Sicherheitsdialektik
Reform und Revolution – Vexierbilder des Traums von einer Sache
„Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins, trete es nun religiös oder politisch auf. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.“ (Karl Marx, Brief an Arnold Ruge vom September 1843, Deutsch-Französische Jahrbücher, in: MEW 1)
Pier Paolo Pasolini zitiert diese Sätze als Motto seines Romans „Il sogno di una cosa“, lässt sie aber hinter „Traum von einer Sache“ enden. Er scheute sich offensichtlich, den in den bei Karl Marx aufscheinenden wissenschaftlichen Optimismus niederzuschreiben oder gar auszusprechen. Wie berechtigt der Marx’sche Optimismus sein mag? Darüber lässt sich trefflich streiten. Der Weg, diese Frage zu beantworten, mag durch gefährliche Wasser führen, sodass der mythologisch anmutende Titel des Buches von Christine Gisela Krüger gerechtfertigt erscheint. Wer sich mit sozialen Konflikten befasst, begegnet in der Tat Scylla und Charybdis, navigiert in höchst schwierigem Fahrwasser, erlebt das Leben bedrohende Unsicherheit. Nicht umsonst finden sich immer wieder Metaphern und Bilder aus der Seefahrt, um politische Prozesse und Akteure zu beschreiben. Aber wer ist in diesen Bildern der listenreiche Odysseus?
Sicherheitssemantiken
Christine G. Krüger, seit 2021 Geschichtsprofessorin an der Universität Bonn, hat sich mit den Hafenarbeiterstreiks in London 1889 sowie in Hamburg 1896 befasst. Das Buch erschien 2022 im Bonner Dietz Verlag, Untertitel „Urbane Sicherheitsentwürfe in Hamburg und London (1880-1900)“. Der Autorin geht es nicht um einen nationalen Vergleich, sondern um „das jeweilige Zusammenspiel nationaler, lokaler und situationsspezifischer Faktoren“, letztlich angesichts des dominierenden Themas der „Sicherheitssemantiken“ um die Frage, wer angesichts sozialer Unruhen Angst vor wem oder vor was hat. Diese Ängste lassen sich aus unterschiedlichen Voraussetzungen begründen und bewirken unterschiedliche Schlussfolgerungen im Umgang mit sozialen Aufständen. Es sind die Ängste der Akteure der Unruhen, es sind die Ängste derjenigen, die den Eindruck haben, sie würden von den Unruhen in ihrer Ruhe und in ihrem Wohlleben bedroht.
Christine Krüger beschreibt einen relativ kurzen Zeitraum gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Ihre Analyse lässt sich jedoch mutatis mutandis durchaus auf Debatten des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts übertragen. Auf der einen Seite dominieren Sicherheitsaspekte die innenpolitischen Diskurse fast aller Staaten, nicht nur in Deutschland, nicht nur in der Europäischen Union. Thema des Buches sind nicht von außen hereingetragene terroristische Bedrohungen wie wir sie am 11. September 2001 oder am 24. Februar 2022 erlebten. Thema sind innenpolitische – soziale – Unruhen, die durch soziale und wirtschaftliche Notlagen bedingt sind. Es ließe sich darüber nachdenken, ob es die Protestbewegungen und Revolutionen, die in den vergangenen 40 Jahren mit dem Ruf nach Freiheit und Demokratie verbunden wurden, ohne akute soziale und wirtschaftliche Notlagen gegeben hätte.
Manche Unruhen wurden mit polizeilicher oder militärischer Gewalt mehr oder weniger wirkungsvoll niedergeschlagen oder gar von vornherein unterdrückt, manche wurden je nach Offenheit und Sensibilität der jeweiligen Regierungen in Reformen aufgegriffen oder führten gelegentlich zu spektakulären Machtwechseln. Mancher Revolution folgte – oft genug dank staatlich-militärischer Gewalt – die Restauration. Die Analyse der Anlässe von Unruhen, die Geschichte von Gewalt, Revolution und Restauration zeigt, dass nicht immer alle, die unter sozialen Notlagen litten, gemeinsame Ziele verfolgten. Es ist auch eine Geschichte von Spaltungen, von Spaltbarkeit und Ohnmacht. Eben diese mehr oder weniger aktuell bedeutenden Kontexte machen das Buch von Christine Krüger so lesenswert. Die Lektüre des Buches provoziert geradezu das Verlangen nach weiterer Recherche, der Suche nach Parallelen und Analogien, die nicht unbedingt zur Gleichsetzung von Ereignissen und Entwicklungen der vergangenen 150 Jahre, wohl aber zu einem klareren „Bewusstsein“ im Sinne der eingangs zitierten Gedanken des Karl Marx führen dürften.
Einleitend referiert Christine Krüger verschiedene Modelle der Sicherheitsforschung. Sie verbindet historische und politische Ansätze miteinander und erkennt eine Spanne zwischen beschreibenden und normierenden Konnotationen des Sicherheitsbegriffs, die – je nach Positionierung – dazu führen kann, dass nicht immer eindeutig geklärt werden kann, welche Maßnahmen als „Ausnahmemaßnahmen oder -gesetze“ verstanden werden können. „Tatsächlich wird ein Spannungsverhältnis von Sicherheit zu anderen Werten oft ungeprüft vorausgesetzt, ohne dass systematisch untersucht wird, mit welchen anderen Wertdiskursen Sicherheitsdiskurse konkurrierten beziehungsweise wie sie mit ihnen zusammenflossen oder sich mit ihnen verflochten.“
Dieses Dilemma wird bereits in den Titeln der von Christine Krüger zitierten Autoren deutlich. Eckart Conze betitelte einen 2005 veröffentlichten Aufsatz „Sicherheit als Kultur“, Benedict Anderson sprach schon 1983 von „Imagined Communities“, Michel Foucault von einer „Kultur der Gefahr“. Christine Krüger versucht sich von schematischen Zuschreibungen zu lösen und die hinter den Debatten um soziale beziehungsweise innere Sicherheit zu dekonstruieren: „Die urbanen Unruhen waren Symptom eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Die zunehmenden Demokratisierungstendenzen und eine langsam einsetzende Sozialstaatlichkeit gingen Hand in Hand mit sich wandelnden Gesellschaftsentwürfen und Vorstellungen über gesellschaftliche und staatliche Verantwortung.“
Das Buch hat zwei große Kapitel mit den Überschriften „Sicherheitsgemeinschaften“ und „Verantwortungshierarchien“. Im ersten Großkapitel gibt es zwei Unterkapitel, „Konkurrierende Sicherheitsentwürfe“ und „Sicherheitsräume“, im zweiten vier Unterkapitel: „Die traditionellen Sicherheitsaufgaben des Staates“, „Soziale Reformen als neue Sicherheitsaufgabe des Staates“, „Sicherheitswissen“, „‚Weibische Furcht‘ und ‚Mütterliche Vorsicht‘ – Geschlechtsspezifische Zuschreibungen von Sicherheitsverantwortung“. Das zusammenfassende „Fazit“ beginnt die Autorin wie folgt: „Sicherheitssemantiken kommen gemeinhin in solchen Situationen zum Einsatz, in denen es um die Durchsetzung einer kollektiv verbindlichen Handlungsstrategie geht. Letztere erscheint als alternativlos. Wann immer Sicherheit als bedroht wahrgenommen oder präsentiert wird, geht dies gewöhnlich mit der Vorstellung einher, dass sich zum einen Entscheidungs- und Handlungsspielräume verengen und dass zum anderen rasches Handeln erforderlich ist. Bedrohungssituationen suggerieren Dringlichkeit.“
Die Frage nach Alternativen beziehungsweise die Behauptung von Alternativlosigkeit ist letztlich die Frage nach Macht. Wessen Macht erweist sich als erfolgreich, wer bleibt ohnmächtig? Wer verfügt über die Ressourcen, schnell und spontan die Tagesordnung zu bestimmen? Welche Gruppen bilden sich? Wie entsteht Solidarität, von wem mit wem? Wer ist Subjekt der Diskurse? Welche Ambivalenzen, welche Dialektik ergibt sich aus diesen Diskursen? „Sicherheitsbestrebungen können daher tendenziell zur Verschärfung von Unsicherheitsgefühlen beitragen.“ Und die Fronten verhärten, Wesentliches in Unwesentlichem verbergen, vielleicht aber auch zu neuen Anstrengungen zur Auflösung der Ursachen der Unsicherheitsgefühle motivieren, Restauration auf Revolution folgen lassen. Bei wem und durch wen auch immer.
Exklusives Klassenbewusstsein
Auf dem Titelbild des Buches von Christine Krüger sehen wir zwei Reihen bedrückt und verschämt blickender Arbeiter mit sichtbar schlechtem Gewissen, die in zwei Reihen zu einem Ort geführt werden, an dem sie offenbar arbeiten werden. Im Hintergrund erahnen wir den Arbeitsplatz, Schiffsmasten in einem deutschen Hafen. Sie werden von einer Reihe übergewichtiger sehr dienstbeflissen schauender Polizisten – Kinn nach vorn und nach oben gestreckt – geführt, alle bis auf einen mit gezogenem Säbel, dieser eine mit einem Schild, das zeigt, was wir sehen sollen: „Freiwillige Arbeiter“. Hinter ihnen mindestens zwei weitere Reihen von dienstbeflissen marschierenden Polizisten, ebenfalls mit gezogenem Säbel.
Es handelt sich bei den geführten Arbeitern um zum Teil wohl im Ausland angeworbene Streikbrecher, die auf den versprochenen Lohn angewiesen sind, Teil der von Karl Marx beschriebenen „Reservearmee“, die die Unternehmer leicht rekrutieren können, um die Streikenden unter Druck zu setzen, Ergebnis einer Spaltung der Arbeiterschaft. Die streikenden Arbeiter wiederum sahen in den Streikbrechern das auch von Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest verachtete „Lumpenproletariat“: „Das Lumpenproletariat, diese passive Verfaulung der untersten Schichten der alten Gesellschaft, wird durch eine proletarische Revolution stellenweise in die Bewegung hineingeschleudert, seiner ganzen Lebenslage nach wird es bereitwilliger sein, sich zu reaktionären Umtrieben erkaufen zu lassen.“ (zitiert nach MEW 4).
Eine weitere Spaltung der unteren Klassen ergibt sich aus ihrem jeweiligen Verhältnis zur Revolution. Der Revolutionsbegriff wird von den streikenden Hamburger Arbeitern weitestgehend abgelehnt. In die Ängste der Hamburger Bürger vorausgreifender Vorsicht versuchen sie – so Christine Krüger – sich von „revolutionäre(n) Umtriebe(n)“ abzugrenzen. In den Streikbrechern sahen sie eine niedere traditionslose und verkommene Klasse oder vielleicht besser gesagt Kaste: „Dazu stilisierten sie die Streikbrecher zu einer Bedrohung für die Hansestadt (…), ein ungebildetes ‚Lumpenproletariat‘ (…), welches zu Kriminalität neige und durch hygienische Standards die Gesundheit der gesamten Stadt gefährde.“ Ein altes Lied: ähnlich klingen im frühen 21. Jahrhundert die Invektiven gegen migrantische Arbeiter, gegen Zuwanderung aus südlichen Ländern. Jedes Proletariat findet sein Lumpenproletariat.
Das Titelbild könnte diese Ambivalenz belegen. Solidarität der Streikenden mit einer anderen Gruppe unterdrückter Männer ist ausgeschlossen. Der Ort der Erstveröffentlichung des Bildes, die eher sozialdemokratisch orientierte Zeitschrift „Der wahre Jacob“, mag eine kritische Einstellung von Künstler und Herausgeber nahelegen, aber ob die Kritik den martialischen Polizisten oder den geknickt dreinschauenden Streikbrechern galt oder beiden, wäre eine Debatte wert. Ebenso ambivalent war die Einstellung zur Anwendung von Gewalt. Einerseits wurde Gewalt von den Streikführern abgelehnt, andererseits aber wurden „die Namen von Streikbrechern verlesen“, diese somit dem Zorn der Streikenden anheimgegeben.
Neben der Debatte um die Streikbrecher gibt es eine weitere Debatte um die Rolle von Männern und Frauen. Auch Frauen werden als Bedrohung gesehen. Frauen galten als „schutzbedürftig“. Christine Krüger: „Durchbrachen Frauen diese Vorstellung, etwa indem sie sich wie die Sozialdemokratin Helma Steinbach mit öffentlichen Auftritten in den Arbeitskampf einbrachten oder wie die Frauen der Streikenden, die Versammlungen abhielten und sich hinter ihre Männer stellten, anstatt sich auf ihren familiären Aufgabenkreis zu beschränken, so stellten sie nicht nur ihre Schutzbedürftigkeit in Frage, sondern auch die Legitimation der männlichen Vormachtstellung“. Dies war nicht nur die Einstellung der Hamburger Bürger, sondern wirkte auch in den Reihen der Streikenden, die eine klare Hierarchie zwischen Männern und Frauen bevorzugten. Exklusives Klassenbewusstsein halt.
Dies entspricht der Analyse von Gerd Koenen in seinem Magnum Opus „Die Farbe Rot“ (München, C.H.Beck, 2017). Auch in den Gewerkschaften beziehungsweise Trade Unions der 1860er/1870er Jahre – so Gerd Koenen – „handelte es sich noch immer um exklusive, de facto berufsständische Vereinigungen von männlichen und qualifizierten Arbeitern mit eigenen Bannern, Lokalen und Festtagen. Generell wurde gerade von den gewerkschaftlich Organisierten die Fabrikarbeit der jungen Frauen als Konkurrenz gesehen, die mit einiger Gehässigkeit verfolgt wurde. Ähnliches galt auch für die sozialistischen und ‚klassenbewussten‘ französischen Syndikalisten dieser Jahre. Von Feindseligkeit geprägt waren schließlich fast immer die Trennlinien, die gegenüber den Arbeitsmigranten gezogen wurden, so den Iren in England oder den Belgiern in Nordfrankreich.“
Die von Christine Krüger analysierten Unternehmer unterstützten ein solches Frauenbild: „Arbeiterfrauen sollten nicht politisch an das Kollektiv der Arbeiterschaft denken, sondern an das individuelle Schicksal ihrer Familien.“ Während auf der Seite der Arbeiterschaft das Gefühl für eine durchaus hierarchisch und patriarchalisch organisierte gemeinsame Verantwortung entstand, versuchten Unternehmer die Problemlage zu individualisieren. Frauen ließen sich auf ihre Funktion in Haushalt und Familie reduzieren, ein letztlich bürgerliches Bild, die männlichen Arbeiter auf ihre persönliche Verantwortung für ihr eigenes Schicksal verweisen. Beides funktionierte in der Wirklichkeit jedoch nicht. Ein Gegenmittel war auf der Seite der Arbeiterschaft der „Ehrdiskurs“. Dort wo die Streikbereitschaft bröckelte – Christine Krüger zitiert Spitzelberichte – wurde an „Männlichkeit und Ehre“ appelliert. Dies wiederum imponierte selbst Angehörigen der Oberschicht. Christine Krüger zitiert einen adeligen Offizier: „Niemand, der ein Gefühl für den Begriff Kraft, Heroismus und Manneswürde hat, wird wünschen, dass sich die Arbeiter bedingungslos unterwerfen.“
So eindeutig oder eindimensional wie die Bewertung des Streiks beziehungsweise der Streikenden erschien, war es nun doch nicht. Gab es so etwas wie „Klassenbewusstsein“? Christine Krüger erklärt die „Entstehung des Klassenbewusstseins“ aus einem Sicherheitsbedürfnis. Dieses richtete sich zunächst gegen die „traditionell seitens der Kirche und den Herrschenden lange Zeit propagierten Sichtweise, welche Armut als gottgegebenes und individuelles Problem auffasste.“ Die eigene Organisation musste bewahrt werden und dies bedeutete, dass alle, die diese gefährdeten, per se nicht dazugehören konnten. Gewerkschaft war ein exklusiver Club, „Klassenbewusstsein“ war und ist kein fest gefügter Begriff, sondern eher heuristisch zu verstehen. Den Gegenpol bildet das Dogma der Margaret Thatcher: „There is no such thing as society.“ Zwischen diesen Polen realisieren sich die unterschiedlichen politischen Positionierungen zu Zielen und Vorgehen der Streiks.
Transformationsprozesse
Inklusion und Exklusion, konkurrierende Wertesysteme, Binnendifferenzierung und Hierarchisierung prägen das Bewusstsein der Streikenden so wie sie das Bewusstsein der gesamten Gesellschaft prägen. Sicherheitsdiskurse brauchen Feindbilder. So entstehen Kriegsmetaphern, oft verbunden mit religiösen Begründungen. Christine Krüger benennt jedoch auch Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse, die Ende des 19. Jahrhunderts die Wahrnehmung sozialer Unruhen veränderten: „Die urbanen Unruhen waren Symptom eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Die zunehmenden Demokratisierungstendenzen und eine langsam einsetzende Sozialstaatlichkeit gingen Hand in Hand mit sich wandelnden Gesellschaftsentwürfen und Vorstellungen über gesellschaftliche Verantwortung.“ Sie belegt diese Tendenzen ebenso wie diesen widerlaufenden und sie konterkarierenden Debatten mit zeitgenössischen Pressestimmen und mit Äußerungen diverser Politiker. Verhandlungen und Kompromisse waren nicht immer willkommen, sie wurden – selbst wenn von Streikenden gewünscht – durchweg abgelehnt. Allerdings gab es hier Unterschiede zwischen der radikalen Reaktion der Hamburger Unternehmer und der dortigen politischen Reaktion mit Polizei und Militär, und der Reaktion in London, wo den „Streikenden auch im Bürgertum große Sympathien entgegengebracht wurden“.
Christine Krüger weist darauf hin, dass im Untersuchungszeitraum die Gewerkschaften im Deutschen Reich schwach, die deutsche Sozialdemokratie jedoch stark war, während in England die heutige Labour Party erst 1906 gegründet wurde und ihre Wurzeln in starken Gewerkschaften hatte, die lange Zeit auch darüber bestimmten, wer Labour führte.
Kleiner Exkurs am Rande: Der berühmteste – aus Sicht der Konservativen, später auch aus Sicht der herrschenden Strömungen der Labour Party des Tony Blair berüchtigste – Gewerkschaftsführer war Arthur Scargill, der die Regierung unter Edward Heath zu Fall brachte, aber leider zusehen musste, dass nach einem dreijährigen Zwischenspiel von zwei Labour-Premiers die nächste konservative Premierministerin, Margaret Thatcher, Proteste und Streiks brutal niederschlagen ließ, alles im Namen der Sicherheit. Unter der Regierung von Tony Blair verließ Arthur Scargill die Labour Party und gründete 1996 die Socialist Labour Party, durchaus vergleichbar mit der 2005 in Deutschland als Partei gegründeten Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit (WASG), die sich 2007 mit der PDS zur Partei Die Linke vereinte.
Sicherheit war und ist ein schillernder Begriff. Während die Arbeiter Sicherheit auf ihren Sozialstatus und ihre Arbeitsbedingungen bezogen, bezogen die Bürger der beiden Hafenstädte den Begriff auf die öffentliche sowie die wirtschaftliche Sicherheit, die sie durch das Vorgehen der Arbeiter bedroht sahen. „Schreckensszenarien“ über die Streikfolgen begleiteten die Debatten und zeigten Wirkung. „Hier wie dort zogen die Streiks große Kreise der urbanen Bevölkerung in Mitleidenschaft, sodass sie als Gefahr nicht nur für die beiden Konfliktparteien, sondern für die gesamte Stadt empfunden wurden. (…) Je nach Perspektive schienen den Zeitgenossinnen und -genossen der Wohlstand, der soziale Friede, die bürgerliche Ordnung oder gar die schiere Existenz auf dem Spiel zu stehen. Alles in allem forderte die Bedrohungswahrnehmung Hamburg und London zu einer intensiven Reflexion herrschender Hierarchien, Abhängigkeitsverhältnisse und Zusammengehörigkeitsvorstellungen heraus.“ Hinzu kamen Warnungen, dass zu hartes Vorgehen gegen die Streikenden die Wehrmoral im Kriegsfalle schwächen könne.
Hier gibt es einen weiteren Unterschied zwischen den Entwicklungen in Hamburg und in London. Christine Krüger: „Demonstrative Grenzüberschreitungen aus den Armenvierteln hinaus wurden hier (in Hamburg, NR) weder von der Polizei noch von der Öffentlichkeit geduldet, und auch in umgekehrter Richtung – in die Armenviertel hinein – wurden sie misstrauisch beäugt. In London hingegen, wo die politischen Fronten weniger stark durch die Klassenzugehörigkeit vorbestimmt wurden, waren Grenzüberschreitungen einfacher und wurden zum Teil sehr gezielt gefördert. Und der größere Austausch, der dadurch ermöglicht wurde, trug seinerseits dazu bei, dass der soziale Konflikt nicht die Schärfe entwickelte, die ihn in Hamburg prägte.“
Und hier wird es spannend: ich habe mich gefragt, ob möglicherweise diese für das Ende des 19. Jahrhunderts geltende Analyse erklären könnte, warum soziale Unruhen in Deutschland eher nicht zur Tagesordnung gehören, während sie aus anderen Ländern immer wieder berichtet werden. Soziale Prekarität gehört in Deutschland eher nicht zu den Anlässen öffentlicher Demonstrationen, vielleicht mit der Ausnahme, dass zwischen Dezember 1989 und dem 8. März 1990 in der damaligen DDR die gefühlte soziale Prekarität der DDR-Bürger*innen den Ruf nach D-Mark und deutscher Einheit auf diversen Demonstrationen bedingte. Die dann nach sogenannter „Abwicklung“ der Mehrzahl der DDR-Betriebe reale Prekarität vieler DDR-Bürger*innen war dann nicht Gegenstand sozialer Unruhen, sondern bewirkte andere Formen des Protestes. Doch dies ist eine andere Geschichte.
Gleichwohl gab es durchweg auch im Bürgertum zurzeit der von Christine G. Krüger untersuchten Hamburger und Londoner Streiks Ambivalenzen: „Klassenspezifische Partikularinteressen durchzusetzen und damit gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Teilhabe einzufordern, war für die Arbeiterschaft, die tendenziell über wenig Machtmittel verfügte, eine schwierige Situation. Die Ambivalenz der daraus hervorgehenden Mixtur von Drohungen, Versicherheitlichungs- und Entsicherheitlichungsversuchen spiegelte sich in den Sicherheitsdiskursen des Bürgertums. Seine Angehörigen sahen sich mit der Frage konfrontiert, inwieweit es einerseits galt, sich vor den Arbeitermassen zu schützen, und inwieweit es andererseits im Interesse der urbanen oder nationalen Sicherheit notwendig war, sie vielmehr in die urbane oder nationale Gemeinschaft zu integrieren“
Aus dieser Ambivalenz ergab sich ein Interesse an „Sicherheitswissen“, das „vor allem die wohlhabenden Schichten“ einforderten. Mit den sozialen Unruhen des späten 19. Jahrhunderts entstanden auch Disziplinen wie die Armutsforschung. Die Arbeiter hatten daran weniger Interesse, denn ihre Erfahrungen bedurften keiner wissenschaftlichen Bestätigung. Aber für die besser gestellten Schichten war es wichtig, die Struktur von sozialen Konflikten zu erkennen, um sie zu vermeiden oder zumindest einzudämmen. Es entstand ein Bedürfnis nach Studien über die Lebensverhältnisse von Arbeitern, nach statistischen Informationen.
Unternehmer – so berichtet Christine Krüger – standen solchen Forschungen kritisch gegenüber, andererseits führten erste wissenschaftliche Forschungen zu einem „Ansehensgewinn (der Wissenschaft, NR) bei den Streikenden“. „Aus der langfristigen Perspektive heraus betrachtet, etablierten sich Sozialwissenschaftler seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in wachsendem Maße als Sicherheitsexperten, die sich bei der Diskussion sozialer Konflikte nicht mehr ignorieren ließen.“ Christine Krüger zitiert Lutz Raphael, der in einem 1996 veröffentlichten Aufsatz von der „Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts“ sprach. Welche Rolle Armuts- und Ungleichheitsforschung heute spielen, wie sie von der Politik rezipiert werden und wie sie sich gegenüber anderen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Teildisziplinen behaupten – das wäre eine Frage, die sich in einem an das Buch von Christine Krüger anschließenden Forschungsprojekt erörtern ließe. Es würde sich lohnen.
Parteilicher Odysseus
Wie könnte es gelingen, die Balance zwischen der Erfüllung der Bedürfnisse der von der bürgerlichen Gesellschaft so gefürchteten „classes dangereuses“ und deren Bedürfnis nach wohlanständig-wohlgenährter Sicherheit im Eigenheim zu schaffen? Oder lässt sich eine solche innere Sicherheit – wie sie in der Regel in politischen Programmen genannt wird – gerade erst und nur schaffen, wenn soziale Sicherheit gewährleistet ist? Aus der zweiten Frage ergibt sich die Frage nach der Parteilichkeit in der Politik, die die in der ersten Frage enthaltene Gegenüberstellung von zwei Polen der gesellschaftlichen Wirklichkeit auflöst, mit der Einschränkung, dass eine objektiv gegebene und eine subjektiv gefühlte Sicherheit nicht unbedingt miteinander übereinstimmen müssen, so dass sich der Mythos des politisch so schwierigen Navigierens der Politik zwischen Scylla und Charybdis mehr oder weniger endlos fortsetzen mag.
Ist dieses Dilemma unabweisbar? Rosa Luxemburg forderte eine politische Entscheidung für die eine oder die andere Seite, sie plädierte für Parteilichkeit, für Parteinahme mit denjenigen, die in der Hierarchie der kapitalistischen (und anderer) Gesellschaften eher in den unteren Rängen rangieren, verwies aber auch auf die dialektische Entwicklung von Geschichte. Sie schrieb in einem Text, der auf den Januar 1916 datiert wurde und unter dem Titel „Die Krise der Sozialdemokratie“ firmiert: „Die geschichtliche Dialektik bewegt sich eben in Widersprüchen und setzt auf jede Notwendigkeit auch ihr Gegenteil in die Welt. Die bürgerliche Klassenherrschaft ist zweifellos eine historische Notwendigkeit, aber auch der Aufruhr der Arbeiterklasse gegen sie; das Kapital ist eine historische Notwendigkeit, aber auch sein Totengräber, der sozialistische Proletarier; die Weltherrschaft des Imperialismus ist eine historische Notwendigkeit, aber auch ihr Sturz durch die proletarische Internationale.“ (zitiert nach der sechsten Auflage des vierten Bandes ihrer „Gesammelten Werke“, Berlin, Dietz Verlag, 2000.)
Vielleicht ist dieser mehr oder weniger revolutionär anmutende Optimismus der „Traum von einer Sache“, von dem Karl Marx sprach, unabhängig davon, ob man die kämpferische und sicherlich zeitbedingte Rhetorik Rosa Luxemburgs mag, die – das muss ich sagen – durchaus auch ästhetische Qualitäten hat. Soziale, gesellschaftliche, politische Prozesse durchschiffen immer wieder die Meerenge zwischen Scylla und Charybdis, ein dialektischer Prozess, der allerdings nicht immer zu den von den jeweiligen Akteuren intendierten Ergebnissen führt. Wer auch immer die Rolle des Odysseus einzunehmen verspricht.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im August 2022, Internetzugriffe zuletzt am 31. Juli 2022)