Vorwärts immer, rückwärts nimmer?
Das große Nordsee-Archipel im Maelstrom des Post-Brexit
“He who controls the past controls the future. He who controls the present controls the past.” (George Orwell, 1984)
Nach drei Jahren pandemiebedingter Reiseabstinenz fällt schon beim Einchecken auf der Autofähre über den Kanal auf: die Insel hat eine neue Länderkennung. „UK“ klebt jetzt statt „GB“ auf den Hecks der Fahrzeuge. Bereits vor einem Jahr erfuhren Fahrer*innen, die mit dem eigenen auf der Insel registrierten Kraftfahrzeug ins Ausland reisten, dass sie ab sofort neue Länderkennzeichen benutzen müssen.
Aber warum? Politische Gründe, erklärt das Motorjournal Motor Easy. „GB“ steht genau genommen nur für England, Schottland und Wales. „UK“ hingegen schließt auch Nordirland mit ein. Der Stickerwechsel bekräftigt somit die Annexion des nördlichen Teils der irischen Insel bzw. der Zugehörigkeit dieses Territoriums zum „Vereinigten“ Königreich. Die Erfahrung aus zahlreichen Gesprächen zeigt, dass beide Buchstabenkombinationen im Alltag synonym benutzt werden und doch: Ohne dass viel darüber gesprochen wird, bedeutet das ovale Stückchen selbstklebende Plastikfolie „UK“ eine Bewusstseinsverschiebung weg vom politischen Konstrukt Great Britain hin zum Königreich, mit dem nach wie vor die alte Ordnung des Empire und der etablierten Machtverhältnisse auf dem Archipel konnotiert ist. Der Konvoi des premierministernden politischen Personals fährt in rasendem Tempo rückwärts.
Bleiben wir kurz bei Nordirland. Und dem Brexit.
Finton O’Toole, irischer Journalist, Literaturredakteur und Theaterkritiker, beschreibt in seiner Analyse der gegenwärtigen politischen Misere in der New York Review of Books vom 22. September 2022, wie sehr sich viele der Brexitbefürworter*innen von der Optimismus ausstrahlenden Hemdsärmeligkeit eines Boris Johnson und der so attraktiven Aufregung, hatten hinreißen lassen, an einer Jahrhundertentscheidung teilzuhaben, der ganz großen Show. „Die Party ist vorbei, aber die Zelte lassen sich nicht so leicht wieder einrollen“, resümiert er.
Inzwischen ist aller Glanz abgefallen, Brexit kristallisiert sich jetzt auf politischer Ebene als Auseinandersetzung mit Brüssel über das Nordirlandprotokoll, von Johnson selbst verhandelt und mit großem Pomp als großer Deal verkauft, dann genauso effektvoll als europäische Zumutung wieder abgelehnt. Der Fall ist noch nicht geklärt. „Nordirland Protokoll“ klingt technisch und menschenleer. Seit dem Brexit macht Nordirland wieder Schlagzeilen durch heftige gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den Befürworter*innen und Gegner*innen einer irischen Wiedervereinigung. Über viele der blutigen Scharmützel wird gar nicht berichtet, man munkelt: die Stimmung soll nicht weiter angeheizt werden. Im Hintergrund, auch das nicht mehr als unrecherchiertes Gespräch, wenn auch nicht ganz unwahrscheinlich im Brexitnachhall, sollen bereits Gespräche über Möglichkeiten und Wege einer Wiedervereinigung der Insel stattfinden.
Der Trend, allen Länderkennzeichen zum Trotz, geht deutlich weg vom „United Kingdom“. Dass Schottland ein neues Referendum anstrebt, ist bekannt. Und auch in Wales regt sich Unmut. Hier macht sich bemerkbar, was in anderen Gegenden auch spürbar ist. Als Folge der Thatcherjahre, der Schließung von Minen und Stahlwerken, der Zerschlagung von Infrastruktur haben ganze Landstriche nicht nur im Norden ihre Attraktivität für junge Leute verloren, die dort kein berufliches Auskommen – oder im Hype des Immobilienmarktes keinen bezahlbaren Wohnraum fanden.
Menschen mit finanziellen Möglichkeiten aus Südengland und London kaufen Häuser, nutzen diese als „Second Homes“, i.e. als Ferienhäuser. Das verändert ganze Kleinstädte, in denen immer weniger normales gesellschaftliches Alltagsleben stattfindet, wenn an jedem zweiten Haus der Hinweis auf eine Ferienhausagentur hängt. In Wales hat das noch sehr eigene Konsequenzen. Die Landesprache Welsh wird mit den Bewohner*innen, die mit dieser Sprache und Kultur aufgewachsen sind, auch vertrieben. Schon ist die Rede von einer stillen Kolonisation seitens „der Engländer“: „‘It’s about keeping places alive“’. (Steven Morris, Second homes. Radical steps in Wales to stop locals being priced out. The Guardian October 1st, 2022).
Eine Charakterfrage
Es ist, als wäre mit dem Tod der Queen ein Vorhang zur Seite gezogen worden. Langsam scheint sich die Schockstarre zu lösen, die Blumen und Trauerbekundungen um die Kriegerdenkmäler und Kirchen im ganzen Land sind abgeräumt. Da glänzt nichts mehr, und kein Trost ist in Sicht, dass es besser werden wird, wenig Zuversicht, wenig Aussicht auf Stabilität angesichts einer drohenden Versorgungs- und Energiekrise und einer nicht in demokratischen Wahlen bestimmten, irrlichternden Regierung.
Journalist*innen, Kommentator*innen, Analyst*innen versuchen nachzuvollziehen, wie ein ganzes Land so ohne Not an den Abgrund geriet. Fintan O’Toole zitiert Margaret Thatcher in seinem Artikel: „Politics always reflects the character and caliber of those who practice it – and of those who choose them.“
In seinem 2021 erschienen und mit einem Epilog 2022 aktualisierten Buch „Broken Heartlands. A Journey through Labour’s Lost England“ geht Sebastian Payne, Whitehall Editor der Financial Times, in der Ursachenforschung, warum gerade traditionell der Labour Party zugeneigte Wähler*innen 2019 für Boris Johnson und die Tories stimmten, weit zurück bis in die Thatcherjahre.
Der Niedergang der Kohle- und Schwerindustrie in Nordengland begann bereits mit der Schließung von Gruben in den 1960er Jahren und wurde von der Regierung Thatcher zu Beginn der 1980er Jahre massiv und kompromisslos vorangetrieben. Streiks wurden mit brutalen Polizeieinsätzen beendet, die Gewerkschaften wurden kujoniert und entmachtet. Norman Tebbit, Thatchers Arbeitsminister, kommt bei Payne selbstkritisch zu Wort. Er räumt ein, man habe Betriebe und Minen geschlossen, ohne auch nur einen Gedanken an Umschulungsprogramme oder Umstrukturierung der Wirtschaft in den betroffenen Gebieten zu denken.
Den Menschen brach die Arbeit weg, genauso schlimm: die lang gewachsenen Gemeinschaften der Kumpels und Arbeiter, die Clubs, das soziale Leben, die Sozialkontrolle, als das brach auch weg. Man fühlte sich von „London“ verraten und dann vergessen.
New Labour unter Tony Blair konnte kompensieren, aber nicht heilen. Labour beging den fatalen Fehler, Wahlkreise an Kandidat*innen für die Wahl zum Unterhaus zu übergeben, in denen sie keine Wurzeln hatten und in denen sie nicht einmal lebten. Die Tories, die keinen festen Stand in der Region hatten, setzten auf lokale Abgeordnete.
Der zweite große Fehler der Labour Party bestand in der Wahl des leitenden Personals. Jeremy Corbyn war alles andere als ein Sympathieträger und repräsentierte nur einen Flügel der Partei. Sein Radikalismus und Antisemitismus führte dazu, dass selbst traditionelle Labourwähler*innen lieber den Tory-Abgeordneten vor Ort wählten und damit Boris Johnsons Weg in Nr 10 ermöglichten. Geholfen hat das wenig.
Finton O’Toole benutzt die schöne Metapher der Pantomime, einer Mischung aus Komödie, Märchen und Musical, die traditionell und nur zur Vorweihnachtszeit zur Aufführung kommt.
Johnson ist ein Populist wie er im Buche steht. Und Johnson hat mit seinen Lügen, Geschichten und Inszenierungen vielleicht nicht an die Tradition der Pantomime angeknüpft, aber er hat eine schauspielerische Leistung vollbracht, die zumindest für die Saison verfing und begeisterte. Vielleicht sogar wieder verfängt.
Movin‘ Up?
Grade sind die beiden traditionellen Parteitage der Labour Party und der Tories in der letzten September- bzw. ersten Oktoberwoche zu Ende gegangen. Liz Truss hat sich für ihren Auftritt anlässlich der programmatischen Rede der Parteiführung den Hit „Movin On Up“ von M People ausgesucht. Allerdings nur den auf ihr gleichnamiges Motto passenden Refrain: “You’ve done me wrong, your time is up / You took a sip from the devil’s cup / You broke my heart, there’s no way back / Move right out of here, baby, go on pack your bags.”
Weder hatte sie M People um Genehmigung gefragt noch kannte sie offensichtlich den Text und den Inhalt des Liedes. Es geht um einen beachtlichen Rausschmiss, das böse Ende einer Beziehung. Die Häme in den Medien kam prompt. Und das war noch freundlich.
In der Einschätzung der Regierungspolitik und des beeindruckenden Fehlstarts von Liz Truss lagen selbst Daily Telegraph und The Guardian auf einer Linie. Das muss man auch erst einmal hinkriegen: Liz Truss und ihr enger Freund und Schatzkanzler Kwasi Kwarteng entlassen erst gut eingearbeitetes Parlamentspersonal, das bis dahin für den reibungslosen Ablauf aller Verwaltungsaufgaben zwischen den Sitzungen sorgte. Dann verkündet der von seiner Allwissenheit und Allmacht am meisten überzeugte derzeitige Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg, dass er mit sofortiger Wirkung alle Pläne zur Förderung fossiler Brennstoffe, auch durch Fracking, freigebe und umsetze. Und dann eröffnete Kwasi Kwarteng fast nebenbei sein Mini Budget, demnach der Spitzensteuersatz entfallen sollte und somit 5% der Ultrareichen mehr Geld in den Kassen haben sollten.
„Trickle down“ nannte das unselige fast wie Estragon und Wladimir in „Warten auf Godot“ ahnungslos absurd auftretende Paar Kwarteng/Truss ihre ökonomische Theorie, die nun zur Praxiserprobung am lebenden Organismus kommen sollte. Ronald Reagan und Margaret Thatcher lassen grüßen. Die Tragödie wiederholt sich als Farce. Die Theorie wurde weder international noch national verstanden, die Praxis noch viel weniger. Die Bank von England musste einspringen, um die Pensionsfonds zu sichern, das Pfund stürzte ins Bodenlose ab, der Immobilienmarkt geriet ins Wanken, der schon durch Brexit und Pandemie gebeutelte Mittelstand stand fassungslos, den eigenen Ruin vor Augen, das nationale Gesundheitssystem erklärte den Bankrott, man könne nicht einmal mehr die kaputten Dächer zentraler Krankenhäuser reparieren, geschweige denn mit der ohnehin schon dünnen Personaldecke die im Winter wieder steigenden Bedarfe decken. Man hatte auf Zuschüsse aus Steuergeldern gehofft. Das Gegenteil war nun eingetreten: Über 400 Milliarden Pfund, die durch nichts gedeckt waren, sollten für die „Steuerreform“ für die Reichen zur Verfügung gestellt werden. Der National Trust als Bewirtschafter großer ökologisch und nachhaltiger Landgüter und ganzer Landschaften meldete Protest gegen die Pläne Mr Rees-Moggs an, das Krankenhauspersonal ruft – endlich – zum Streik auf. Die Lastwagenfahrer hatten ihren Streik wegen des Todes der Queen zurückgestellt.
„The prime minister’s mask has slipped. Her naked case for greed and selfishness will make enemies inside as well as outside her party.“ leitartikelt der Guardian am 5. Oktober 2022. Einer der vielen Kommentare während des Maelstroms an Nachrichten, Katastrophenmeldungen und Analysen und in den Gesprächen in den Tagen nach dem Mini Budget: „Liz Truss hat in ihren drei Wochen Amtszeit mehr für Labour getan als Tony Blair in seiner gesamten Amtszeit.“
Unter dem Druck der eigenen Partei, dem sich sogar ein Michael Gove, Brexit Hardliner und einer der Beförderer des Putsches gegen Teresa May, anschloss, musste Truss ihren im Guardian nun Kwasikaze Kwarteng titulierten Schatzkanzler zurückpfeifen.
Und dann dieser um Würde ringende Auftritt beim Parteitag mit dem musikalischen Fehlgriff, der aus der Fanfare ein Fanal machte. Liz Truss‘ Botschaft hieß hauptsächlich Wachstum. Für die Reichen. Dieser Eindruck blieb. Selten war eine Regierung so absolut auf einem anderen Planeten als das potentielle Wahlvolk, überhaupt, die Bevölkerung, der ein knallharter Winter bevorsteht.
Labour-Chef Keir Starmer konnte fast nichts falsch machen, stand am Ende des Tory Parteitages über 30 Prozentpunkte vor den Tories!
Keir Starmer hat nicht das Charisma eines politischen Visionärs, aber Labour ist entschlossen, Großbritanniens Wirtschaft nachhaltiger aufzustellen, Steuererleichtungen einzuführen für die, die sie wirklich brauchen, Sozial- und Gesundheitssysteme zu stabilisieren und auszubauen. Der Labour-Parteitag zeigte entschlossene Geschlossenheit, die Anhänger Corbyns und seines Flügels haben keine Bedeutung. Labour muss die Steilvorlage jetzt nutzen und sich ganz klar mit einem zukunftsfähigen und überzeugenden Programm für das gebeutelte Land positionieren.
Aber die nächsten Wahlen müssen erst im Januar 2025 stattfinden. Es steht der regierenden Partei zu, den Wahltermin zu bestimmen. Und mögen sie sich auch gerade auf offener Bühne selbst ad absurdum führen, dumm ist die älteste Partei auf der Insel nicht. Und Menschen vergessen schnell den Skandal von gestern angesichts der Versprechungen von heute, zumal, wenn diese gut inszeniert sind.
Das können nun wieder weder Liz Truss noch irgendjemand aus ihrer Crew: Arbeitsminister Rees-Mogg, Gesundheitsministerin Coffrey oder Innenministerin Braverman erst recht Schatzkanzler Kwarteng wirken laut, Truss-affin und vor allem von sich überzeugt, ohne wirklich fachlich oder politisch zu überzeugen. Truss selbst wirkt zunehmend als sei sie auf Abruf, ohne dass sie das schon selbst wüsste. Hält sie jetzt die Bühne frei, damit der premierministernde Schauspieler wieder auftreten kann?
“Life’s but a walking shadow, a poor player/That struts and frets his hour upon the stage/And then is heard no more; it is a tale/Told by an idiot, full of sound and fury/Signifying nothing”. (Shakespeare Macbeth Akt V, Szene 5)
Beate Blatz, Köln
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Oktober 2022, Internetzugriffe zuletzt am 10. Oktober 2022, Übersetzung der englischen Zitate durch die Autorin)