Selektiver Humanismus

Ein Gespräch mit Anastasia Tikhomirova über den 7. Oktober 2023

„Ich glaubte, dass vor allem die Leute aus meinem politischen Lager von den Gräueltaten der Hamas abgestoßen wären. Stattdessen sehen sich die Juden in Israel und in der Welt schamlos im Stich gelassen.“ (Eva Illouz, Wir die Linken? in: Süddeutsche Zeitung 27. Oktober 2023)

Anastasia Tikhomirova versteht sich – wie beispielsweise auch Eva Illouz – als Linke, mehr noch: gelegentlich erklärt sie sich als „linke Zionistin“. Sie hat sich intensiv mit dem linken Antisemitismus befasst, der oft unter dem Deckmantel des Antizionismus erscheint. Sie kämpft mit ihren Texten, ihren Auftritten auf Podien, ihren Moderationen dafür, dass sich die Linke auf ihre ursprünglich humanistischen Werte besinnen möge und schwimmt damit gegen manchen Strom. Das Buch, das sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Daniel Schulz am 17. Oktober 2023 in der taz-Kantine vor über 100 Besucher:innen vorstellte, trägt daher den treffenden Titel „Stromlinienunförmig“. Das Buch erschien beim edition assemblage Verlag. Es ist eine Sammlung ihrer journalistischen Arbeiten, unter anderem aus taz, ZEIT Online, Tagesspiegel, Jungle World, Analyse & Kritik, Unaufgefordert. Ihre Themen sind der Krieg Russlands gegen die Ukraine, Minderheiten in der Russischen Föderation, linke Verirrungen gegenüber Israel und Russland, linker Antisemitismus, Feminismus, Rechte von Minderheiten in Deutschland, Clubkultur sowie eine offene(re) Drogenpolitik.

Mit guten Gründen wurde Anastasia Tikhomirova im Jahr 2023 unter die TOP 30 der unterdreißigjährigen Journalist:innen gewählt. Wer mehr von ihr lesen möchte, schaue auf ihre Internetseite oder in die Dokumentation eines ersten Gesprächs im Demokratischen Salon. Am 23. Oktober wollten wir eigentlich über die Kontakte Anastasia Tikhomirovas zu russischen Oppositionellen, insbesondere zur feministischen Opposition, sprechen, doch das Pogrom vom 7. Oktober veränderte alles, so auch unsere ursprünglichen Pläne.

Am Morgen des 7. Oktober

Norbert Reichel: Wie hast du den 7. Oktober erlebt?

Anastasia Tikhomirova: Ich bin am 7. Oktober aufgewacht, ein Samstag, so gegen 9 Uhr. Ich checkte die Nachrichten und war schockiert. Ich habe das Video mit Shani Louk gesehen, ihren Körper, der leblos auf dem Pickup lag, der durch Gaza paradiert wurde. Ich musste weinen. Es sind wohl die schlimmsten Bilder, die ich je gesehen habe. Ich habe meinen jüdischen und meinen israelischen Freund:innen geschrieben und gefragt, wie es ihnen geht. Ein Freund wollte an dem Tag nach Israel fliegen und hat seinen Flug sofort umgebucht. Zwei seiner Cousins wurden ermordet. So ging es den ganzen Tag. Ich komme immer noch nicht vom Handy weg, mache vielleicht das, was man „Doomscrolling“ nennt.

Der Schock vom Samstag verwandelte sich dann in eine produktive Phase. Ich habe investigativ recherchiert, die Lage kommentiert, kritisiert, Texte geschrieben, mit Überlebenden gesprochen, gerade von diesem Festival, mit Angehörigen von Menschen, deren Verwandte nach Gaza verschleppt wurden. Die Gespräche ließen mich nicht los. Ich merke, wie mir das zusetzt. Ich habe dies für mich persönlich als Journalistin mit der Woche nach dem russischen Angriffskrieg verglichen, wegen der Nachfrage nach Kontakten, nach Personen, die sich auskennen. Ich studiere Antisemitismusforschung, ich war schon oft in Israel. Daher konnte ich aushelfen. Es fällt mir persönlich aber schwer mich abzugrenzen. Meiner Psyche geht es wegen der Beschäftigung mit dem Thema nicht gut, aber ich kann mich auch nicht davon losreißen. Ich habe das Gefühl, auch gegen die Propaganda der Hamas und der Islamisten, die ich fast noch schlimmer finde als die russische Propaganda, nicht anzukommen. Und gleichzeitig fühle ich mich verantwortlich, dagegenzuhalten, Aufklärung zu betreiben, medial, auf sozialen Medien.

Anastasia Tikhomirova bei der Vorstellung ihres Buches in der taz-Kantine. Screenshot.

Norbert Reichel: Ich erlaube mir, auf einige der eindrucksvollen Texte zu verweisen, in denen du die Schicksale der von der Hamas entführten Menschen dokumentiert und protokolliert hast, so am 13. Oktober für die taz das Schicksal der IDF-Soldatin Karina Ariev in einem Gespräch mit ihrer Schwester Sasha, am 10. Oktober für die ZEIT ein Gespräch mit dem Unternehmensberater Ido Dan, der seit dem 7. Oktober „fünf Familienmitglieder: Erez, neun Jahre. Noya, zwölf Jahre. Sahar, 16 Jahre. Ofer, 53 Jahre. Carmella, 80 Jahre“ vermisst. In einem weiteren Artikel dokumentierst du mit Benjamin Hendrichs für die ZEIT das Schicksal von Shani Louk, von der wir inzwischen wissen, dass die Hamas sie ermordet hat. Beeindruckend auch die in der ZEIT veröffentlichte Investigativrecherche zum Hamas-Angriff auf das Supernova-Festival, an der du mitgearbeitet hast. Am 12. Oktober beschreibst du in der taz die Gewalt gegen Frauen als Waffe (nicht nur der Hamas). Einen Einblick in die Stimmung in den jüdischen Gemeinden gibst du gemeinsam mit Manuel Bogner und Christian Barth für ZEIT online am 18. Oktober 2023, Titel: „Wir werden uns nicht vertreiben lassen“.

Zu den Zahlen: neben den etwa 1.400 Ermordeten und etwa 240 Entführten mussten etwa 500.000 Israelis aus dem Süden Israels ihre Häuser verlassen und mussten in Hotels und anderen Einrichtungen im ganzen Land untergebracht werden. Auch aus Dörfern an der libanesischen Grenze wurden Menschen evakuiert.

Anastasia Tikhomirova: Auf dem Festival waren viele Leute in meinem Alter. Die Überlebenden fühlen sich alleingelassen, sie können nicht in Ruhe trauern. Sie müssen stattdessen einen Online-Krieg führen, gegen die Lügen, die ihr Leid instrumentalisieren oder leugnen. Ich höre gerne Techno und besuche solche Festivals. Es war total krass, ihnen zuzuhören, wie sie manchmal auch ganz normal, fröhlich und lustig schienen, Fotos von sich beim Feiern zeigten, dann wieder weinten. Ich musste mit ihnen weinen. Das gilt auch für die Familien, deren Verwandte als Geiseln entführt wurden.

Solidarität mit Israel?

Norbert Reichel: Wie erlebst du die Situation in Deutschland? Hier gibt es viele Menschen, die sich mit den Palästinenser:innen solidarisieren, die Israel vorwerfen, es verstoße gegen das Völkerrecht. Manche reden von „Völkermord“, beispielsweise die internationale Sektion von Fridays for Future, aber nicht nur die. Verstörend das Schweigen der Clubszene. Sie sagen keinen einzigen Ton zu Hamas.

Anastasia Tikhomirova: Die Solidarisierung mit Palästinenser:innen ist ja erst einmal richtig. Diejenigen, die diese einfordern, sind aber oft Leute, die selektiven Humanismus beklagen und fragen, warum fühlt ihr nur mit den Jüdinnen:Juden und nicht mit den Palästinenser:innen? Darauf antworte ich: wer ist denn hier selektiv humanistisch? Wer beschweigt denn die Massaker an israelischen Zivilist:innen? Wer versucht zu kontextualisieren, zu rechtfertigen oder gar zu leugnen? Gerade in linken Kreisen findet so etwas statt, ähnlich wie nach dem russischen Angriffskrieg. Ich hatte gehofft, gedacht, dass vielleicht das, was geschehen ist, irgendwie eine Zäsur darstellt, die dazu führt, dass man die eigene Ideologie, die eigene Haltung hinterfragt. Bei einigen ist das sicherlich auch passiert. Aber nicht bei den großen antirassistischen, antikolonialistischen Stimmen, die schon immer propalästinensisch und damit verbunden antiisraelisch waren, die das Existenzrecht Israels oft auch negieren. Von denen kam erst einmal Stille. Etwa so: ja die getöteten Zivilist:innen, das ist schlimm, aber …. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass Linke die Propaganda der Hamas teilen. Das habe ich dann aber in Jungle World kommentiert.

Viele dieser Personen sind bekannte Stimmen im wissenschaftlichen Diskurs oder der Kunst- und Kulturbranche. Zwei Wochen nach den Massakern fühlen sie sich wieder stark und berechtigt, die Massaker für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren und von selektivem Humanismus zu sprechen, obwohl sie genau das betreiben. Natürlich ist es wichtig, auch darauf hinzuweisen, dass die deutsche Öffentlichkeit ebenfalls eine selektive Antisemitismuskritik betreibt, damit einen selektiven Humanismus. Wir haben Personen wie Friedrich Merz, der Aiwanger in Schutz nahm, jetzt aber Abschiebungen fordert und verlangt, dass keine neuen Geflüchteten mehr aufgenommen werden sollen, weil die ja antisemitisch wären. Das zeigt, wes Geistes Kind sie und andere sind. Der Antisemitismus von Migrant:innen wird skandalisiert, man legitimiert damit auch den eigenen Rassismus. Wenn es aber um einen deutschen, einen völkischen, einen Post-Shoah-Antisemitismus geht, ist man nicht bereit, diesen anzuerkennen, sondern sieht jemanden wie Aiwanger als Koalitionspartner.

Norbert Reichel: Mal abgesehen von der Causa Aiwanger und all den damit verbundenen widerlichen Geschmacklosigkeiten und der ihm leider gelungenen Täter-Opfer-Umkehr: deutscher Antisemitismus ist irgendwie auf einmal kein Thema mehr! Aiwanger und viele andere schauen auf Muslim:innen, als wären die alle Hamas-Anhänger:innen.

Anastasia Tikhomirova: Das sehe ich auch so. Gleichzeitig gibt es Zahlen, die nicht nur von antirassistischen linken Leuten in Umlauf gebracht werden, die besagen, dass 93 Prozent aller antisemitischen Angriffe rechtsextremistisch wären. Auch da muss ich widersprechen. Leute, die sich gerne polizeikritisch äußern, übernehmen unkritisch eine Polizeistatistik, die schon sehr häufig beanstandet worden ist, gerade von Stellen, die Antisemitismus erfassen, wie RIAS oder OFEK e.V. Selbst wenn ein Hisbollah-Anhänger den Hitlergruß zeigt, wird dies als rechtsextremistische und nicht als islamistische Gesinnung eingestuft. Es ist beides! Schon seit Jahren gibt es die Kritik an dieser Einordnung. Wer Erfahrungsberichte von Jüdinnen:Juden liest, sieht das sofort. Wenn es um israelbezogenen Antisemitismus geht, werden die Täterinnen und Täter meistens muslimisch gelesen. Das ist die eine Seite, die andere ist die Seite derjenigen, die muslimischen Antisemitismus negieren. Das hilft niemandem, weder Jüdinnen:Juden noch Muslim:innen noch der linken Bewegung.

Norbert Reichel: Ich habe das Problem der Polizeistatistik einmal in der Jüdischen Allgemeinen ansprechen dürfen. Eigentlich ein Dauerthema, aber immer noch keine Lösung. Es gibt beim Antisemitismus eine Art Cross-Over zwischen Rechten, Linken und Muslimen, das von keiner Statistik abgebildet wird. Mir ist es auch schon passiert, dass ich, als ich dies ansprach, von Linken als Rassist beschimpft wurde.

Anastasia Tikhomirova: Ja, Antisemitismus als Brückenideologie. Wir müssen uns ernsthaft mit linkem und islamischem Antisemitismus auseinandersetzen und dürfen gleichzeitig den rechten und völkischen Antisemitismus nicht verharmlosen.

Norbert Reichel: Zurzeit segeln die Rechten geradezu im Windschatten der Aufmerksamkeit. Dem leisten Nancy Faeser und Friedrich Merz geradezu einvernehmlich Vorschub.

Anastasia Tikhomirova: Auch Olaf Scholz, zum Beispiel.

Berlin-Neukölln, Sonnenallee. Foto: Joe Mabel. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Wie bewertest du die Situation in Berlin? In der Öffentlichkeit scheint Berlin ja nur noch aus palästinensischen Demonstrationen auf der Sonnenallee zu bestehen.

Anastasia Tikhomirova: Ich bin oft auf der Sonnenallee. Mein Partner wohnt dort. Ich muss schon sagen, dass die Zustände in den letzten Tagen nicht einfach auszuhalten sind. Man geht abends vorbei an brennenden Barrikaden, man sieht, wie die Polizei Menschen kontrolliert, man sieht auch Polizeigewalt. Das kann nicht die Lösung sein.

Ich glaube auch nicht, dass pauschale Demonstrationsverbote helfen. Trotz Verbot haben sich täglich junge Leute auf der Sonnenallee und am Hermannplatz versammelt und ihre Wut zum Ausdruck gebracht. Eine Demokratie muss die Versammlungsfreiheit jederzeit gewährleisten, bis zu dem Punkt, wo es zu Volksverhetzung und Gewalt kommt. Dann müsste die Polizei direkt reagieren.

Berlin ist auch nicht die einzige Stadt, in der so etwas geschieht. Wir haben Bilder aus anderen deutschen Städten, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Frankfurt, Hamburg, auch aus Österreich in Wien. Mitnichten sind das immer Muslim:innen, oft sind es auch fehlgeleitete Linke. Und von denen gibt es ziemlich viele. Natürlich finden sich auch Menschen mit ganz anderen Gesinnungen auf solchen Demonstrationen ein.

Norbert Reichel: Slavoj Źiźek sprach zuletzt in einem Gespräch mit Ijoma Mangold in der ZEIT von Pseudo-Linken. Ich sehe auch eine Entwicklung, in der immer weniger über die israelischen Opfern berichtet wird, zunehmend jedoch palästinensische Opferzahlen und -schicksale genannt werden, immer mit dem Unterton, als wären diese Palästinenser:innen alle Zivilist:innen, abgesehen davon, dass bekannt sein müsste, dass die Hamas ihre eigene Zivilbevölkerung als eine Art menschliche Schutzschilde verwendet, nach deren Tod sie wiederum Israel als Haupt- und Alleinschuldigen anklagt und in manchen Medien damit sogar auch Gehör findet.

Anastasia Tikhomirova: Laut Berichte von Ärzte ohne Grenzen und anderen NGOs liest, ist die Lage im Gazastreifen katastrophal. Tausende Zivilist:innen sollen durchisraelische Luftschläge oder fehlgeleitete Raketen aus dem Gazastreifen getötet worden sein. Ich denke nicht, dass man Israel von der Verantwortung freisprechen darf, hinzu kommt die humanitäre Abriegelung des Gazastreifens. Aber die Verantwortung liegt auch bei Ägypten zum Beispiel, dass seine Grenze nicht für palästinensische Zivilist:innen öffnet. Außerdem trägt die Hamas Verantwortung für die Situation. Sie hat jegliche Opposition vernichtet, die Meinungsfreiheit unterdrückt, Kinder von klein auf zu Terroristen ausgebildet, Frauen entrechtet, Zivilist:innen an der flucht gehindert und sie als menschliche Schutzschilde missbraucht. Ihre Anführer leben nicht im Gazastreifen, sondern in Katar, und haben genau gewusst, was sie mit dem Pogrom auslösen. Sie haben bereitwillig die Menschen im Gazastreifen als „Märtyrer‘ geopfert, um ihrem Ziel näher zu kommen, Israel, mehr noch alle Jüdinnen:Juden auf der Welt zu vernichten. Die Verantwortung der Hamas wird mir zu selten benannt, gerade von den bereits erwähnten Linken. Terroristen werden zu Freiheitskämpfern stilisiert oder Israel als Hauptschuldiger benannt.

Israelische Dilemmata – und im Hintergrund der Iran

Norbert Reichel: Was sagen deine israelischen Kontakte zum Thema israelische Regierung?

Proteste gegen Netanjahus Justizreform. Foto: Nir Hirshman. Wikimedia Commons.

Anastasia Tikhomirova: Tatsächlich fühlen sich viele Israelis, die zuvor in der Einschätzung der Regierung unterschiedliche Meinungen vertraten, jetzt sehr geeint, weil sie in einer Bedrohungslage leben, wie es sie noch nie gab. Sie sind froh über ihre Armee. Dennoch kritisieren meine Kontakte nach wie vor die Regierung Netanjahus. Es gibt viele Schuldzuweisungen an ihn für das, was geschehen ist. Die Ermittlungen dauern an. Er war die ganze Zeit – mit kurzer Unterbrechung – an der Macht, mit der Losung, dass er die Sicherheit Israels garantieren könne. Das hat er nicht geschafft.

Die Proteste gegen die geplante Justizreform sind ausgesetzt, aber es gibt stattdessen Proteste in Israel, in denen gefordert wird, mehr für die Befreiung der Geiseln zu tun. Ich habe beispielsweise mit der Schwester einer 19jährigen entführten israelischen Soldatin gesprochen, die sagte, es sei ihr egal, ob die Regierung sich rächen wolle, ob sie eine Bodenoffensive durchführe. Wenn dies geschähe, würde ihre Schwester das nicht überleben. Sie forderte, erst zu verhandeln, sich auf einen Deal einzulassen. Auch wenn das bedeutet, dass Tausende von Terroristen freikämen und sich das Vorgehen für die Hamas gelohnt hätte, geht es vielen Betroffenen darum, dass ihre Angehörigen zurückgeholt werden. Es gibt Demonstrationen in Tel Aviv, auch in Jerusalem gibt es Menschen, die auf die Straße gehen und eine Feuerpause fordern, um die Geiseln freizubekommen. Der Regierung wird vorgeworfen, dass sie nicht genug täte, um die über 200 Geiseln freizubekommen.  

Norbert Reichel: Ist eine Feuerpause überhaupt durchsetzbar?

Anastasia Tikhomirova: In der Vergangenheit hat sich die Hamas nie an Feuerpausen gehalten. Es gibt solche Forderungen auch von linken Israelis, zum Beispiel von Standing Together – eine Gruppe, in der sich jüdische und arabische Israelis für Frieden organisieren. Sie fordern einen palästinensischen Staat und klagen die Siedlergewalt in den besetzten Gebieten an, die insbesondere seit dem 7. Oktober enorm angestiegen ist. Für einen nachhaltigen Frieden müsse es unbedingt eine Würdigung der Palästinenser:innen geben, Freiheit und ein diskriminierungsfreies Leben. Das ist aber auch an ein Ende der Hamas gekoppelt. Das macht die Lage so verzwickt.

Norbert Reichel: Hamas steht meines Erachtens hier auch als pars pro toto. Wir haben die Hisbollah, den Islamischen Dschihad und weitere Terrorgruppen.

Anastasia Tikhomirova: Genau, zum Beispiel die Huthi Rebellen beziehungsweis Ansar Allah aus dem Jemen und den Iran im Hintergrund als größten staatlichen Terrorsponsor. Das wird nicht einfach. Niemand kann einschätzen, ob es zu einem großen Krieg in der Region kommt. Ich will nicht spekulieren. Die Chancen stehen aus meiner Sicht etwa Fifty-Fifty.

Natalie Amiri interviewt Sarah Sandeh, Melika Foroutan und Jasmin Tabatabei, Berlin 2023. Foto: Arash Marandi. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Natalie Amiri hat in der Süddeutschen Zeitung geschrieben, dass der Fall des iranischen Regimes den Frieden für Israel und Palästina bringen würde. Sie zitiert zu Beginn ihres Beitrags ausführlich eine Iranerin, die eine wunderbare Utopie entwickelt hatte.

Anastasia Tikhomirova: Es gibt auch Bilder von iranischen Student:innen und Schüler:innen, die die israelischen Flaggen, die vor den Eingängen der Schulen und Hochschulen ausgelegt sind, überspringen, weil sie keine Lust mehr auf die staatlich verordnete Feindschaft zu Israel haben, weil sie keine Lust mehr haben, dass der Iran große Summen an Terrorgruppen zahlt, während das eigene Volk in Armut und Rechtlosigkeit lebt. Das sieht man auch auf deutschen Straßen. Auch im Exil stellen sich viele Iraner:innen auf die Seite Israels.

Norbert Reichel: Was würdest du als Journalistin der Politik empfehlen?

Anastasia Tikhomirova: Ich würde mit den Worten von Kazem Moussavi sagen, dass dieses Appeasement aufhören muss, dass man immer noch mit dem iranischen Mullah-Regime betreibt. Der Handel mit dem Erzfeind Israels führt dazu, dass er überhaupt das Geld hat, das er in Terrororganisationen steckt.

Norbert Reichel: Ich frage mich ohnehin, wie die Hisbollah an die 150.000 Raketen kommt, die sie auf Israel richtet.

Anastasia Tikhomirova: Genau das. Es muss dringend einen Abbruch der diplomatischen Beziehungen zum Iran geben, mit allen, die diesen Terror unterstützen. Das fordern ja auch iranische Aktivist:innen. Die Revolutionsgarden gehören schon längst auf die Terrorliste. Nur so kann man nachhaltig bewirken, dass der Iran weiter isoliert wird und unter Stress gerät.      

Und die Ukraine?

Norbert Reichel: Das Interesse für die Ukraine gerät in den Hintergrund. Nur ein Beispiel aus Bonn. Vor dem Rathaus gibt es sechs Fahnenmasten. An fünfen hängen wie gewohnt die Bonner Flagge, die von Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa und der Vereinten Nationen. Am sechsten Fahnenmast hing bisher die ukrainische Flagge, jetzt hängt da die israelische. Ich hätte lieber gesehen, wenn die ukrainische und die israelische beide dort hingen, entweder an einem siebten Fahnenmast oder – wenn es nicht anders geht – unter Verzicht auf eine der anderen Flaggen, vielleicht die der Vereinten Nationen, die es bisher auch nicht schafften, den Terror der Hamas zu verurteilen. Welche Veränderungen siehst du im Engagement für die Ukraine, für russische Oppositionsgruppen, für Minderheiten in der Russischen Föderation?

Arina Nâbereshneva, War.

Anastasia Tikhomirova: Generell kann man schon beobachten, dass die Aufmerksamkeit für den russischen Angriffskrieg schwindet. Das ist auch die Sorge der Ukrainer:innen, dass beispielsweise Waffenlieferungen weniger werden. Sollte sich der Krieg im Nahen Osten ausweiten, ist das für Putin eine erfreuliche Entwicklung. Er hat den Westen beschuldigt, im Nahen Osten versagt zu haben, und sich als Friedensstifter angeboten. Er hat aber auch etwa eine Woche gebraucht, um das Pogrom zu verurteilen. Generell sehen wir in russischen regierungstreuen Medien eine israelkritische wenn nicht israelfeindliche Haltung. Da wird mit zweierlei Maß gemessen, wenn man selbst die Ukraine bombardiert, aber Israel auffordert, die Bombardierungen des Gazastreifens einzustellen.

Die russländische Opposition hat geteilte Meinungen. Die liberale Opposition sieht sich ziemlich klar auf der Seite Israels und erkennt in der Hamas einen Feind der Demokratie und einen eventuellen Bündnispartner für Putins Russland, so wie der Iran, der gleichzeitig die Hamas finanziert und Raketen an Russland schickt, mit denen Russland die Ukraine bombardiert. In der russländischen Linken gibt es verschiedene und eher antiisraelische Meinungen, die unter anderem ein Produkt des ehemaligen sowjetischen Antizionismus sind. Dazu kommt ein falsch verstandenes Verständnis von Dekolonisierung, nicht so ausdrücklich wie im Westen, aber doch wird in linken Gruppen Israel als Kolonialmacht und Fortsetzung des US-Imperialismus verstanden, gegen die sich zur Wehr gesetzt wird. Das führt für mich persönlich dazu, dass ich zu einigen Akteuren der russländischen Linken auf Distanz gehe, die ich vorher sehr geschätzt habe.

Norbert Reichel: Das hört sich gar nicht gut an.

Anastasia Tikhomirova: Das ist ein Problem der Linken global. Die deutsche Linke steht mit ihrer pro-zionistischen Haltung sehr allein da, es ist eine kleine Bubble, die international dafür oft gerügt und lächerlich gemacht wird.

Gibt es noch eine Chance für linke Politik?

Norbert Reichel: Manche Demonstrant:innen schreiben auf ihre Schilder: „Free Palestine from German Guilt.“ In dem Kontext vielleicht noch ein paar Worte zu den Linken in Deutschland? Wie erwartet hat Sahra Wagenknecht erklärt, dass sie eine eigene Partei gründen will. Wie die sich positionieren wird, bleibt abzuwarten, in Sachen Ukraine ist sie auf jeden Fall pro-russländisch orientiert. Ich habe den Eindruck, dass man sehr einsam ist, wenn man sich politisch links einordnet und sich dabei pro-ukrainisch und pro-israelisch positioniert.

Anastasia Tikhomirova: Jein. Es kommt drauf an, wo man sich einordnet. Ich fühle erneut eine politische Heimatlosigkeit. Aber ich habe vor Kurzem auf einem antifaschistischen Kongress in Nürnberg gesprochen und gemerkt, dass es sehr wohl Leute gibt, die eine linke Gesinnung haben und es schaffen, gegen jeden Faschismus, auch den islamistischen Faschismus, gegen jeden Antisemitismus, auch linken Antisemitismus, aufzustehen. Das hat mir Hoffnung gegeben.

Die Wagenknecht-Partei wird sicherlich ein Sammelbecken für rechte und vermeintlich linke national-bolschewistische Kräfte, die sich links geben, aber im Grunde reaktionär denken. Wir werden sehen, ob das die AfD schwächen wird oder nicht. Die Linke muss sich wohl leider darauf einstellen, den Bundestag zu verlassen, wenn ein Teil ihrer Wählerschaft zum Bündnis Sahra Wagenknecht wechseln wird. 

Norbert Reichel: Die neue Partei könnte auch von den Grünen und von der SPD Stimmen abziehen, sie wird wahrscheinlich von allen Seiten profitieren. Andererseits höre ich, dass örtliche Organisationen der Linken zahlreiche Neueintritte verzeichnen. Das Schlimmste an dem Wagenknecht-Bündnis ist für mich aber die extreme Russlandfreundlichkeit. Dann hätten wir neben der AfD mit ihren eurasischen Fantasien eine zweite Partei, die die deutsche Zukunft an der Seite Putins sieht. In einer solchen Welt möchte ich eigentlich nicht leben.

Anastasia Tikhomirova: Ich auch nicht. Es fällt mir schon schwer zu glauben, dass demokratische Kräfte bestehen bleiben und siegen. Wir müssen alles tun, damit die reaktionären, faschistischen, islamistischen und anti-demokratischen Kräfte nicht Oberhand gewinnen.

Norbert Reichel: Wie konnte es zu einer solchen Bedrohung der Demokratie, auch in Deutschland, kommen?

Anastasia Tikhomirova: Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass die Krise, die durch den russischen Angriffskrieg ausgelöst wurde, nicht richtig abgefedert worden ist, sodass Menschen, die sozial benachteiligt sind, nun noch ärmer sind und sich noch abgehängter fühlen. Dann kommt eine Sahra Wagenknecht und präsentiert Schuldige, den Westen mit seinen Sanktionen gegen Russland, die Migration. Dann fühlen viele sich wieder aufgefangen, die das Vertrauen in die Politik verloren haben. Wir haben aber in Deutschland ohnehin schon einen starken Hang zur Autokratie. Das hängt damit zusammen, dass die Demokratie im postfaschistischen Deutschland nicht selbst erkämpft wurde, sondern von den Westalliierten geschenkt wurde, was viele damals als ungerechte Besatzung empfanden. Dadurch gibt es schon eine größere Russlandnähe als zum Beispiel in Großbritannien oder in Frankreich.

Norbert Reichel: In der DDR haben sich Demokrat:innen die Demokratie erkämpft, aber darüber wissen heute viele schon nichts mehr. Welche Rolle spielt nach deinen Erfahrungen die Tatsache, dass es eigentlich keine Partei gibt, die Menschen in prekären Verhältnissen vertritt? Das sieht man in der ausgesprochen niedrigen Wahlbeteiligung in den entsprechenden Wohnvierteln, oft unter 30 Prozent, aber dabei muss es ja nicht bleiben.

Anastasia Tikhomirova: Für mich persönlich bleibt zu hoffen – das habe ich auch schon mit meinen Freund:innen so besprochen –, dass sich die Linke neu aufstellt und von den reaktionären Kräften in ihren Reihen verabschiedet oder dass es vielleicht sogar eine Parteineugründung gibt, die sich dem Wagenknecht-Bündnis entgegenstellt. Mein Eindruck ist, dass es immer noch viele Leute gibt, für die eine Wahl der SPD und der Grünen nicht in Frage kommt, die sich aber auch bei der gegenwärtigen Linken nicht aufgehoben fühlen, und die eine sozialistische und demokratische, eine antirassistische, anti-antisemitische, antisexistische, antihomofeindliche Partei wünschen, die für ihre Interessen eintritt. Wenn jemand sie gründen will, gerne.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im November 2023, Internetzugriffe zuletzt am 5. November 2023, Titelbild: Jerusalem © Lamya Kaddor.)