der KMK zur Demokratiebildung – partizipativ angelegt ist und Reflexion fördert, gerät offenbar bei emotional und gesellschaftlich hoch belasteten Themen in den Hintergrund. „Deutlich wird hier, dass die vermuteten Fehlkonzepte als Lernhindernisse in einem top-down-Prozess korrigiert werden sollen, statt sie aufzugreifen und zum Ausgangspunkt für neue Lernerfahrungen zu machen, hin zu einem differenzierten Verstehen von Vorstellungen. Auch wenn das Beispiel aus dem Kontext der Schülervorstellungen stammt, ist es ebenso auf Erwachsene übertragbar.“

Integrationsfaktor Anti-Israel

Michael Höttemann hat mit dem Grass-Gedicht als Impuls seiner Gruppendiskussionen einen kritischen Punkt getroffen. Allein der Name von Günter Grass triggert bestimmte Reaktionen. Er wird von vielen unbeschadet der Debatten um die von ihm erst sehr spät bekannte Mitgliedschaft in der Waffen-SS nach wie vor als eine Art moralisches Gewissen verstanden. So galt er seit seinem Eintreten für die Politik Willy Brandts als moralische Instanz und Bündnispartner aller Demokrat*innen. Ein solches Image erschwert eine sachbezogene Sicht auf das Gedicht, in dem er Israel als Bedrohung für den Weltfrieden darstellt. In den Reaktionen der Gesprächspartner*innen Michael Höttemanns findet sich daher die gesamte Palette der üblichen Inhalte einseitiger Diskussionen über den Nahost-Konflikt: Siedlungspolitik, Gaza, USA als Unterstützer Israels, Kriminalisierung israelischer Gegenwehr. Palästinensischer Terrorismus ist ebenso wenig Thema wie die Drohung des Iran, Israel zu vernichten. Günter Grass scheint davon auszugehen, dass lediglich Israel über Atomwaffen verfügt, die es offenbar nach Gutdünken von Günter Grass auch einzusetzen bereit wäre. Kein Thema ist offenbar die Frage, wie der Iran mit seinem Bestreben, Atomwaffen herzustellen, den Weltfrieden gefährden könnte. Je mehr jedoch über das Thema Israel diskutiert wird, um so schwerer wird es, Alltagsantisemitismus zu thematisieren, denn „wenn Antisemitismus als exzeptionelles oder extremes Phänomen präsentiert werden kann, so sinkt die Chance, dass der ‚alltägliche‘ Antisemitismus als Gewaltproblematik erscheinen kann.“

Allerdings spielt noch eine weitere Schieflage eine Rolle: „In der Debatte (um das Grass-Gedicht) kam es demnach zu der oft beobachteten Kluft zwischen ‚veröffentlichter‘ Meinung der Vertreter*innen der demokratischen Elite und der ‚nicht-öffentlichen Meinung von Teilen der Bevölkerung (…).“ Eben diese Meinung, die nach Auffassung derjenigen, die sie äußern, nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, die dem Topos entspricht, das werde man ja wohl noch sagen dürfen, dem auch das Grass-Gedicht folgt, wird nicht weiter hinterfragt. Michael Höttemann räumt ein, dass sein Versuchsaufbau diese Ergebnisse verstärkt haben könnte. Er habe nicht – im Unterschied zu den Milgram in seinen Experimenten – Veränderungen vorgenommen, um möglicherweise gegenläufige oder zumindest relativierende Ergebnisse zu provozieren und so die Ergebnisse des ursprünglichen Versuchsaufbaus zu verifizieren oder zu falsifizieren. Es handele sich ohnehin um einen „künstlichen Kontext“, sodass es erforderlich wäre, in zukünftigen Studien tiefer zu forschen, indem Ergebnisse der Antisemitismus-Forschung als Eingangsimpuls gewählt würden.

Bei allen methodischen Vorbehalten ist die Art und Weise, wie israelkritische Reaktionen getriggert werden, höchst aufschlussreich. Eine Positionierung zu, genauer: gegen Israel scheint sich zu eignen, Menschen unterschiedlicher Auffassungen zusammenzuführen. „Die Zurückweisung anti-antisemitischer Interventionen wirkte hierbei auf die nicht-jüdischen, deutschen Teilnehmer*innen, seien sie (….) politisch orientiert oder desorientiert, nationalistisch eingestellt oder nicht, links, liberal oder konservativ – in hohem Maße integrierend.“ Es ergebe sich „ein ‚symbolic glue‘ (…), der eine gemeinsame Identität stiftet und Differenzen überdeckt.“

Israelbezogener Antisemitismus als Identität stiftendes Item? Wenn dies bei Politiklehrkräften, bei Studierenden, bei Menschen mit einer anzunehmenden hohen Bildung funktioniert, ist dies Anlass zur Sorge um die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratie. Die KMK-Empfehlungen weisen einen guten Weg, aber ob diejenigen, die Lehr- und Studienpläne schreiben, die Lehrkräfte und andere Berufsgruppen aus- und fortbilden, sich dessen bewusst sind, bleibt offen. Sie belassen es bei den wenigen Unterrichtsstunden, deren Gegenstand der Nationalsozialismus ist. Eine eindeutige antifaschistische Gesinnung soll es richten, auch wenn viele wahrscheinlich kaum zu sagen vermögen, was Faschismus beziehungsweise Antifaschismus eigentlich bedeutet: „Unser Eindruck ist, dass sich viele Linke sowie intersektionale Queer-Feminist_innen mit Antisemitismus als Ideologie und deren Auswirkungen für Juden_Jüdinnen nicht beschäftigen und einer folgenschweren Verwechslung auf den Leim gehen: Aus dem Gefühl heraus, sich mit dem Nationalsozialismus hinreichend beschäftigt zu haben, wird auch das Thema Antisemitismus als ‚bearbeitet‘ abgehakt.“

Hoffnung in Moll

In einem kurzen Essay zum Antisemitismus habe ich das Bild des Kampfes des Herakles mit der Hydra als Bild für den Kampf gegen Antisemitismus gewählt. Herakles fand eine Lösung, aber möglicherweise ähnelt der Kampf gegen den Antisemitismus eher dem ständigen Scheitern des Sisyphos. Albert Camus hat Sisyphos in „Le mythe de Sisyphe“ (1942) als letztlich ein in seinen Mühen glücklichen Menschen dargestellt, weil im Scheitern auch immer eine mögliche „Revolte“ impliziert sei, die die „Revolte“ des Menschen ist, der sich in seinem Schicksal ohne jeden Bezug zu einer Transzendenz einrichtet. Ein anderes Bild wählte Nora Bossong in ihrem Portrait der Generation der etwa in den 1980er Jahren geborenen Menschen mit dem selbst-ironischen Titel „Die Geschmeidigen – Meine Generation und der neue Ernst des Lebens“ (Berlin, Ullstein, 2022). „Ich stelle mir vor, dass er, anders als zu Camus‘ Zeiten, nicht mehr die Absurdität seines Daseins erkennt, sondern sich mit einer ständigen Gier nach Aufmerksamkeit ablenkt.“ Dieser Sisyphos wäre eher eine Gestalt wie der „Letzte Mensch“ Nietzsches, der ebenso sich nicht auf eine Transzendenz bezieht, wohl aber auf sein individuelles Wohlergehen. Ihm geht es um „die Optimierung des eigenen Lebens (…) und Bedeutung stiftet für ihn wenige die Handlung an sich, sondern ihre Verbreitung, die scheinbare Anteilnahme von möglichst vielen anderen.“

Konsumismus statt Revolte – wäre das die Alternative? Eben dieser Alternative folgen diejenigen, die das Vorhandensein von Antisemitismus leugnen. Wer auf Antisemitismus verweist, stört! Dem entsprechen eine hilflose Politik, die sich auf Gedenkveranstaltungen ihrer eigenen guten Meinung vergewissert, sowie eine ebenso hilflose Pädagogik, die jedoch die alltägliche und konkrete Gefährdung von Juden*Jüdinnen ignoriert und damit deren Ängste verstärkt. Marina Weisband: „Ich habe Angst vor Antisemit*innen. Nicht vor Muslimen. Nicht vor Linken. Ich habe Angst vor Menschen, die verschiedenen Menschen verschiedene Würde zugestehen. Und die diese Erzählung salonfähig machen könnten – und in Gesetze überführen.“ Die Debatten um das Schächtungsverbot und das Verbot der Beschneidung dürften belegen, dass es möglich ist, anti-jüdische Gesetze zu erlassen. In manchen Ländern geschah dies bereits, oft verbunden mit pauschalen Urteilen über eine religiöse Praxis, die niemand kennenzulernen bereit zu sein scheint.

Eliyah Havemann, der in Israel lebt, erklärt, „warum ich mich in Israel sicher fühle und in Deutschland nicht. Wir leben in Israel mit einer Bedrohung, die auf den ersten Blick schlimmer und größer aussieht als in Deutschland. Und wir haben auch keine Polizei, auf die wir extrem stolz sein können. Die ist mindestens genauso schlimm oder so gut wie Polizei in anderen Ländern. (…) In Deutschland ist die Wahrscheinlichkeit für einen Anschlag vielleicht kleiner als hier, aber wenn etwas Schlimmes passiert, dann ist man hier in einer viel besseren Situation als in Deutschland. Wenn man antisemitisch angegriffen wird, und sei es auch nur verbal, dann kann man in Deutschland leider davon ausgehen, dass alle anderen nur weggucken. Zu wissen, dass man von Menschen umgeben ist, die einem beistehen, erzeugt ein Gefühl von Sicherheit.“

Helfen politisch abgesicherte Programme wie das Festjahr „2021 – 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“? Sicherlich, aber wir sollten auch die Grenzen kennen. Marina Weisband spricht von einem „Sichtbarkeitsparadoxon“: „Das ist das Paradoxon der Sichtbarkeit. Ich will ja, dass es normal ist, jüdisch zu sein. Ganz alltäglich. Das ist es kaum, wenn ich das immer vor mir hertrage. Wenn ich explizit ‚als Jüdin‘ irgendwohin eingeladen werde. Und über etwas, das ganz intim zu meiner Identität gehört, zentral rede. Das Herausstellen meines Judentums macht es wieder exotisch.“ Andererseits: „Was aber unsichtbar ist, kann nicht normalisiert werden. Eine Selbstverständlichkeit entsteht durch Gerüchte und Rätselraten jedenfalls nicht. Nur durch offenen Dialog.“

Es reicht eben nicht aus, in der Öffentlichkeit über das Judentum, über Jüdinnen*Juden zu sprechen, Begegnungen anzubieten. „Wir begegnen Antisemitismus nicht mit einer Unterrichtseinheit. Wir begegnen ihm mit dem Stärksten, was Demokratie zu bieten hat.“ Auch die Umwertung der Abgrenzung zu Menschen, die anders sind, bleibt „VerAnderung“ (Julia Reuter), auch „Philosemitismus“ folgt der Logik des „Antisemitismus“. Stattdessen sollten Bildung helfen, „Menschen klarzumachen: Ihr seid schon wer.“ Ihr braucht kein Feindbild. Das was fehlt, ist „richtige Kontrolle über unser Leben – Selbstwirksamkeit (…) – viele Menschen machen in diesem Land kaum je die Erfahrung, dass es auf sie ankommt.“ Das, was Leo Baeck „das ewige Dennoch“ nannte – Andreas Nachama wies mich auf diese Formel hin –, illustriert Marina Weisband am Beispiel der israelischen Nationalhymne. Sie „heißt haTikwa – ‚die Hoffnung‘. Und sie ist in Moll. Das gibt es selten – Nationalhymnen in Moll, die dann auch noch Hoffnung zeigen.“ Dem entspricht vielleicht das Bild des Sisyphos in der Fassung von Albert Camus.

Das sind keine Patentrezepte, aber vielleicht wird das Prinzip deutlich, das eigentlich allen Bemühungen und Maßnahmen gegen Antisemitismus zugrunde liegen sollte. Im Judentum heißt dies „Tikun Olam. Das bedeutet übersetzt: ‚Verbessere die Welt!‘“ Genau dies ließe sich aus den Studien zum Antisemitismus ableiten, die ich in diesem und in anderen Essays referiert, rezensiert und kommentiert habe. Wir sollten unsere Strategie ändern, neue Wege gehen, hin zu einer Politik und einer Pädagogik, die Menschen stärkt. Damit wird der Antisemitismus nicht verschwinden, aber er wird an Anhänger*innen verlieren. Gerade bei den Menschen, die zurzeit in diversen Umfragen und Studien ihre Zustimmung oder Ablehnung von antisemitisch konnotierten Items mit „teils-teils“ beantworten.

Dr. Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: erstveröffentlichung im April 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 21.3.2022.)