Über Zeit und Veränderung
Ein nicht nur literarischer Reisebericht
„Wir stehen unwiderruflich unter der Herrschaft der Zeit. Umso besser, dass wir wenigstens mit ihr spielen können. Wir können, erzählend, uns frei in der Zeit bewegen – vor und zurück. Das ist vielleicht überhaupt das Geheimnis der Anziehungskraft der Literatur.“ (Rüdiger Safranski, Zeit – Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, München, Hanser, 2015)
Zeit ist für uns Menschen subjektiv, willkürlich, unberechenbar und grausam, wenn sie unaushaltbare Zustände ins Unendliche dehnt. Manche Philosophen sagen, dass Zeit eine Illusion sei und fragen, wann es Abendessen gibt. Die Erfindung der Uhrzeit spielt eine entscheidende Rolle in der Kulturgeschichte der Menschheit. Doch was genau ist Zeit? Welche Rolle spielt Zeit für unser Leben? Darauf gibt es viele Antworten und ich möchte in diesem Essay insbesondere aus der Science-Fiction-Literatur einige Ideen über Zeit und den Umgang mit Zeit vorstellen.
Zeit ist relativ
Die Zeit des Lebens der Menschen wird, wenn man sie im Angesicht der großen Zeiträume des Universums betrachtet, zu einem winzigen Moment des Unbedeutendseins. Die menschliche Zeit ist im Vergleich zur kosmischen Zeit nicht nur relativ gering, sondern wirklich völlig ohne Belang. Dies wird in einem schönen jüdischen Witz deutlich, der die philosophische Dimension der Zeit des Menschen in einen anderen Maßstab stellt. Schmuel, der fromme Jude, spricht zu Gott. Er sagt: „G‘‘tt, du bist groß. So groß. Du bist allmächtig. Du hast die Erde und die Sterne gemacht. Du bewohnst den Kosmos. Du bist endlos und grenzenlos. Du bist der Schöpfer des Lebens und der Herr über alles im Universum. Du bist jenseits aller Vorstellungskraft. Du hast Mineralien zum Leben erweckt und zahllose Arten von Lebensformen geschaffen. Du kannst alles tun…Was ist schon eine Million Dollar für dich? Es ist ein Penny!…Was ist eine Million Jahre für dich? Es ist eine Sekunde! G‘‘tt, würdest du mir einen Penny geben?‘ Und G‘‘tt antwortet: ‚Natürlich. Warte nur eine Sekunde‘.“
Zeit spielt keine Rolle, wenn wir jung und scheinbar unsterblich sind. Zeit wird zum gnadenlosen Herrscher, wenn wir krank sind und auf das Ende warten. Die Zeit des Menschen läuft unweigerlich auf den Tod hinaus, es gibt keinen Ausweg – obwohl Schriftstellerinnen und Schriftsteller gerade diese Unmöglichkeit gern thematisieren und mythische Alternativen vorstellen. Zeit ist knapp, wenn wir wichtige Dinge erledigen wollen. Zeit dehnt sich, wenn wir dem Liebesspiel verfallen. Zeit wird uns genommen in nutzlosen Meetings, fruchtlosen Arbeitstreffen und unsympathischen Begegnungen. Zeit ist die wichtigste Essenz beim Treffen mit sehr guten Freunden.
Zeit erscheint zeitlos in der Musik und in der Kunst. Zeit ist immerdar, allerdings manchmal auch abwesend, wenn sie scheinbar stillsteht in jenen seltenen Momenten von totaler Glückseligkeit. Zeit in der Rückschau ist sentimental, Zeit in der Vorausschau ist anregend, Zeit in der Gegenwart ist anrührend. Zeit ist immer zu wenig, nie genug, um einfach völlig von ihr abzuschalten. Zeit ist ein Mysterium für uns Menschen.
Zeit ist relativ – sagt auch die Physik. Es gibt keine objektive, immer und überall geltende Zeit, sondern nur relative Zeit, die abhängig ist von ihrem eigenen Bewegungszustand. Die Uhr, die in Bewegung ist, geht schneller als eine Uhr im Ruhezustand. Dies ist experimentell nachgewiesen worden, durch den Vergleich zweier Zeiten, die in baugleichen Uhren unterschiedlich angezeigt wurden, von denen sich eine im Ruhezustand auf der Erde befunden hat und eine andere in einem schnellen, sehr hoch fliegenden Flugzeug.
Die physikalisch bedeutsame Relativität der Zeit, ihr wichtigstes naturwissenschaftliches Wesensmerkmal, ist beispielhaft in dem märchenhaften Film Interstellar (2014) von Christopher Nolan inszeniert worden. Die Menschheit einer nahen Zukunft lebt am Rande des Klimakollaps, die Erde ist heiß, dürr und die Menschen leben am Rande des Hungers. Der Beruf des Farmers ist wichtiger als der des Wissenschaftlers. Matthew McConaughey spielt den ehemalige NASA-Piloten Cooper, der jetzt sein Dasein als Farmer fristen muss und dann wieder als Pilot einer interstellaren Mission der neuen, geheimen NASA tätig wird. Er gerät mit der Besatzung des Raumschiffs „Endurance“ in die Fänge einer Wurmlochverbindung zu einem anderen Universum, in dem sich angeblich erdähnliche Planeten befinden, die der Menschheit eine neue Heimstatt geben sollen. Später fliegt er in den Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs und kommt auf diese Weise durch Zeitdilatation wieder in Kontakt mit seiner Tochter Murphy, die er auf der sterbenden Erde zurückgelassen hat. Zeit spielt eine entscheidende Rolle in der Filmerzählung. Zunächst landet ein Teil der Raumschiffcrew auf einem Planeten, auf dem die Zeit schneller vergeht als an Bord des Schiffes, das sich auf einem Orbit um den Planeten befindet. Minuten hier werden zu Monaten und Jahren an Bord. Bedingt durch eine Fast-Katastrophe auf dem Planeten kommen Cooper und Dr. Amelia Brand später als geplant an Bord zurück und werden von dem zurückgebliebenen Crewmitglied mit den Worten begrüßt: „Ich habe 23 Jahre auf euch gewartet.“
Am Schluss des Films kommt Cooper aus dem Schwarzen Loch heraus und wacht in einem Krankenbett auf, das sich in einer riesigen Raumstation um den Saturn befindet, mit dem Namen „Cooperstation“, benannt nach seiner berühmten Tochter. Seine Rettung verdankt er einer Menschheit der fernen Zukunft, die sich zu fünfdimensionalen Lebewesen entwickelt hat und die die Zeit und die Gravitation manipulieren kann. Cooper ist jetzt, obwohl vom Aussehen her jung, 124 Jahre alt. Er begegnet seiner sterbenden neunzigjährigen Tochter zum letzten Mal.
Zeit ist Veränderung
Zeit kann erklärt werden, sagt die Physik. Allerdings ist die Relativität der Zeit schwer zu verstehen und die dazu notwendige Mathematik verstehen ohnehin nur die wenigsten Menschen. Harald Lesch sagt in seinem Beitrag Die Zeit der Physik in dem Buch Time is Honey. Vom klugen Umgang mit der Zeit von Karlheinz A. und Jona Geissler (2017), dass die „eigentliche Bedeutung der Zeit in der Natur, nämlich im Werden und Vergehen“ liege. Harald Lesch sagt: „Zeit ist Veränderung – die ist die tiefste Erkenntnis, die die Physik zur Betrachtung der Welt beisteuern kann.“
Zeit bestimmt das Schicksal des Menschen, sie ist der Maßstab für ein gelungenes oder vertanes Leben und ist mit allen menschlichen Tätigkeiten verflochten. Wann tue ich dies, wann lasse ich das? Wieviel Zeit habe ich für diese oder jene Tätigkeiten? Welche Zeiten in meinem Leben waren die guten, welche die schlechten? Und gegen Ende des Lebens wird die Frage immer drängender: Wie viel Zeit habe ich noch – und wie kann ich diese Restzeit sinnvoll nutzen?
Die alles überragende Leitfrage für die Bewertung der literarischen Bedeutung des Themas Zeit für den Menschen lautet: Wenn wir es mit etwas Größerem zu tun bekommen, etwas, das wir Menschen nicht beherrschen und steuern können, was tun wir dann?
Es ist an der Zeit, sich mit der subjektiven Wirkung der Zeit zu befassen. Überlegen Sie einmal selbst, liebe Leserin, lieber Leser, was Sie mit dem Thema Zeit verbinden. Welche Gedanken kommen Ihnen, wenn Sie über diesen Maßstab für das Gelingen des menschlichen Lebens nachdenken?
Die Zeit des Universums
Das Universum ist von einem Zeitpfeil durchdrungen, der beim Urknall vor 13,82 Milliarden Jahren beginnt und der die Richtung des Temperaturverlaufs der kosmischen Hintergrundstrahlung aus der heißen Anfangszeit als Ausdehnung des Universums bis heute und in die ferne Zukunft bestimmt. Ob das Universum irgendwann in einem neuen Big Bang kollabieren und die Zeit dann aufhören oder neu beginnen wird, ist nicht bekannt, hier versagen die derzeit gültigen Theorien und Gesetze der Physik.
Das Standardwerk zum Thema „Zeit als physikalische Größe“ ist immer noch: Stephen W. Hawking: Eine kurze Geschichte der Zeit. Auf der Suche nach der Urkraft des Universums. (1988). Dieses Sachbuch ist eines der größten Erfolgsbücher der Popularisierung der Naturwissenschaften mit einer Auflage von neun Millionen Exemplaren bis zum Jahre 2002. Das Buch stand in den Jahren 1988 und 1989 insgesamt 41 Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste.
In einem etwas kleineren Maßstab betrachtet sind Projekte interessant, mit denen Menschen versuchen, über lange Zeiträume von Jahrtausenden hinweg Kommunikationskanäle aufzubauen und den Menschen der Zukunft Botschaften zu hinterlassen. Gregory Benford, Physiker und Science-Fiction Autor, schreibt in seinem lesenswerten Buch Deep Time. How Humanity communicates across Millennia (1999) über ein reales Forschungsprojekt, an dem er mitgearbeitet hat und das die Aufgabenstellung hatte, ein Endlager für abgebrannte Kernbrennstoffe für die Nachwelt sicher zu machen. Wie macht man das, vielleicht mit einem Warnschild? Dieses Endlager bleibt gefährlich für 24.000 Jahre? Benford schildert mehrere wissenschaftliche Projekte, die versuchen, Lösungen für Langzeitprobleme zu finden. Interessant finde ich seine Aussage über den Zeitwert von Technologien: „In gewissem Sinne sind alle Technologien Versuche, die Ordnungen der Zeit anzufechten. Die Landwirtschaft versucht, die Pflanzen in geordnete Bahnen zu lenken, die Medizin verzögert die Angriffe von Alter und Tod, der Verkehr bewegt uns schneller, die Kommunikationsmedien streben nach Geschwindigkeit und Bewahrung von Informationen. In der Fotografie steckt ein Hauch von Ewigkeit, eine Technik zur Bewahrung des Augenblicks, die schon die Alten in Erstaunen versetzt hätte.“
Für die Kulturzeit des Menschen setzt Gregory Benford zehntausend Jahre als Maß für Zivilisationen an. „Bislang sind zehntausend Jahre die Obergrenze bewusster, geplanter Tiefenzeitkommunikation. Nicht zufällig ist dies ungefähr das Zeitalter der Zivilisation.“
Fiktive Zeitreisen und die Physik
Zeitreisen in die Zukunft sind nach der Einstein´schen Relativitätstheorie prinzipiell möglich, Zeitreisen in die Vergangenheit allerdings nicht. Das Problem von Zeitreisen in die Zukunft besteht darin, dass der Zeitreisende nicht mehr zurückkommt, denn eine Zeitreise aus der Zukunft zurück in die Gegenwart wäre ja eine Zeitreise in die Vergangenheit. Geht also nicht, sagt die Physik.
Eine technische Maschine, die ein aktives Reisen durch die Zeit, zurück in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft, erlaubt und dem Reisenden somit die Rolle eines Beobachters oder eines Eingreifenden ermöglicht, ist pure Science Fiction. Zeitmaschinen und Zeitreisen sind sehr frühe Werke der Geschichte der Science Fiction; am bekanntesten ist das Buch Die Zeitmaschine von H. G. Wells (The Time Maschine, 1895). Hier wie in allen weiteren Werken der Science-Fiction werden die naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen des Baus einer Zeitmaschine nicht wirklich beschrieben, sondern höchstens angedeutet oder phantasievoll überspielt, wie beispielsweise die Erwähnung des „Fluxkompensators“, der den umgebauten DeLorean in dem Film Zurück in die Zukunft (1985) antreibt. Wichtiger ist wohl die mehrperspektivische Ausmalung der Auswirkungen von Zeitreisen, und dafür gibt es viele wunderbare und viele abstruse Beispiele in der Science Fiction.
Ein schönes Zitat über die Bedeutung der Zeit stammt aus einem sehr alten Science-Fiction-Werk, dem Buch The Girl in the Golden Atom von Ray Cummings aus dem Jahre 1922: „Zeit ist, was verhindert, dass alles gleichzeitig geschieht.“
Mein Fazit wäre: Es kommt nicht darauf an, wie und ob eine Zeitmaschine überhaupt möglich ist, sondern darauf, ob es eine gute Geschichte zu den Auswirkungen einer Zeitreise gibt.
Weitergehende Hinweise auf Raum- und Zeitreisen finden sich in zahlreichen neuen Werken, die sich mit Wurmlöchern, Einstein-Rosen-Brücken und anderen neueren Theoriefragmenten der Kosmologie beschäftigen. Alle diese interessanten Konzepte bewegen sich natürlich immer noch in der Phase des Diskurses unter den führenden Kosmologen, sind also weder als Naturgesetz belegt oder gar technisch umgesetzt. Der Astrophysiker Andreas Müller von der Technischen Universität München stellt in seinem Werk Zeitreisen und Zeitmaschinen – Heute Morgen war ich noch gestern (2016), das eine gute Einführung in die physikalischen Aspekte des Themas Zeit darstellt, drei denkbare Konzepte für Zeitmaschinen vor, deren technischer Realisierung er allerdings unwahrscheinliche oder sehr geringe Chancen einräumt. Müller bezeichnet diese potenziellen Zeitmaschinen als:
Zeitmaschine 1: Die speziell-relativistische Turbokapsel.
Zeitmaschine 2: Die allgemein relativistische Parkkapsel.
Zeitmaschine 3: Die Wurmlochkapsel.
Es gibt mehrere gute Bücher über die Schnittstellen zum Thema Zeitreise zwischen Naturwissenschaften, Technologien und Science Fiction. Besonders anregend finde ich das Buch von Paul Davies: So baut man eine Zeitmaschine, München, Zürich 2004 (How to Build a Time Machine, 2001). Paul Davis ist Physiker, Kosmologe und Sachbuchautor und legt in diesem Buch dar, wie man auf der Basis der geltenden physikalischen Theoriebildung in vier Stufen eine Zeitmaschine bauen könnte und vermittelt dabei das physikalische Grundwissen über Raum, Zeit und Relativität.
Zeitreisen – Standardthema der Science-Fiction-Literatur
Zeitreisen sind eines der großen und frühen Standardthemen der Science-Fiction Literatur, besonders hervorgehoben durch das Diktum von Darko Survin als „erdichtetes Novum“ in seiner Studie Poetik der Science-Fiction (1979). Die Science-Fiction Literatur der Vergangenheit hat das Thema „Zeitreise“ entwickelt, die Science-Fiction Literatur der Gegenwart im beginnenden 21. Jahrhundert hat dieses Thema weiterentwickelt und viele neue Aspekte im Sinne eines „erdichteten Novums im Novum“ hinzugefügt.
Die Beliebtheit von Zeitreisen geht in der Science-Fiction Literatur auf eines der grundlegenden Werke des Genres zurück, auf H.G. Wells: Die Zeitmaschine (1895). Der Roman wurde von den Science-Fiction Writers of America als eine der zehn besten Romane des Genres ausgewählt und wird von dem US-amerikanischen Literaturkritiker Gary Westfahl als „eine der größten Leistungen in der Geschichte der Science-Fiction“ bezeichnet.
Der Roman wurde zweimal verfilmt: im Jahre 1960 von George Pal mit Rod Taylor in der Hauptrolle und im Jahre 2002 von Simon Wells. Beide Verfilmungen waren Publikumserfolge, unterscheiden sich aber deutlich in ihrer Machart. Die Verfilmung aus dem Jahre 1960 ist werkgetreuer und besitzt den Charme der viktorianischen Zeit der Entstehung des Werkes von H.G. Wells, während die Verfilmung aus dem Jahre 2002 eher – dem Zeitgeist entsprechend – aktionsreicher und moderner inszeniert ist. Ich empfehle die werkgetreue Verfilmung aus dem Jahre 1960.
Die Zeitmaschine (1895) von H. G. Wells bietet eine Fülle von fantasievollen Ideen über Zeitreisen, die die Entstehung der kosmologischen Theoriebildung beeinflusst hat und dies immer noch tut. Ein besonders interessantes Beispiel dafür ist der in jeder Hinsicht anregende Roman Zeitschaft (1984, Timescape, 1980) von Gregory Benford, in dem er die Verbindung zwischen zwei Zeit-Welten der Jahre 1962 und 1998 herstellt, in denen jeweils Wissenschaftler versuchen, den ökologischen Kollaps zu verhindern, indem sie Informationen durch überlichtschnelle Tachyonen in die Vergangenheit schicken, damit die Kollegen in dieser Zeit den drohenden Untergang in der Zukunft verhindern. Benford gelingt es in diesem Roman, eine glaubwürdige Verbindung von komplizierter Wissenschaft und aberwitziger Spekulation zu liefern, also eine literarische Umsetzung auf hohem Niveau zu schreiben, die spannungsgeladen ist und zu einem wahrhaften Lesevergnügen verdichtet wurde.
Ich denke, dass darüber hinaus noch eine besondere Form der Zeitreise eine nähere Betrachtung verdient, nämlich die „archäologische Science-Fiction“, die insbesondere Jack McDevitt mit seinen Geschichten um die Detektive Alex Benedict und Chase Kolpath schreibt. Archäologische Science Fiction, die zurückliegende Ereignisse von der Warte der Menschheit im Jahre 10.000 unserer Zeitrechnung untersucht, die aber immer noch in unserer realen Zukunft liegen.
Vielleicht sollte das Kapitel Zeitreise eher in der Kraft der Vorstellung angesiedelt sein als in der technischen Realisation. Vielleicht würde eine tatsächliche Zeitreise hin zu all den interessanten Ereignissen der Geschichte der Menschheit oder in eine unbekannte Zukunft uns Zeitreisende nur überfordern oder uns unsere Illusionen rauben. Vielleicht hat Jack McDevitt, der selbst sehr schöne Zeitreise-Romane geschrieben hat, mit seinem Statement recht: „Ich vermute, dass wir dankbar sein sollten für die menschliche Vorstellungskraft. Sie ist das einzige Fahrzeug, mit dem wir die Grenzen überschreiten können, die uns von der physikalischen Realität gesetzt wurden. Jedenfalls für den Augenblick.“ (Jack McDevitt: Journal 205, 16. März 2016). Der Autor hat dies unter anderem in seinem Roman Zeitreisende sterben nie (2011, Time Travellers Never Die, 1996) und in vielen Alex Benedict und Chase Kolpath Geschichten wunderbar ausgeführt.
Die umfangreichste Sammlung von Science-Fiction-Erzählungen findet sich in dem Kompendium von Jeff und Ann Vandermeer: The Time Traveller´s Almanac. 100 Stories Brought To You From The Future (2013, 2021). In diesem Buch werden auch die wirklich wichtigen Prämissen zur literarischen Bewertung von Zeitreisen aufgeschlüsselt. Es geht nicht um die technische Realisierbarkeit einer Zeitmaschine, sondern um die Frage, was man tun würde, wenn man sich wirklich in der Zeit rückwärts oder vorwärts bewegen könnte. Die Herausgeber Ann und Jeff Vandermeer betonen in ihrer Einleitung die große Kraft der literarischen Imagination und warnen vor übertriebenen Erwartungen: „Weil einige dieser Geschichten Sie so sehr in andere Zeiten und Orte hineinziehen, dass es Ihnen schwerfallen wird, nach der Lektüre wieder in Ihre Zeit zurückzukehren. Denn die Wahrheit ist, dass die Fiktion eine der effektivsten Zeitreisemaschinen im Universum ist und schon immer war.“ (Preface XIII).
Die Herausgeber Ann und Jeff Vandermeer gliedern ihr Buch in vier Schwerpunkte:
- Experimente: Erzählungen, in denen Individuen oder Gruppen Experimente mit Zeitreisen durchführen.
- Reaktionäre und Revolutionäre: Erzählungen, in denen Menschen die Vergangenheit vor Veränderungen schützen wollen.
- Labyrinthe und Fallen: Erzählungen, in denen das Paradoxon von Zeitreisen an vorderster Stelle steht und Protagonisten in solchen Paradoxien gefangen sind.
- Kommuniqués: Erzählungen, in denen Menschen eine Botschaft an jemanden in der Vergangenheit oder in der Zukunft schicken wollen.
Der Autor Charles Yu schreibt in seinem Essay: Top ten Tips For Time Travellers in dem genannten Buch von Ann und Jeff Vandermeer, dass Zeitreisen eigentlich ein philosophisches Experiment seien und eine einsame Aktivität, die bedeuten würde, dass man niemals wieder nach zuhause zurückfinden würde. Im Grunde ginge es eher um Fragen wie: „Was beabsichtigst du mit deinem Leben zu tun? Was war es, was ist es, was wird es sein?“
Gary Westfahl beschreibt in seiner Studie: Science Fiction Literature Through History. An Encycopedia (2021, Volume 2) fünf Arten von Zeitreise-Typen:
- Zeitreisen in die Vergangenheit mit dem Ziel, die Geschichte zu verändern.
- Zeitreisen in die Vergangenheit mit dem Ziel, die Geschichte zu bewahren (wie sie aufgeschrieben vorgefunden wurde).
- Begegnungen von Menschen der Gegenwart mit Zeitreisenden aus der Zukunft.
- Zeitreisende aus der Gegenwart in die Zukunft, die enttäuscht sind, dass ihre Nachkommen sich als weniger intelligente oder passive Wesen entwickelt haben werden.
- Möglichkeiten, die Vergangenheit zu beobachten, ohne eine Zeitreise in die Vergangenheit durchzuführen.
Warum sind Zeitreisen so beliebt?
Die eigentliche Qualität von Erzählungen über Zeitreisen liegen nicht in den naturwissenschaftlich-technischen Grundlagen, also der Diskussion der Fragen, ob und wie eine Zeitreise überhaupt möglich ist, sondern in der Erzählkunst der Autorin oder des Autors, wie menschliche Schicksale beim Sprung von den Problemen der Gegenwart in andere oder noch größere Probleme der Vergangenheit oder der Zukunft und das Wechselspiel der Zeitsprünge geschildert werden. Die große literarische Kunst liegt in der Ausarbeitung und glaubhaften Schilderung des temporären Kaleidoskops, in denen Zeitreisende anderen Menschen begegnen, sei es als temporäre Abenteuerreise in unterschiedlichen Zeitkulturen oder als Möglichkeits-Begegnungen mit anderen Menschen in Vergangenheit oder Zukunft. Dabei spiegeln sich die Zeitreisenden mit ihrer eigenen Geschichte, Herkunft und kulturellen Eingebundenheit im Licht von möglichen oder unmöglichen Begegnungen in anderen Zeiten und Räumen. Die Erzählung der Zeitreise dient dabei eigentlich nur der Schilderung der Veränderungsprozesse der Zeitreisenden selbst. Es geht nicht um die üblicherweise diskutierten kontrafaktischen Zeitparadoxa nach dem Muster „wenn ich Hitler erschieße, was dann“, sondern um die individuellen Prozesse, in die die Zeitreisenden selbst direkt eingebunden sind.
Es gibt einige bemerkenswert gute Erzählungen über Zeitreisen, die die Kriterien guter Literatur in dem oben vorgestellten Sinne erfüllen. Für die Science Fiction zähle ich dazu natürlich das bereits genannte Grundlagenwerk Die Zeitmaschine von H. G. Wells (The Time Maschine, 1895), das alle diese Kriterien erfüllt. Weiterhin möchte ich beispielhaft zwei Romane von Wolfgang Jeschke erwähnen, die das Thema Zeitreise in verschiedene Aspekte der damaligen Entstehungszeit der Romane einbetten: Der letzte Tag der Schöpfung (1981), bei dem es um die globale Ausbeutung von Erdölvorkommen geht, geschrieben aus der Sicht der 1970er Jahre, sowie sein Meisterwerk Das Cusanus-Spiel (2005), in dem die Umweltprobleme der Gegenwart durch eine Reise in das 15. Jahrhundert und ein Treffen mit Nikolaus Cusanus gelöst werden sollen.
Der Film Timeline (2003) nach dem gleichnamigen Buch Timeline (1999) von Michael Crichton hat zwar ein anderes Ende als das Buch, zeigt aber auch eine große Liebesgeschichte über Jahrhunderte hinweg zwischen Lady Claire aus dem vierzehnten Jahrhundert und Andre Marek aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Andre Marek ist einer der Zeitreisenden, er bleibt im Frankreich des vierzehnten Jahrhunderts und heiratet Lady Claire. Die anderen Zeitreisenden finden nach ihrer Rückkehr in die Gegenwart den gemeinsamen Sarkophag der beiden, der in Stein gemeißelt die beiden Liebenden zeigt, händchenhaltend im Tode vereint und mit einer Inschrift versehen, die für Andre Marek die Lebensdaten zeigt: Geboren 1971, verstorben 1382.
Eine weitere lesenswerte Zeitreise wird von Audrey Niffenegger in ihrem Roman Die Frau des Zeitreisenden (2003) erzählt. Darin geht es um eine große und unkonventionelle Liebesgeschichte, die durch die Zeiten zu irrlichternden Begegnungen von Henry DeTamble, der durch einen seltenen genetischen Defekt gezwungen ist, spontan durch die Zeit reisen muss, mit Clare Abshire führt. Das Buch wurde im Jahre 2009 verfilmt. Der deutsche Schriftsteller Franz Friedrich veröffentlichte im Jahre 2024 den Roman Die Passagierin (2024), in dem er über eine Zukunft und die verpassten Chancen der Vergangenheit erzählt sowie über Freundschaft, Gemeinschaft und Veränderung.
Fritz Heidorn, Oldenburg
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)