Wechselstimmung – aber wohin?
Unsystematische Gedanken zum Jahresbeginn 2025
„Die meisten Politiker an der Macht unterschätzen derzeit das Mobilisierungspotenzial von Lösungen und guten Emotionen. Wenn es nur Angstszenarien gibt und die anderen positiven und liebevollen Verbindungen untereinander nicht bedacht und gefördert werden, dann entsteht Politikverdrossenheit, der Zug nach rechts außen. Ich denke, dass noch immer Zeit ist, gegenzusteuern, zu lernen, wieder die Agenda zu setzen, statt die Angstmacher nachzuahmen und ein Gestern zu versprechen, das für die Probleme von heute und morgen keine Lösungen bereithält.“ (Jagoda Marinić, „Ich wollte nie Wut werden“, in: taz FUTURZWEI Dezember 2024)
Ob die Parteien, die zurzeit bei der Bundestagswahl um unsere Stimmen konkurrieren, solche Sätze beherzigen? Ich bin skeptisch, denn seit einiger Zeit lebt politische Auseinandersetzung vor allem von negativen Emotionen. Die Wirtschaft geht den Bach runter, Deutschland wird de-industrialisiert, die Kommunen sind überfordert, die Mieten zu teuer und natürlich zahlen wir alle zu viele Steuern und die auch noch für die falschen Dinge. Vielen Politiker:innen fällt dazu dann ein, man müsse mehr auf die „Sorgen der Bürger hören“ (wird in der Regel nicht gegendert) oder man müsse die eigene Politik „besser kommunizieren“. Beide Strategien sind fatal, sie verstärken nur die negativen Emotionen. Entweder verstehen wir, dass man uns bisher eben nicht zugehört hat oder wir ziehen den Schluss, dass die Politiker:innen uns für dumm halten, weil wir eben noch immer nicht verstanden haben, worum es geht.
Unversöhnlich? Carl Schmitt lässt grüßen
Positive Emotionen erleben wir auf so mancher Demonstration, gerade Anfang des Jahres 2024 war es wieder einmal so weit. Hundertausende demonstrierten gegen die von CORRECTIV aufgedeckten Remigrations-Pläne der AfD. Gemeinsamkeit macht stark, aber dann? Es dauerte nicht lange und die demokratischen Parteien reagierten auf den Mord in Solingen mit Vorschlägen, die zwar das Wort „Remigration“ nicht in den Mund nahmen, aber nicht weit davon entfernt waren. Mit dem Sturz des syrischen Diktators wurde es noch schlimmer. Jetzt können die Syrer:innen in Deutschland ja alle wieder zurück, so hieß es, und schon begann der Überbietungswettbewerb, wer denn nun mehr Syrer:innen abschieben wolle. Ein nicht ganz unwichtiger CDU-Politiker meinte, man könne ja das Kriterium einer auskömmlichen Altersversorgung ohne Grundsicherung einführen. Infamer geht es kaum, denn zunächst verhindert man mit einem Bündel von Vorschriften, dass Abschlüsse nicht anerkannt, Arbeitserlaubnisse verweigert werden und macht dann, wenn die betroffenen Menschen nur in einer prekären Beschäftigung, oft unterhalb ihres Ausbildungsniveaus, gelandet sind, ihnen den Vorwurf, dass sie nicht genug für eine auskömmliche Rente verdienten.
Andere fühlen sich schon gut und rechtschaffen, wenn sie als „Antifaschist:innen“ eine Art „Aufstand der Anständigen“ inszenieren, Demonstrationen gegen rechts organisieren oder Petitionen unterschreiben. Damit spiegeln aber auch sie nur die negativen Emotionen derjenigen, die sie lautstark – oft genug zu Recht, aber leider in der Regel wirkungslos – als „faschistisch“ bezeichnen und so die eigene „Wut“ gegen die „Wut“ der anderen setzen. Politische Konsequenzen haben die Demonstrationen eher nicht, auch wenn es im Bundestag immerhin inzwischen einen Gruppenauftrag auf Verbot der AfD gibt, aber wo sind die Demonstrationen, die diese Forderung unterstützen?
Bündnisse oder Gegnerschaften?
Ein zukunftsfähiges Konzept bieten die positiven Emotionen noch nicht. Selbst wohlmeinende Menschen bauen sich immer wieder selbst eine Falle, indem sie nicht müde werden zu betonen, dass doch alle Diskriminierten, Minderheiten für sich selbst sprechen sollten, dass aber die Deutschen, die weißen, bitte zu schweigen hätten. Sie reduzieren von der menschen- und migrationsfeindlichen Rhetorik betroffene Menschen auf eine Opferrolle. Solidarität sieht anders aus. Jagoda Marinić stellt klar: „Wenn ich selbst nur die wütende Tochter von Einwanderern bin, kann es schwierig werden. Ich bin aber mehr und suche von dort aus Bündnisse statt Gegnerschaften. Die Frage ist also: Wie kommen wir von der blockierenden Identitätsfacette in Aggregatzustände der Kooperation? Mir geht es gerade innerhalb der Verwaltung um den Kampf für das Gemeinsame.“
„Gegnerschaften“ grassieren nicht nur zwischen (vermeintlichen) Mehrheiten und Minderheiten, sie grassieren gerade auch unter den Minderheiten, die sich – so ein Buchtitel der sehr gelungenen im Verbrecher Verlag erscheinenden Buchreihe der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main – als „Frenemies“ erweisen, oft genug ohne die ersten beiden Buchstaben. Bündnisse sind „fragil“, wenn nicht gar unmöglich. Es gibt kaum einen Konflikt, der dies so deutlich zeigt wie der sogenannte „Nahostkonflikt“. Meron Mendel und Saba-Nur Cheema, inzwischen mehrfach für ihre Arbeit ausgezeichnet, mit Bundesverdienstkreuz und Buber-Rosenzweig-Medaille, haben sich in ihrem Vortrag zur Veranstaltung „Kunst und Aktivismus in Zeiten der Polarisierung“ (abgedruckt in der Ausgabe für Januar 2025 der Blätter für deutsche und internationale Politik) deutlichst gegen „die Logik des Boykotts“ gewandt und gefragt: „Ist es vielleicht zu viel von Menschen erwartet, egal ob Künstler oder nicht, den Schmerz der anderen wahrzunehmen.“
Ähnlich argumentiert Eva Menasse in der Jüdischen Allgemeinen. Wie schwer es ist, mit den eigenen Argumenten gehört zu werden, lässt sich schon allein daraus ersehen, dass sie sich und PEN Berlin – sie war bis zum 1. November 2024 Co-Sprecherin – regelmäßig gegen den Vorwurf der „BDS-Nähe“ verwahren muss, den zuletzt Lorenz S. Beckhardt erhoben hatte. Eva Menasse wirbt – ebenso wie Meron Mendel und Saba-Nur Cheema für Verständigung statt Konfrontation: „Nicht ‚gebetsmühlenartig‘ haben wir, Deniz Yücel und ich, uns immer und immer wieder gegen Kulturboykotte ausgesprochen, sondern aus voller Überzeugung dessen, was wir im PEN Berlin unter Meinungs- und Kunstfreiheit verstehen: Dass sie nämlich immerzu und für alle gelten muss.“
Carl Schmitt hätte seine Freude an all diesen Konfrontationen und Polarisierungen unserer Zeit gehabt. Es gibt nur noch Freund und Feind, das Politische gibt es nur binär. Aber ist es wirklich ein Kampf gegen Windmühlen, das zu tun, was zumindest Intellektuelle auszeichnen sollte? „Das Undenkbare denken“ – so der Titel eines Statements des jüdischen Israelis Gershon Baskin. Gershon Baskin hatte die Freilassung von Gilad Schalit mitverhandelt: „Zum Ethos Israels gehörte damals, ‚wir lassen niemanden zurück‘. Dieses Ethos gibt es im Jahr 2024 nicht mehr.“ Er nennt Bedingungen für ein Ende des Gaza-Krieges, unter anderem Freilassung alle Geiseln, Rückzug der israelischen Armee aus Gaza. Ähnlich argumentiert der Leiter der Nahostabteilung der International Community Organisation Samer Sinijlawi: „Unsere Geschichte darf nicht unsere Zukunft entscheiden.“ „Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass die Mehrheit der Palästinenser und Israelis wirklich den Frieden will, wirklich. Aber wie ich schon immer gesagt habe, müssen wir jetzt handeln. Denn wenn wir es nicht tun, werden wir nur Verwüstung und Ruin erleben.“ Die Anerkennung des Leids des anderen – das ist die gemeinsame Botschaft.
Ich hätte auch ein anderes Beispiel als den „Nahostkonflikt“ wählen können. Aber kaum ein Konflikt trennt und radikalisiert in so einem hohen Maße, macht so viele Menschen so empathielos. Gebrüll auf Veranstaltungen, Diffamierungen in den sozialen Netzwerken, Boykottaufrufe – das ist nicht die Lösung, und so zeigt es sich auch bei viel kleineren Themen, über die wir in Deutschland demnächst am 23. Februar 2025 entscheiden dürfen. „Wir“ oder „die“ – so schaut es aus und leider spielen die öffentlich-rechtlichen Medien dieses Spiel mit, indem sie jeweils zwei Kontrahenten aufeinander loslassen wollen: Scholz gegen Merz, Habeck gegen Weidel. Es ehrt Robert Habeck, dass er dieses Spiel nicht mitmacht, das letztlich nur noch mehr Öl ins Feuer zu gießen verspricht. Feind gegen Feind – ist das die Botschaft?
Unverzüglich! Wechsel zu sich selbst
So wie mit der oft unspezifischen „Wut“ und „Ablehnung“ bestimmter Politiker:innen verhält es sich mit dem Wunsch nach einem „Wechsel“. Die Demoskopie kennt den Begriff der „Wechselstimmung“, die es zurzeit in Deutschland in der Tat gibt. Nur stellt sich die Frage: „Wechsel“ ja, aber wohin? In den Umfragen wird in der Regel der bisherige Bundeskanzler dem Kandidaten gegenübergestellt, der zurzeit die besten Chancen zu haben scheint, der nächste Bundeskanzler zu werden. Weitere Kandidat:innen spielen in den Graphiken der Demoskopie keine Rolle, obwohl einer der Kandidaten mit seiner Partei zurzeit mit einem der Partei des aktuellen Bundeskanzlers entsprechenden Prozentzahl prognostiziert wird, er selbst sogar in Umfragen deutlich näher an die Werte des allgemein aussichtsreichsten Gegenkandidaten heranreicht als der amtierende Kanzler. Wenn man die Frage anders herum stellte, wen die Bürger:innen nicht oder auf gar keinen Fall wollten, dann gäbe es voraussichtlich niemanden, der eine Mehrheit an Ja-Stimmen in den Umfragen erhielte.
Wechsel? Ja! Unverzüglich! Aber wohin? Das ist in der Tat die Frage. Finden wir in den Parteiprogrammen eine Antwort? Sicherlich nicht, denn Parteiprogramme sind nicht dazu da, nur das Machbare und Realistische aufzuschreiben. Sie sind auch keine Vorwegnahme von Kompromissen, wie man sie in Koalitionsverhandlungen abschließt. Das betrifft nicht zuletzt die Frage der Finanzierbarkeit. Die Parteiprogramme übertreffen sich gegenseitig in Versprechungen von Steuerentlastungen und Transferleistungen für (fast) alle in hohen zwei-, zum Teil sogar dreistelligen Milliardenbeträgen.
Wen soll das überzeugen? Joschka Fischer sagte einmal in einer Talkrunde, es gebe nur einen Plan, der noch unterfinanzierter wäre als alle Parteiprogramme, den „Bundesverkehrswegeplan“, den er treffend als „Wunschkatalog der Verkehrspolitiker und der Autoindustrie“ bezeichnete. Es dürfte kaum Bürger:innen geben, die die Versprechungen der Parteiprogramme ernst nehmen. Im Grunde – das belegen viele Umfragen und Studien – wissen die meisten Bürger:innen sehr genau, welche Problemlagen bewältigt werden müssen und was das kostet: Klimakrise, Verteidigungsbereitschaft, Armut. Wer jedoch glaubt, dass sich diese Probleme durch Steuerentlastungen und Transferleistungen sozusagen von selbst lösten, schürt nur Wut und Hass auf alle die, die den eigenen Interessen im Wege stehen. Politiker:innen, die sich auf ihre Wunschkataloge verlassen, verharren in einer pater- beziehungsweise maternalistischen Pose. Sie inszenieren sich als diejenigen, die alle Lösungen kennen und – wenn man sie nur ließe – diese Lösungen auch von einem auf den anderen Tag umsetzen würden. Sie fordern aber im Grunde nicht mehr und nicht weniger als den Wechsel zu sich selbst. Und wenn das nicht reicht, dann muss man nur einen Feind finden, den es zu bekämpfen gilt, damit alles gut werde.
Koalitionen sind die Patchworkfamilien der Demokratie
Die Bevölkerung ist schlauer als die Politik. Im Grunde wissen alle Wähler:innen, dass keine Partei, kein:e Politiker:in nach der Wahl die reine Lehre der Parteiprogramme umsetzen wird. Es muss und es wird Koalitionen geben. Das ist kein Manko, sondern eine Errungenschaft der deutschen Demokratie, die es in dieser Form in den USA, in Frankreich oder in Großbritannien so nicht gibt. Es ist auch kein Problem, dass wir in Deutschland nicht mehr den mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel zwischen CDU/CSU und SPD erleben, weil ein Wahlergebnis über 30 oder gar 40 Prozent die Ausnahme ist und nicht die Regel.
Es gibt kaum noch Länder in Europa, in denen die Parteien der jeweiligen Regierungschef:innen Wahlergebnisse über 30 Prozent einfahren, in vielen Ländern ist es gang und gebe, dass die stärkste Partei gerade einmal etwa ein Viertel der Wählerstimmen erhält, so zum Beispiel auch in Italien. Giorgia Meloni plant daher, dass die jeweils stärkste Partei automatisch 55 Prozent der Sitze im Parlament erhalten solle, 25 ist die neue 55. Ob sie ihren Plan durchsetzen wird, ist zweifelhaft. Anderswo ist es allerdings gelungen: In Griechenland gibt es einen Bonus von 50 Sitzen für die stärkste Partei. In Ungarn hat Viktor Orbán das Wahlrecht so umgebaut, dass ein Wechsel kaum noch möglich erscheint, allerdings gibt es seit den Europawahlen 2024 Erosionserscheinungen in seiner Partei. In den USA haben die jeweils in den Staaten führenden Parteien es geschafft, durch exzessives Gerrymandering die Grenzen der Wahlkreise so zuzuschneiden, dass sie so gut wie immer gewinnen und sich die Präsidentschaftswahlen in einigen wenigen sogenannten „Swing-States“ mit wenigen 10.000 Stimmen entscheiden.
Fazit: Wer Wechsel verhindern will, könnte über das Wahlsystem regeln, dass er auch nicht erfolgt. Wer immer eine Mehrheit hat, muss sich dann um Minderheiten nicht mehr kümmern. Deutschlands Stärke ist jedoch der Ausgleich zwischen Mehr- und Minderheiten. Diese Botschaft haben offenbar alle demokratischen Parteien vergessen. Stattdessen werden unerfüllbare Forderungen gestellt und die jeweilige Opposition verlangt einfach das Gegenteil von dem, was die Regierung will. Lennart Laberenz schrieb in einem Kommentar zum CDU-Wahlprogramm für die Blätter für deutsche und internationale Politik (Januarausgabe 2025): „Lauter als eigene Inhalte vorzustellen, muss noch immer dem politischen Gegner ‚Versagen‘ vorgeworfen werden.“ Denn: „Es geht erkennbar nicht um Kohärenz, sondern um vertraute Schlüsselbegriffe, um wohlige Tonlagen.“ Wir sind die Guten – so lautet die Botschaft. Da verspricht man schnell auch Absurdes, so wie neben den Steuerentlastungen beispielsweise die vielen kleinen Kernkraftwerke um die Ecke und die Kernfusion, von denen der Kanzlerkandidat der CDU in einer Talkshow sprach. Das ist offenbar die Alternative der CDU zum russischen Gas, von dem AfD und BSW schwadronieren. Lennart Laberenz beginnt seinen Kommentar zum CDU-Programm mit folgenden Sätzen: „Der Astrophysiker Harald Lesch hat vor einiger Zeit einen schönen Satz gesagt: Man dürfe nicht denken, nur weil man sich etwas denken könne, passiere das auch. Damit zog er einen Schlussstrich unter die Kernfusion, kleine modulare Reaktoren, überhaupt das Zukunftsversprechen des Atoms.“
In der Bundesrepublik Deutschland sind Koalitionen seit 1949 an der Tagesordnung. Koalitionen sind aber nicht nur Koalitionen von Parteien, sondern auch Koalitionen von Einstellungen, sogar von Weltbildern. Lassen sich einander gegensätzlich erscheinende Anliegen vielleicht doch miteinander verbinden? Die rhetorische Figur der Versöhnung von Ökonomie und Ökologie gibt es schon seit über 30 Jahren, wird auch immer wieder bemüht, allerdings oft ohne nähere Spezifizierung, was das genau bedeutet. Wessen Haushalt? Wessen Ökonomie? Wessen Ökologie? Und was bedeutet die ein oder andere Maßnahme für das Wechselspiel von Ökonomie und Ökologie? Parteiprogramme, Wahlplakate, Posts postulieren, Dilemmata vermeiden. Sie pflegen große Worte. „Frieden“, „Gerechtigkeit“, „Wohlstand“.
Manche sprechen auch von „Vielfalt“, das ist aber eher nicht konsensfähig. Stattdessen klingen Programme und Wahlkampfauftritte eher wie Weihnachts- und Neujahrsansprachen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers: „Gemeinsamkeit“, „keine Spaltung“. Wir sind doch alle irgendwie wirklich „ein Volk“. Oder etwa nicht? Aber was ist eigentlich mit all diesen großen Worten gemeint? Und was können Politiker:innen überhaupt bewirken? Es wäre vielleicht an der Zeit, dass Politiker:innen nicht nur sagen, was sie können, sondern auch das, was sie nicht können.
Eine Politikerin, die dies (inzwischen) offen und ehrlich ausspricht, ist Ricarda Lang. Sie befreite mit ihrem Rücktritt vom Amt der Parteivorsitzenden nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Partei. In den Blättern für deutsche und internationale Politik (Januar 2025) formulierte sie unter der Überschrift „Mit Selbstkritik und Zuversicht“ das Dilemma, in das sich die demokratischen Parteien selbst hineinmanövriert hatten: „Eine abnehmende Koalitionsfähigkeit geht einher mit der zunehmenden Notwendigkeit immer größerer und heterogener Koalitionen.“ Es ist sinnlos und kontraproduktiv, sich als „die Guten“ zu inszenieren und die anderen als „die Bösen“ zu brandmarken. Das ging in den USA gerade schief. Die Erfolglosigkeit dieser Strategie führte jedoch nicht zum Umdenken, sondern zur Verschärfung des eigenen Profils, zur „Hyperpolitisierung von Nebensächlichkeiten“, gepaart mit der „Entpolitisierung des Politischen – und in der Folge ihre Infantilisierung.“ Die eigentliche Botschaft – so ließe sich der Gedankengang von Ricarda Lang fortsetzen – lautet: Ihr, die Bevölkerung, ihr seid die Kinder, wir Politiker:innen sind Papa und Mama, die schon wissen, was für euch das Beste ist. Wer war noch unser aller „Mutti“? War die nicht die Ehefrau von „Vater Staat“? Aber wie im wirklichen Leben haben wir auch im politischen Alltag Patchworkfamilien.
Vertrauen? Nein, Zutrauen!
Muss man der Politik „vertrauen“? Folgt man all den vielen Talkshows und Meinungsumfragen, offenbar ja. Aber wie verschwindet es, wie entsteht Misstrauen? Ricarda Lang: „Letztlich zerstört es das Vertrauen in den Staat, wenn die Politik es gerade in jenen Fragen nicht hinbekommt, auf die ich mich sogar mit meiner Nachbarin und meinem Onkel einigen kann.“ Pünktliche Bahnen, verlässlicher Nahverkehr, schnelles Internet, gesunde Kommunalfinanzen, verlässliche Kinderbetreuung, wirksamer Klimaschutz – sind das wirklich parteipolitisch beziehungsweise ideologisch verbrannte Themen? Es mag Leute geben, die als Verkehrsmittel nur das Auto akzeptieren, es mag immer noch welche geben, die meinen, dass sich die Frauen um die Kinder kümmern sollten. Die Realität ist jedoch eine andere. Die meisten Menschen denken viel differenzierter als ihnen die Politiker:innen dieses zutrauen. Es geht eben nicht darum, dass die Menschen den Politiker:innen „vertrauen“. Dies ist nur der Wunsch von Politiker:innen, die geliebt werden wollen, so wie Eltern von ihren Kindern und Kinder von ihren Eltern geliebt werden wollen. Es geht um Zutrauen. Traue ich den Menschen zu, selbst zu einer Lösung der Probleme beizutragen, sich miteinander auf eine Lösung zu verständigen?
Möglicherweise wird „Vertrauen“ in politischen Debatten mit Interesse verwechselt. Wenn ich jemanden das „Vertrauen“ abspreche, emotionalisiere ich die Frage danach, wer an welchen Maßnahmen, an welcher Politik welches Interesse hätte. Und bezieht sich dieses Interesse nur auf Personen oder nicht auch auf die Natur, unsere natürlichen Lebensgrundlagen? Kann ich nur jemandem „vertrauen“, der meine eigenen Interessen vertritt und die dann auch noch durchsetzt? Möglicherweise schade ich mit der Durchsetzung meiner Interessen anderen, die dann ihrerseits geschwundenes „Vertrauen“ beklagen? Und wie sähe eine Hierarchie der Interessen aus, wie erreiche ich einen fairen Interessenausgleich?
Fördere ich mit der ständigen Beschwörung von „Vertrauen“ nicht gerade das, was ich verhindern will? Das lässt sich sehr schön an einem anderen internationalen Thema belegen, das neben dem „Nahostkonflikt“ die Medien dominiert. Eva Wolfangel hat dies in einer Reportage für die ZEIT am Beispiel der jüngsten Wahlen in Moldau beschrieben: „Erst kommen die Memes, dann die gekauften Wählerstimmen“. Sie zitiert Ana Revenco, ehemalige Innenministerin in Moldau und jetzt Leiterin des Center for Strategic Communication and Countering Disinformation: „Der hybride Angriff Russlands, sagt Revenco, gelte dem Vertrauen. Vertrauen in die Demokratie, aber auch Vertrauen in seine Nachbarn, in die Menschen um einen herum. Vertrauen sei der Kitt, der eine Gesellschaft und eine Demokratie zusammenhält. Auch dann, wenn es mal schwierig wird, wenn es kriselt, wenn es Sorge gibt vor wirtschaftlich schwierigen Zeiten, Angst vor dem Krieg im Nachbarland. Darauf zielt Russland ab: dass dieses Vertrauen bricht.“
So weit sind wir in Deutschland nicht. Im Gegenteil: Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser haben in ihrer Studie „Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ (Berlin, edition suhrkamp, 2023) belegt, dass – ich nehme den Gedanken von Ricarda Lang auf – Onkel, Nachbarin und wir (fast) alle uns auf mehr einigen können als es uns viele Politiker:innen zutrauen. Und weil sie uns Bürger:innen, uns Wähler:innen offenbar immer weniger zutrauen, sich den Krisen unserer Zeit zu stellen, flüchten sie sich in monetäre Versprechungen, sprich: Steuersenkungen und Transferleistungen für alle und fast jede:n. Das ist nicht weit weg von einem direkten Kauf von Stimmen.
Die Erfahrungen verschiedener Diktaturen und autoritärer Systeme, auch derjenigen, die sich wie in Ungarn, in der Slowakei oder in Argentinien, bis vor kurzer Zeit auch in Polen ein demokratisches Mäntelchen umhängen, zeigen, was manche Politiker:innen am meisten fürchten: Selbstständig denkende und aktive Bürger:innen. Eben dafür steht Europa, eben dafür steht Deutschland, aber viele Europäer:innen, viele Deutsche haben offenbar vergessen, dass dies die europäische DNA ist und verkriechen sich in die Bewunderung paternalistischer Politikkonzepte, die alle das Potenzial haben, die bürgerlichen Freiheiten Schritt für Schritt abzuschaffen.
Aber wir Bürger:innen sind stark. Drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit. In München wollte ein Investor die Mieter:innen eines Wohnhauses vertreiben, doch was geschah? Die Mietergemeinschaft kaufte das Wohnhaus. Kneipen sterben, doch auch hier gelingt Selbsthilfe. In einem britischen Städtchen retteten die Bürger:innen den Alhampton Community Pub, in Bayern gelang es den Bürger:innen, ihre Dorfwirtschaft in Wölsammerhammer zu übernehmen. Vielleicht sollten Politiker:innen solche Initiativen in den Vordergrund ihrer Argumentationen und Programme stellen? Da wären sie, die „guten Emotionen“, von denen Jagoda Marinić sprach! Da entsteht „das Gemeinsame“! Und das auch noch nachhaltig!
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Dezember 2024, Internetzugriffe zuletzt am 27. Dezember 2024. Titelbild: Hans Peter Schaefer aus der Serie „Deciphering Photographs“.)