Versöhnerinnen?

Zuschreibungen weiblicher Friedfertigkeit in der Moderne

Bei Millionen von Frauen lösten die Geschehnisse dieses Krieges einen eisernen Willen aus, machten sie stark wie nie zuvor, erfüllten sie mit Mut zu neuen Taten, ließen sie den heiligen Schwur schwören: Krieg dem Kriege. Es gilt, diese ungeheuren Frauenkräfte im Interesse des Völkerrechts, der Völkerverständigung, eines dauernden Friedens unter den Völkern, den Staaten der Welt nutzbar zu machen. Wohlan, ihr Pazifisten, kämpft im Interesse eurer Sache, die ihr vertretet, für das Frauenstimmrecht! Stimmet ein in die Worte, die der bekannte ungarische Pazifist Prälat Gießwein am 2. Juni 1917 einer vieltausendköpfigen Menge in Budapest zurief: Der Pazifismus hat mich zum Frauenwahlrecht geführt. Ohne freie Frauen kein ständiger Friede! Ein Europa mit Frauenwahlrecht wäre keinem Weltkriege zum Opfer gefallen.‘“ (Lida Gustava Heymann, Weiblicher Pazifismus, 1917, zitiert nach Gisela Brinker-Gabler, Hg., Frauen gegen den Krieg, Frankfurt am Main, S. Fischer, 1980)

Lida Gustava Heymann. Bundesarchiv Bild 146-1987-143-05. Wikimedia Commons.

Lida Gustava Heymann zählte zu den Frauen, die während des Ersten Weltkriegs die Forderung nach Frieden mit dem Eintreten für Frauenrechte verbanden. Bis heute werden Frauen im Allgemeinen als friedlicher eingeschätzt als Männer. Aber vielleicht ist das auch nur ein Klischee? Es lohnt sich, dem in fünf Texten unterschiedlichen Genres von Henri Dunant (1862) bis Virginia Woolf (1938) nachzugehen, die alle vor dem Hintergrund europäischer Kriege dieser Zeit entstanden. Sie zeigen eindrücklich die Handlungsspielräume zeitgenössischer Frauen, wie sie sich organisierten, was sie aufgrund der ihnen zugeschriebenen Friedfertigkeit zu „Versöhnung“ zwischen verfeindeten Nationen beitragen konnten, aber auch, inwiefern sie eine für Frauen oft als untypisch wahrgenommene Unversöhnlichkeit an den Tag legten.

Weibliche Versöhnlichkeit

Wie viele junge Leute zwischen achtzehn und zwanzig Jahren, welche aus dem Herzen Deutschlands oder den östlichen Provinzen des weiten österreichischen Kaiserreiches hierherkamen – davon manche wohl nur unter hartem Zwang –, werden bald außer körperlichen Schmerzen und dem Kummer, gefangen zu sein, noch den Hass erdulden müssen, den die Mailänder ihrer Nation, ihren Führern und ihrem Herrscher geschworen haben! Erst auf französischem Boden werden sie wieder Mitgefühl und freundliche Behandlung finden. Ihr armen Mütter in Deutschland, Österreich, Ungarn, Böhmen, wie soll man nicht an die Herzensangst denken, die ihr empfandet, als ihr erfuhrt, dass eure verwundeten Söhne in Feindesland gefangen seien! Die Frauen von Castiglione erkennen bald, dass es für mich keinen Unterschied der Nationalität gibt, und so folgen sie meinem Beispiel und lassen allen Soldaten, die ihnen völlig fremd sind, das gleiche Wohlwollen zuteil werden. „Tutti fratelli“, wiederholen sie gerührt immer wieder. Ehre sei diesen mitleidigen Frauen, diesen jungen Mädchen von Castiglione. Es gab nichts, was sie zurückgeschreckt, erschöpft oder entmutigt hätte. Ihre bescheidene Hingebung kannte keine Müdigkeit und keinen Ekel; kein Opfer war ihnen zu viel.“ (Henri Dunant, Eine Erinnerung an Solferino,1862)

In dem Text „Un Souvenir de Solférino“, in der deutschen Übersetzung „Eine Erinnerung an Solferino“, schilderte Henry Dunant die Eindrücke, die er nach der blutigen Schlacht von Solferino im Juni 1858 gesammelt hat. Sie war eine der entscheidenden Schlachten des sogenannten Sardinischen Krieges zwischen dem Habsburger Reich, Sardinien Piemont und Frankreich. Als Schweizer Geschäftsmann war er auf einer Geschäftsreise in Italien unterwegs und dabei eher zufällig Zeuge dieses historischen Ereignisses geworden. Die unsäglichen Leiden der Massen von verwundeten Soldaten, die nur unzulänglich medizinisch versorgt werden konnten, schockierten Dunant zutiefst. In der Folge machte er es sich zur Lebensaufgabe, das Los im Krieg verwundeter Soldaten zu verbessern. Mit seinem Bericht, den er auf eigene Kosten veröffentlichte, wollte er die Einrichtung einer speziellen Hilfsorganisation ebenso wie für die Einigung auf eine internationale Konvention zum Schutz verwundeter Kombattanten werben – mit Erfolg: wenig später kam es zur Gründung des Internationalen Roten Kreuzes und 1864 unterzeichneten die ersten zwölf Staaten die Genfer Konvention.

Henri Dunant als junger Mann. Wikimedia Commons.

Die Genfer Konvention sollte, so der Plan Henry Dunants, die Verwundeten der Feindschaft entziehen und für sie allein die Gesetze der humanitären Hilfe gelten lassen. Ist sie damit einem Versöhnungsgedanken verpflichtet? Man muss diese Frage nicht mit Ja beantworten. Dennoch lässt sich sicher sagen, dass Dunants Initiative in eine Zeit fällt, in der die Vorstellung einer kollektiven Versöhnung Konturen anzunehmen begann. Denn diese Vorstellung war eine historische Neuheit. Zwar hatte das Gebot der Versöhnung in der jüdischen und christlichen Religion eine in die Antike zurückreichende Tradition. Doch bis ins 19. Jahrhundert hinein hatte man in der Regel an Individuen gedacht, die sich versöhnten, nicht an Kollektive.

Bedingung für die Entstehung der Vorstellung einer kollektiven Versöhnung war die Vorstellung einer kollektiven Feindschaft, wie sie Dunant zu Beginn des von uns gehörten Textabschnitts problematisiert hat. Diese Vorstellung einer kollektiven Feindschaft, die Teil des seit dem frühen 19. Jahrhundert entstehenden Nationalismus war, ging mit Tendenzen einer Personalisierung der Nationen einher, die die Übertragung des Versöhnungskonzepts auf die kollektive Ebene erleichterte. Hinzukommen musste für diese Übertragung außerdem die Vorstellung einer gewissen Ebenbürtigkeit sowie einer Verbundenheit oder Zusammengehörigkeit der kollektiven Akteure als die die Kriegsgegner, die sich versöhnen sollten, gesehen wurden. Es ist daher auch kein Zufall, dass eine kollektive Versöhnung erstmals nach einem Bürgerkrieg propagiert wurde, und zwar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, dessen Ende in das Jahr 1865 fällt. Durch die Versöhnung der Bürgerkriegsparteien sollten diejenigen wieder zusammengeführt werden, die auch vor dem Krieg zusammengehört hatten.

In den europäischen Nationen bildete sich trotz aller Animositäten im ausgehenden 19. Jahrhundert ebenfalls zunehmend ein Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das sich in dem Gedanken spiegelte, der Gemeinschaft der sich als „zivilisierte Staaten“ verstehenden Staaten anzugehören, wie es immer wieder hieß. Europäerinnen und Europäer formulierten damit eine Überlegenheitsanspruch gegenüber anderen Teilen der Welt, der vor allem auch der Rechtfertigung des Kolonialismus diente. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das sie damit aber gleichzeitig auch ausdrückten, verfügte über weniger Bindekraft als die Zugehörigkeit der Bürgerkriegsparteien zur amerikanischen Nation. Daher setzte sich der Versöhnungsgedanke im Bezug auf europäische Konflikte nur langsam durch. Zunächst begann die im ausgehenden 19. Jahrhundert langsam wachsende Friedensbewegung den Begriff vereinzelt auch auf die europäischen Staaten zu beziehen. Während des Ersten Weltkriegs und in der Zwischenkriegszeit wurde dieser Sprachgebrauch dann geläufiger, bevor er sich nach dem Zweiten Weltkrieg vollends durchsetzen sollte.

Aber kommen wir zurück zu Dunant. In seiner Schrift schreibt er nationale Feindschaft sowie Mitleid und Humanität in einer Weise den Geschlechtern zu, die auch für Versöhnungsvorstellungen von Bedeutung ist. Mit dem Nationsgedanken hatte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch die Vorstellung durchgesetzt, dass die Bürger selbst für die Verteidigung zuständig seien. In vielen Staaten mündete diese Vorstellung in die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für Männer. Gedanklich wurden Staatsbürgerrechte nun gern an die Staatsbürgerpflicht des Militärdienstes geknüpft. Frauen blieben von beidem ausgeschlossen.

Der Militärdienst ebenso wie der Gedanke der politischen Öffentlichkeit und Mitbestimmung verschärften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert geschlechtsspezifische Zuschreibungen. Frauen, so argumentierten viele Zeitgenossen nun, hätten weder die physische Konstitution, um in den Krieg zu ziehen, noch die kognitiven Fähigkeiten, um politische Zusammenhänge zu erfassen. Die natürliche Bestimmung der Frau sahen sie in deren Mutterrolle. Broterwerb sowie Politik und Krieg hingegen waren in dieser Sicht die Aufgabenfelder der Männer.

Auch Henry Dunant führte die Bereitschaft der Frauen von Solferino, die verwundeten Soldaten unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit zu pflegen, auf ihre Mutterrolle zurück. Der Gedanke, dass auch ihre eigenen Söhne verwundet werden und Gefangenschaft geraten könnten, habe die nationale Feindschaft für die Italienerinnen an Bedeutung verlieren lassen.

Dunants Verweis auf die vermeintlich weibliche Fähigkeit, Feindschaft außer Kraft zu setzten, entsprach also gängigen Geschlechterbildern. Doch was Dunant hier als etwas Vorbildliches darstellte, stieß nicht bei allen Zeitgenossen und Zeitgenossinnen auf Gefallen.

Kritik an weiblicher Versöhnlichkeit

„Bonn, 14. August. Einige Hundert verwundete Krieger, Deutsche und Franzosen, sind in hiesigen Lazarethen untergebracht. Ueber Lazareth=Einrichtungen im Allgemeinen will ich Ihnen nicht schreiben. Sie können sich denken, daß die Kranken in medicinischer Hinsicht hier nicht zu klagen haben werden. Aber auf einen Uebelstand möchte ich das Publikum aufmerksam machen, der mir sofort bei meiner Thätigkeit als Krankenpfleger aufgefallen ist und der bei allen Deutschgesinnten ein gerechtes Zürnen hervorrufen wird. Die Eigenthümlichkeit der Deutschen, für das Fremde eine besondere Vorliebe an den Tag zu legen, zeigt sich auch hier. Viele hochgestellte Damen besuchen die hiesigen Lazarethe und suchen durch allerlei Erquickungen die Körper zu laben und durch allerlei zarte Worte die Gemüther der Verwundeten aufzuheitern. Recht schön, aber man höre und staune: Sie, die laut in alle Welt ihren Patriotismus verkünden, die stolz darauf sind, deutsche Frauen zu heißen, sie laufen an den Betten unserer tapferen deutschen Krieger vorbei, um sich um die verwundeten Franzosen und Turcos zu gruppiren und bei ihnen ihre französischen Brocken anzubringen, die sie sodann mit allem Möglichen laben, wenn sie das Glück gehabt haben, einmal verstanden worden zu sein. Unsere Deutschen, die für uns geblutet haben, sehen mit trauernder Miene neidisch auf die Franzosen hin, und nicht selten hört man laute Ausrufe der Entrüstung aus ihrem Munde. Sollte man jenen, die täglich arroganter werden, in Blick und Wort nicht zeigen, daß sie, wenn auch verwundet, doch zugleich auch Gefangene sind, und sollte man nicht unseren Kriegern wenigstens ebendieselbe Behandlung zukommen lassen, wie sie den Franzosen jetzt zu Theil wird?“ (Gummersbacher Zeitung vom 17. August 1870, Originalorthographie).

Die Klage, die in diesem Zeitungsartikel zum Ausdruck gebracht wurde, ertönte in der Zeit des deutsch-französischen Krieges nicht nur in Bonn, sondern wir finden sie auch in anderen deutschen Städten. In der Bonner Zeitung vom 27. August 1870 etwa konnte man nur wenig später einen Bericht aus Berlin lesen, in dem sich der Autor darüber beschwerte, dass gut gekleidete Frauen die Kriegsgefangenen mit Zigaretten und Lebensmitteln beschenkten. Geschehe dies aus „Gefühlen des Mitleids und der Mildthätigkeit“ heraus, sei ein solches Verhalten vielleicht noch nachzuvollziehen, konzedierte er. Aber ähnlich wie der Autor des Artikels über Bonn hegte auch er den Verdacht, dass es den Frauen unter anderem darum gehe, den Besuch bei den Kriegsgefangenen zu nutzen, um ihre Französischkenntnisse praktisch zur Anwendung zu bringen.

Der deutsch-französische Krieg, aus dem diese Quelle stammt, war der erste Krieg, bei dem beide kriegführenden Staaten die Genfer Konvention unterzeichnet hatten. In der deutschen Presse der Kriegsmonate wurden die Genfer Konvention und der Einsatz des Roten Kreuzes immer wieder als Anzeichen eines gewaltigen humanitären Fortschritts gefeiert. Eine Behandlung der Kriegsgefangenen gemäß der Genfer Konventionen wurde daher in der deutschen Öffentlichkeit als vorbildlich angesehen. Alles jedoch, was über das hinausging, was den Kriegsgefangenen – wie es in der Bonner Zeitung hieß – „von Rechts wegen gebührt“, wurde jedoch abgelehnt. Die Kriegsgefangenen sollten nicht mehr der Feindschaft ausgesetzt sein, mit der gegnerische Kombattanten auf dem Schlachtfeld bekämpft wurden. Aber Freundschaftsbekundungen sollten ihnen deshalb nicht zuteilwerden. Und damit wurde auch gerade das abgelehnt, was sich als Anzeichen einer Versöhnungsbereitschaft deuten lassen könnte: etwa, dass die Frauen Gespräch und Dialog mit den Kriegsgefangenen suchten.

In den beiden Quellen werden zwei unterschiedliche Bewertungen einer angenommenen besonderen weiblichen Versöhnungsbereitschaft vorgenommen. Dass Männer eher zum Konflikt, Frauen eher zu Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit neigen würden, was man aus ihrer Mütterlichkeit herleitete, ist sicherlich für das 19. und frühe 20. Jahrhundert die vorherrschende Zuschreibung dieser Eigenschaften auf die Geschlechter. Aber es war nicht die einzige. Ein literarischer Text, der wenige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, steht beispielhaft für eine andere Sicht.

Unversöhnliche Frauen

„‚Ich weiß nicht, ob ich alle Franzosen hasse‘, sagte Eva und führte das klassische Beispiel der Litotes zu neuer Vollkommenheit: ‚Ich hasse Frankreich. Jeden Abend lass ich meine kleinen Kusinen das Gebet gegen Frankreich aufsagen, für dessen Verbreitung unsere Vereine sorgen.‘ / ‚Darf ich es hören?‘ fragte ich sie. ‚Ablässe kann man zu jeder Stunde erlangen.‘ / Sie begann: ‚Heilige Maria, Mutter Gottes, erlöse die Welt vom scheußlichen Volk der Franzosen. Du, die du voll der Gnaden bist und das Ohr des Herrn hast, verwandle Lourdes und die Stätten ihrer scheinheiligen Verehrung in Stätten der Katastrophe und des Untergangs. Du, die du den mordenden Medern, den schändlichen Karthagern deine Fürbitte versagt hast, lasse Jesus Christus, deinen Sohn, sie heimsuchen mit Pech und Schwefel. Bitte für uns arme Sünder, die wir aufs Neue zu den Waffen greifen, die Neger vom Rhein, die Annamiten vom Neckar, die Marokkaner von der Mosel zu vertreiben. Bitte für uns, die wir, der wunderbaren sizilianischen Vesper eingedenk, aufstehen, die Franzosen in ihren roten Hosen zu massakrieren, die schminkegetünchten Französinnen mit Brennnesseln zu peitschen und ihre Brut mit der Sippschaft der Serben und der schändlichen Rumänen in alle Winde zu zerstreuen. Bitte die heilige Katharina, ihre Häuser in Flammen aufgehen, die heilige Barbara ihre Minen explodieren zu lassen. Dass die hunderttausend als Reparation von uns gelieferten Rinder ihre Herden verderben. Dass die hunderttausend als Reparation von uns gelieferten Waggons sich in ihren Zügen zu schwarzen Reitern verwandeln. Amen…!‘ / ‚Bitte sehr! Es gibt in Bayern kein Kind aus gutem Hause, das des Abends, wenn der Mond durchs Fenster scheint, nicht auf seiner kleinen Bettvorlage niederkniete, um dieses Gebet zur Muttergottes zu sprechen.‘“ (Jean Giraudoux, Siegfried oder Die Zwei Leben des Jacques Forestier, Berlin 1962, Wiederauflage: Berlin, Suhrkamp, 1981.)

Indem der französische Schriftsteller Jean Giraudoux in seinem Roman „Siegfried oder Die zwei Leben des Jacques Forestier“ eine der Protagonistinnen mit ihren Cousinen allabendlich ein Hassgebet auf Frankreich anstimmen ließ, griff auch er ein Rollenbild auf, das die Rolle der Frauen vor allem durch ihre Mütterlichkeit bestimmt sah. In seinen Augen konnten Frauen aufgrund ihrer mütterlichen Aufgaben auch Nationalhass und Unversöhnlichkeit verschärfen. Da es zum Rollenbild gehörte, dass Frauen für die Erziehung der Kinder zuständig seien, galten sie auch als Kulturträgerinnen: Denn sie sollten dem Nachwuchs die kulturellen Werte der Nation beibringen. Das konnte das Einüben nationaler Feindschaft miteinschließen.

Die Vorstellung, dass es eine geschlechtsspezifische weibliche Unversöhnlichkeit gebe, war weniger verbreitet als diejenige einer spezifisch weiblichen Versöhnlichkeit. Aber es gab sie auch. Diese Vorstellung konnte noch in anderer Weise als im gerade gehörten Romanausschnitt wieder einmal mit der Mutterrolle begründet werden: Gedacht wurde hier an den Hass von Müttern, die ihre Kinder im Krieg verloren hatten.

Dass Frauen statt Versöhnlichkeit Hass zeigen sollten, konnte in der Publizistik des ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schließlich noch aus einer anderen Art der Opferrolle heraus gefordert werden: Und zwar ist neben der überaus wirkmächtigen Rollenvorstellung, dass Krieg und Konflikt die Domäne der Männer seien, die Problematik sexualisierter Gewalt, der mehrheitlich Frauen zum Opfer fallen, der zweite wichtige Aspekt, der nicht nur Kriegen sondern auch Nachkriegszeiten, anderen Postkonfliktsituationen und Versöhnungsprozessen eine geschlechterspezifische Bedeutung verleiht. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war sexualisierte Gewalt ein Tabuthema und oftmals wurde sie daher nur angedeutet. Eine solche Andeutungen finden wir auch dem Hassgebet der Eva im Roman von Giraudoux: Sie begründet den Hass auf die Franzosen mit ihrem Einsatz von afrikanischen Kolonialsoldaten in der Besatzungsarmee. Zeitgenössisch galten diese Soldaten als besonders grausam, aber vor allem sagte man ihnen nach, deutsche Frauen zu vergewaltigen.

Frauen für den Frieden

„Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, der wirklich Pazifist ist, wird nicht nur den Krieg an sich verurteilen, sondern er muss das heute alles vernichtende männliche Prinzip, welches durch Gewalt die Konflikte im Leben der Völker und Menschen lösen will, bekämpfen und gewillt sein, es durch das schaffende, aufbauende weibliche Prinzip der Hilfsbereitschaft zu ersetzen. Dieses weibliche Prinzip ist vielen, besonders hochstehenden Männern eigen, Frauen aber ist es ursprünglicher Instinkt, vielen allerdings abgewöhnt durch die innerliche Wesensversklavung infolge Annahme der männlichen Weltauffassung. Von dieser Versklavung befreit – und wir sind in allen Staaten auf dem besten Wege dahin -, wird Frauenart sich voll ausleben können und für die Förderung des Pazifismus eine unerschöpfliche Quelle sein. Mag diese Quelle noch häufig durch äußere Schwierigkeiten gehemmt werden, sie wird sich doch immer wieder ihren Lauf bahnen. Vergessen wir niemals bei der Beurteilung der Dinge, dass grundlegende Änderungen im Leben der Völker sich nicht von heute auf morgen vollziehen, sondern im Wandel der Zeiten. Soll der Pazifismus in Zukunft siegen, dann geschieht es nur, wenn das aufbauende weibliche Prinzip zum herrschenden wird, im Verkehr der Menschen und im Zusammenleben der Völker.“  (Lida Gustava Heymann, Weiblicher Pazifismus, 1917, bereits zu Beginn zitierte Quelle.)

Lida Gustava Heymann war Aktivistin im radikalen Zweig der bürgerlichen Frauenbewegung. Sie gründete 1902 gemeinsam mit der gleichgesinnten Anita Augspurg den Deutschen Verein für Frauenstimmrecht und vertrat im Ersten Weltkrieg und danach offen pazifistische Positionen. Diese beiden Aspekte – Frauenwahlrecht und Pazifismus – denkt sie in dem Text von 1917 bereits zusammen: Pazifistische Standpunkte wurden aus Überzeugung (im Sinne einer natürlichen Erweiterung der Mutterrolle) in das Ziel der rechtlichen Gleichstellung integriert. Daraus konnte sich ein feministischer Pazifismus oder pazifistischer Feminismus entwickeln: als Kombination von pazifistischen Sichtweisen auf Machtkonstellationen und -beziehungen inklusive gewaltsamer militärischer Folgen zwischen Nationen auf der einen Seite und feministischen Auffassungen zur Unterdrückung von Frauen in der zeitgenössischen Gesellschaft auf der anderen; das Selbstbestimmungsrecht von Frauen und friedliche Möglichkeiten der Konfliktlösung wurden also zusammengedacht.

Wie es in ihrem Text mehrfach anklingt, legte Heymann dem weiblichen Pazifismus eine angenommene Wesensungleichheit von Männern und Frauen zugrunde. Pazifismus und Feminismus gingen dabei nicht automatisch Hand in Hand: Die Bürgerliche Frauenbewegung zeigte im Ersten Weltkrieg größtenteils eine ablehnende Haltung gegenüber Pazifismus, er wurde als unsolidarisch wahrgenommen. Die Frauenfriedensbewegung wurde daher vor allem vom radikalen Teil der bürgerlichen Frauenbewegung getragen, in der Heymann mit zu den prominentesten Vertreterinnen zählte. Laut Annika Wilmers (Pazifismus in der internationalen Frauenbewegung 1914 – 1920, Essen, Klartext, 2008)  erklärt sich der Widerspruch friedfertiges Wesen der Frauen vs. Kriegsbefürwortung unter anderem durch die zeitgenössischen Definitionen von Krieg und Pazifismus. Beides wurde aus dem Blickwinkel der Verteidigung erklärt bzw. gerechtfertigt: Der Erste Weltkrieg wurde als Verteidigungskrieg gesehen, auch von deutschen Frauen im Sinne der Bedrohung der deutschen Nation (und damit verklärt), während Pazifismus relativ weit gefasst wurde, indem Gewalt im Fall der Selbstverteidigung toleriert war. Eine Begründung Heymann gleichgesinnter Frauen, wie die Kriegsbegeisterung und -unterstützung 1914/15 auch von den Geschlechtsgenossinnen getragen werden konnte, war, es wäre ihnen von einem von Männern geprägten Staat aufoktroyiert worden. Dies lässt sich auch anhand Heymanns Argumentation zu einem „männlichen Prinzip“ im Text nachvollziehen.

Als Wende begreift Heymann den erwähnten Internationalen Frauenkongress in Den Haag 1915 mit über 1000 Teilnehmerinnen aus zwölf kriegsführenden wie neutralen Ländern, an dem sich auch deutsche Frauen (unter anderem Heymann selbst) beteiligten. Eines der Ergebnisse des Kongresses war ein Manifest, das als wichtigste Punkte den Friedensschluss auf Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker forderte, das Frauenwahlrecht als Basis für eine friedliche Co-Existenz der Nationen und ein Schiedsgericht auf internationaler Ebene, um künftige Kriege zu verhindern. Als weitere Beschlüsse wurden unter anderem weltweite Abrüstung, Freihandel, Änderungen in Inhalten von Bildung und Erziehung und Mitspracherecht von Frauen bei Friedensverhandlungen festgehalten.

Im Anschluss an den Kongress wurden zwei Delegationen von Frauen aus hauptsächlich neutralen Staaten gebildet, die – häufig unter widrigsten Bedingungen – durch ein kriegsgebeuteltes Europa und nach Washington reisten, um Regierungsvertretern kriegsführender sowie neutraler Nationen das Manifest zu übergeben und sie von den Kongress-Resolutionen zu überzeugen. Nach Wilmers ging es den Frauen dabei weniger um eine konkrete Ergebniserwartung, als darum, ihren Standpunkt deutlich zu machen.

Gruppenbild der Teilnehmerinnen am WILPF-CKongress Genf 1921. Vordere Reihe: unbekannte Teilnehmerin, Gabrielle Duchene (Frankreich), Dr. Anita Augspurg (Deutschland, Mme. Edouard Claparede-Spir (Schweiz), Lida Gustava Heymann (Deutschland), Jane Addams (USA), Catherine Marshall (England), Friede Perlen (Deutschland). Obere Reihe: Helene Scheu-Riesz (Österreich), Rosa Genoni (Italien), Yella Hertzka (Österreich), Marguerite Gobat (Schweiz), Mrs. Unwin (England), unbekannte Teilnehmerin, Olga Misar (Österreich). Wikimedia Commons.

Eine weitere Folge des Frauenkongresses war die Gründung eines internationalen Komitees für dauernden Frieden mit Sitz in Den Haag, in dem sich Heymann stark engagierte. Dieses wurde 1919 umbenannt in Internationale Frauenliga für Frieden und Freiheit. Heymann war Mitglied des deutschen nationalen Frauenausschusses der Liga. In der Weimarer Republik war jene Liga die einzige pazifistische Frauenorganisation mit ca. 2000 Mitgliedern um 1928, verteilt über 80 Ortsgruppen. Sie hatte zudem ihr eigenes Organ, die Zeitschrift „Die Frau im Staat“ mit Heymann als einer der Herausgeberinnen.

Nach dem Ersten Weltkrieg fand die Frauenfriedensbewegung allgemein verstärkten Zulauf und konnte sich mehr Gehör verschaffen, in ihren Augen auch unter der Perspektive, wohin eine männergeleitete Gesellschaft geführt hatte. Der Frauenfriedensbewegung fehlte es jedoch an Geschlossenheit: es gab die Lager der bürgerlichen und sozialistischen Pazifistinnen, es bestand aber auch Uneinigkeit in dem grundsätzlichen Punkt, ob die Friedensfrage als Geschlechterfrage zu betrachten sei. Für Lida Gustava Heymann lautete die Antwort Ja, ebenso wie für Virginia Woolf 20 Jahre später.

Friedensstiftende Indifferenz

„Aber das, werden Sie sagen, kann nur bedeuten, falls es überhaupt etwas bedeutet, dass Sie, die Töchter gebildeter Männer, die uns ihre konkrete Hilfe versprochen haben, sich weigern, unserer Gesellschaft beizutreten, um eine eigene Gesellschaft zu gründen. Und was ist das für eine Gesellschaft, die Sie gründen wollen; außerhalb der unseren und doch in Kooperation mit ihr, damit wir zusammen für unsere gemeinsamen Ziele arbeiten können? Das ist eine Frage, die zu stellen Sie jedes Recht haben, und die wir versuchen müssen, zu beantworten, um unsere Weigerung, das Formular zu unterschreiben, zu rechtfertigen. Skizzieren wir also rasch in groben Zügen die Gesellschaft, die die Töchter gebildeter Männer gründen und der sie beitreten könnten, außerhalb der Ihren und doch in Kooperation mit ihr. (…) Wenn sie einen Namen haben müsste, könnte sie die Gesellschaft der Außenseiterinnen heißen (…) Die Gesellschaft würde aus den Töchtern gebildeter Männer bestehen, die für Freiheit, Gleichheit und Frieden in ihrer eigenen Klasse arbeiten – wie könnten sie auch in einer anderen arbeiten? – und gemäß ihren eigenen Methoden. Ihre erste Pflicht, an die sie sich nicht mit einem Eid binden würden, denn Eide und Zeremonien haben nichts zu suchen in einer Gesellschaft, die vor allem anonym und flexibel sein muss, wäre die, nicht mit Waffen zu kämpfen. Das ist für sie leicht zu befolgen, denn wie uns die Zeitungen melden, hat ‚der Army Council nicht die Absicht, ein Frauenkorps zu rekrutieren‘, Das wird vom Land sichergestellt. Als Nächstes würden sie sich im Falle eines Krieges weigern, Munition herzustellen oder Verwundete zu versorgen. Da diese Tätigkeiten im letzten Krieg hauptsächlich von den Töchtern arbeitender Männer ausgeführt wurden, wäre der Druck auf die Töchter gebildeter Männer auch hier nur gering, wenn auch sicherlich unangenehm. Die nächste Aufgabe, zu der sie sich verpflichten, ist hingegen von beträchtlicher Schwierigkeit und verlangt nicht nur Entschlossenheit und Mut, sondern auch die besonderen Kenntnisse der Tochter des gebildeten Mannes. Die Aufgabe besteht, kurz gesagt, darin, ihre Brüder weder zum Kämpfen zu animieren noch sie davon abzubringen, sondern eine Haltung vollkommener Indifferenz an den Tag zu legen. (…) Da es eine Tatsache ist, dass sie, die Schwester, nicht verstehen kann, welcher Instinkt ihn, den Bruder, antreibt, welchen Ruhm, welche männliche Befriedigung ihm das Kämpfen verschafft und welches Interesse es bedient –‚ ohne Krieg gäbe es kein Ventil mehr für die männlichen Eigenschaften, die sich im Kämpfen bildeten‘ –, da das Kämpfen also eine geschlechtsspezifische Eigenart ist, die sie nicht teilen kann, das Gegenstück zum Mutterinstinkt, wie manche behaupten, den er nicht teilen kann, ist es ein Instinkt, den sie nicht beurteilen kann. Die Außenseiterin muss ihm also die Freiheit lassen, mit diesem Instinkt selbst klarzukommen, denn die Meinungsfreiheit muss respektiert werden, vor allem wenn sie auf einem Instinkt beruht, der ihr so fremd ist, wie nach Jahrhunderten der Tradition und Erziehung nur möglich. Auf diesem grundsätzlichen und instinktiven Unterschied sollte die Indifferenz beruhen. Aber die Außenseiterin wird es sich zur Pflicht machen, ihre Indifferenz nicht nur auf Instinkte zu gründen, sondern auf Vernunft. Wenn er Folgendes sagt, was er, wie die Geschichte zeigt, schon oft gesagt hat und wieder sagen könnte: ‚Ich kämpfe, um unser Land zu beschützen‘, und damit ihre patriotischen Gefühle zu wecken versucht, wird sie sich fragen: ‚Was bedeutet ‚unser Land‘ für mich, die Außenseiterin?‘ Um sich darüber klar zu werden, wird sie untersuchen, was Patriotismus in ihrem Fall bedeutet. Sie wird sich über die Position ihres eigenen Geschlechts und ihrer Klasse in der Vergangenheit informieren. (…) Sie wird feststellen, dass sie keinen guten Grund hat, ihren Bruder zu bitten, in ihrem Namen darum zu kämpfen, ‚unser Land‘ zu schützen. ‚Unser Land‘, wird sie sagen, ‚hat mich im Laufe seiner Geschichte größtenteils als Sklave behandelt; es hat mir eine Ausbildung verweigert und jede Teilhabe an seinen Besitztümern. ‚(…) Wenn du also trotzdem darauf bestehst, zu kämpfen, um mich oder ‘unser Land‘ zu schützen, sollte zwischen uns nüchtern und rational Klarheit darüber herrschen, dass du kämpfst, um einen geschlechtsspezifischen Instinkt zu befriedigen, den ich nicht teilen kann, um dir Vorteile zu verschaffen, an denen ich keinen Anteil habe, noch haben werde, und du kämpfst ganz sicher nicht, um meine Instinkte zu befriedigen oder mich oder mein Land zu schützen. Denn, wird die Außenseiterin sagen, ‚als Frau habe ich kein Land. Als Frau will ich kein Land haben. Als Frau ist mein Land die ganze Welt.‘(…)

So wird ihre ‚Indifferenz‘ beschaffen sein, und aus dieser Indifferenz müssen sich bestimmte Handlungen ergeben. Sie wird sich verpflichten, nicht an patriotischen Demonstrationen teilzunehmen, keine Form nationaler Selbstbeweihräucherung zu billigen, nie zur Gruppe jener zu gehören, die Kriege Beifall klatschend befürworten, sich von Militäraufmärschen, Turnieren, Paraden, Ordensverleihungen und all den Zeremonien fernzuhalten, die den Wunsch anheizen, ‚unsere‘ Zivilisation oder ‚unsere‘ Überlegenheit anderen Völkern aufzuzwingen. Auch die Psychologie des Privatlebens rechtfertigt die Überzeugung, dass die so verstandene Indifferenz der Töchter gebildeter Männer erheblich dazu beitragen würde, Kriege zu verhindern. Denn die Psychologie scheint zu zeigen, dass es den Menschen viel schwerer fällt, aktiv zu werden, wenn die anderen dem gleichgültig gegenüberstehen und ihnen volle Handlungsfreiheit gewähren, als wenn ihr Handeln im Zentrum erregter Emotionen steht. Der kleine Junge stolziert trompetend draußen am Fenster vorbei: Bitte ihn aufzuhören, und er macht weiter; sage nichts, und er hört auf. Dass die Töchter gebildeter Männer ihren Brüdern weder die weiße Feder der Feigheit noch die rote Feder des Mutes überreichen, sondern überhaupt keine Feder, dass sie die leuchtenden Augen, die Einfluss ausstrahlen, schließen oder auf etwas anderes richten, sobald von Krieg die Rede ist – das ist die Aufgabe, die Außenseiterinnen in Friedenszeiten einüben müssen, ehe die Drohung des Todes der Vernunft alle Macht nimmt.

So lauten also einige der Methoden, mit denen die Gesellschaft, die anonyme und geheime Gesellschaft der Außenseiterinnen, Ihnen, Sir, helfen würde, Krieg zu verhindern und Frieden zu sichern.“ (Virigina Woolf, Vom Verachtetwerden oder Drei Guineen, aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel, Zürich, Kampa Verlag, 2024)

Virginia Woolf, Statue Richmond Riverside, London. Wikimedia Commons.

Der Textauszug stammt aus dem politischen Essay „Drei Guineen“ der englischen Autorin Virginia Woolf, der kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs versucht zu beantworten, wie Krieg verhindert werden kann. Er ist in Briefform verfasst als Antwort auf einen Brief an die Autorin mit eben dieser Frage von einem Bekannten, der anonym bleibt. Woolf wird von dem Adressaten in diesem letzten Kapitel gefragt, ob sie „einer bestimmten Gesellschaft“ (hier im Sinne von Verein) beitreten möge, die sich dafür einsetzt, Krieg zu verhindern, und ob sie diese Gesellschaft mit einer Spende unterstützen möge. Woolf hält es für besser, der Gesellschaft nicht beizutreten, da Frauen sich in alten Strukturen wiederfinden würden. Sie schlägt stattdessen vor, eine neue Gesellschaft mit „Töchtern gebildeter Männer“ zu gründen, denen Hochschulbildung und Berufsleben weitgehend verschlossen blieben, auch nachdem es Frauen gesetzlich erlaubt war, einen Beruf auszuüben, daher die Rede von der „Außenseiterin“. Woolf schildert Methoden, um Krieg zu verhindern, in dieser Außenseiter-Gesellschaft auf Basis der rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung der Frauen. Die Indifferenz, die sie so betont, steht für die Form eines „stillen“/passiven Pazifismus, der die Militarisierung der Gesellschaft unterläuft und die sich auch heute noch anwenden lassen, von allen Mitgliedern der Gesellschaft.

Die Geschlechterzuschreibungen ähneln denen Heymanns, auch wenn Woolf eher davon ausgeht, dass diese Zuschreibungen nicht angeboren, sondern anerzogen, also durch soziale Prägung entstanden, sind. Im Text findet sich beispielsweise der Satz: „der Army Council (hat) nicht die Absicht, ein Frauenkorps zu rekrutieren“. Im englischen Original ist dieser Satz mit einer Fußnote versehen, aus der ersichtlich wird, dass Woolf diesen Satz leicht abgeändert aus einem Artikel in der Times vom 22. Oktober 1937 entnommen hat. Dazu schreibt sie: ‚Das ist der Hauptunterschied zwischen den Geschlechtern. Pazifismus wird Frauen aufgezwungen. Männer haben nach wie vor die freie Wahl.‘ (Übersetzung VF)

Woolf sieht die Wurzel dafür, dass Krieg entstehen kann in der zutiefst patriarchalen Gesellschaft ihrer Zeit. Sie stellt in diesem Essay heraus, inwiefern die Bereitschaft, Krieg zu unterstützen, mit der Rolle und Macht von Männern in der Gesellschaft verbunden ist – auch in der Zivilgesellschaft durch Konkurrenzdenken, vergleichen, besser sein wollen. Dem entgegen stellt sie die (zeitgenössisch natürlich ungleich geringere) politische Handlungsfähigkeit von Frauen und wie diese sich im Rahmen der damaligen Möglichkeiten für die Verhinderung von Krieg einsetzen konnten: Über Bildung, Arbeit und Verdienen des eigenen Lebensunterhalts konnte die finanzielle Unabhängigkeit von Männern erreicht werden, damit Frauen ihrer eigenen, hier: friedenstiftenden, Agenda nachgehen konnten.

Die Rezeption des Essays war zu Woolfs Lebzeiten gemischt. Kritik kam auch von engen Freunden und Freundinnen aus dem Bloomsbury-Kreis. Es erschien einigen ihrer Zeitgenossen und Zeitgenossinnen unangemessen, das Thema eines drohenden Kriegs in Europa mit dem Aspekt der Frauenrechte zusammenzudenken. Heute wissen wir, dass sie ihrer Zeit weit voraus war. Wie die Übersetzerin der neuesten deutschen Ausgabe von 2024, Antje Rávik Strubel, in ihrem Nachwort treffend schreibt, zeigt Virginia Woolf in diesem Text Geschlecht als gesellschaftliche Kategorie, die Ausschlussmechanismen provoziert und auf Konkurrenz und Rivalität ausgelegt ist, mit Krieg als letztem Resultat.

Gibt es ein Recht auf „Unversöhnlichkeit“?

Die Geschichte der europäischen Versöhnung, die für die Zeit nach 1945 gefeiert wird, wird von männlichen Akteuren dominiert, ebenso wie es für diejenige der Friedensschlüsse gilt. In der frühen Nachkriegszeit war die Welt der Politik und insbesondere der Außenpolitik eine männliche Sphäre, und das galt auch für das Feld des Friedens und der Versöhnung. Doch der exklusive Blick auf die politischen Eliten lässt leicht übersehen, dass den Versöhnungsgesten von Regierenden in der Regel zivilgesellschaftliche Versöhnungsinitiativen vorausgegangen waren. Ohne das zivilgesellschaftliche Engagement für die europäische Versöhnung hätte die politische Wiederannäherung der ehemaligen Kriegsgegner wohl auch kaum Glaubwürdigkeit erlangen können.

Im Rahmen dieser zivilgesellschaftlichen Versöhnungsbemühungen hatten Frauen ihren festen Platz. Allerdings sind sie im öffentlichen Gedächtnis kaum präsent: Von der Mitinitiatorin der katholischen Organisation Pax Christi, Marie-Marthe Dortel-Claudot, beispielsweise lässt sich nur ein einziges Porträtfoto im Internet finden. Stattdessen bestimmen prominente Bildikonen von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle, über Willy Brandt bis hin zu Helmut Kohl und François Mitterand die Erinnerungskultur.

In gewisser Hinsicht könnte man sagen, dies sei der Preis dafür, dass sich Frauen bei einigen Versöhnungsinitiativen gerade deshalb eine ganz besondere Handlungsfähigkeit aneignen konnten, weil sie eher im Verborgenen agierten. Das grelle Rampenlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit kann Versöhnungsinitiativen ins Scheitern führen. Historische Studien zum Irlandkonflikt oder zum Nahost-Konflikt Religious Women and the Northern Ireland TroublesRejecting the Cycle of Violence, When Women Say No to War, Israel-Palestine 1987-2013haben offengelegt, dass Frauen mit wenig beachteten Grassroot-Aktivitäten für Verständigung wirken konnten – und zwar auch in Situationen, in denen sie auf unüberwindbare Hürden gestoßen wären, wenn sie eine größere Bekanntheit erlangt hätten.

Wie es für die frühe Frauenfriedensbewegung der Fall war, berufen sich heute noch Frauen in Versöhnungsprozessen gern auf ihre Rolle als Mütter. Hier lebt eine Geschlechterzuschreibung fort, die auf einer langen Tradition basiert, beispielsweise die Mütter von Srebenica. Noch in einem anderen Kontext zieht sich die Vorstellung, dass Versöhnlichkeit zum Wesen der Frauen gehöre, bis in die Gegenwart hinein. Versöhnung wird seit 1945 international oft als idealer Weg der Konfliktbewältigung beschworen. Dies kann auch dazu führen, dass Täter von Opfern Versöhnung einfordern. Solche Forderungen sind mitunter speziell an Frauen adressiert. Auch dies hat Frauen dazu geführt, zivilgesellschaftlich aktiv zu werden und öffentlich Protest zu bekunden. Im französischen Oradour-sur-Glane, dem Schauplatz eines abscheulichen Massakers durch eine SS-Division, in Ruanda oder in Srebrenica haben Frauen, die ihre Kinder und Ehepartner verloren haben oder selbst sexuell misshandelt wurden, auf das „Recht auf Unversöhnlichkeit“ (Andrea Erkenbrecher, A Right to Irreconciliability?, in: Birgit Schwelling, Hg., Reconciliation, Civil society and the Politics of Memory, Bielefeld, transcript, 2012) gepocht und darauf bestanden, dass Versöhnung nicht an die Stelle von Gerechtigkeit treten dürfe.

Victoria Fischer und Christine G. Krüger, Universität Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2025. Der Text folgt einem Vortrag vom 18. Februar 2025 im Stadttheater Bonn-Bad Godesberg im Rahmen der vom Bonner Zentrum für Versöhnungsforschung gemeinsam mit dem Bonner Stadttheater organisierten Gesprächsreihe „Versöhnung – eine Utopie?“ Internetlinks zuletzt am 15. April 2025. Titelbild: Hans Peter Schaefer, aus der Serie „Deciphering Photographs.)