Wir werden wieder tanzen!
In memoriam Shani Louk, Shiri, Ariel und Kfir Bibas
Der 7. Oktober hat die Welt verändert. Im Süden Israels fand das größte Massaker an Jüdinnen und Juden seit der Shoah statt und seitdem hat der Antisemitismus ein Ausmaß erreicht, den wir uns nie hätten vorstellen können: Israelfeindliche Protestcamps an Hochschulen, Anfeindungen auf offener Straße, jüdische Studierende wurden an den Hochschulen oder sogar auf offener Straße angegriffen und zusammengeschlagen, Wohnungen von Jüdinnen und Juden wurden markiert, antisemitische Hetze auf sozialen Medien.
„We will Dance again“
Diese Worte ließ sich Mia Schem, die am 7. Oktober während des Nova Musikfestivals durch die Terroristen der Hamas entführt wurde und später befreit wurde, tätowieren. Seitdem ist dieser Satz ein Zeichen der Hoffnung für Jüdinnen und Juden weltweit geworden.
„Wir werden wieder tanzen!“ ist eine szenische Collage. Sie präsentiert Songs von Leonard Cohen und Antilopen Gang, Gedichte von Nelly Sachs, Else Lasker-Schüler, Selma Meerbaum-Eisinger und anderen, eigens für die Veranstaltung geschriebene Szenen sowie Testimonials von (nicht nur) jüdischen Autor:innen, mal ernst, mal komödiantisch, mal sarkastisch oder nachdenklich und immer poetisch, musikalisch untermalt oder illustriert reflektiert unsere Collage die Auseinandersetzung der Menschen damals und heute mit den Ereignissen um sie herum und macht auf den Zwiespalt vieler Juden aufmerksam, die zwischen Koffer packen und dem Glauben, dass es Antisemitismus in einer aufgeklärten Gesellschaft nicht mehr geben darf, stehen.
„Wir werden wieder tanzen!“ ist ein bitter-süßer Abend, der, neben dem regulären Theaterpublikum auch junge Menschen in Schulen und Bildungseinrichtungen erreicht. Die Aufführungen werden durch das Büro der Antisemitismusbeauftragten des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert. Die Texte wurden von Sophie Brüss, Norbert Reichel und Jürgen Reinecke zusammengestellt und zum Teil eigens für dieses Projekt geschrieben, so auch die Szene „Deutsche unter den Opfern“.
Deutsche unter den Opfern
Das ist einer der Texte der szenischen Collage. Er entstand unter Verwendung eines Textes des Redaktionsnetzwerks vom 15. August 2024 und mehrerer Texte der Jüdischen Allgemeinen, das Gespräch von Michael Thaidigsman mit Ricarda Louk, der Mutter von Shani, vom 7. April 2024. Die Jüdische Allgemeine druckte zum 6. März 2026 eine Sonderausgabe zum Tod von Shiri, Ariel und Kfir Bibas mit der ergreifenden Trauerrede von Yarden Bibas: „Verzeiht, dass ich euch nicht beschützen konnte“, in dieser Ausgabe enthalten sind auch das Editorial des Chefredakteurs Philipp Peyman Engel „Zachor!“, der Nachruf von Sophie Albers Ben Chamo „Lebt wohl, liebe Gingim“, ein Bericht von Lars Nicolaysen über die Obduktionsergebnisse von Shiri, Ariel, Kfir, die nicht wie von der Hamas behauptet bei einem israelischen Luftangriff ihr Leben verloren hatten, sondern kurz nach der Entführung ermordet wurden, sowie der Bericht von Michael Thaidigsmann und Sophie Albers Ben Chamo über ihre Gespräche mit Eli Charabi „Ich rede über alles“.
Die hier zu lesende Fassung von „Deutsche unter den Opfern“ wurde am 9. März aktualisiert. Sophie Brüss, Gerrit Pleuger und Jürgen Reinecke haben sie auf die Bühne gebracht.
Die szenische Collage ist allen von der Hamas ermordeten, entführten und noch gefangengehaltenen Menschen gewidmet. Bring Them Home Now! All of them!
Gerrit: Mein Mann war kürzlich bei der UNO in New York und hatte dort mit Vertretern arabischer Staaten zu tun. Die behaupteten, israelische Soldaten würden palästinensische Frauen vergewaltigen und Kinder ermorden. Ohne jegliche Basis. Als er dann Shanis Geschichte erzählte, war das ein fast hoffnungsloses Unterfangen. Nissim zeigt oft zwei Bilder, eines von Shani, auf dem sie als lebensfrohe junge Frau abgebildet ist, und jenes hässliche Bild, wie sie auf dem Pick-Up-Wagen liegt. Er will dem Gegenüber damit zeigen: Sie war nur ein Mädchen, das tanzen, lachen, Spaß haben wollte. Deswegen wurde sie von diesen Monstern umgebracht. Er will signalisieren: Schaut euch diese beiden Bilder an und sagt mir, auf welcher Seite ihr lieber steht, auf der kriegerischen, die Mädchen vergewaltigt und verschleppt und ermordet, oder auf der anderen Seite, auf der junge Leute auf ein Musikfestival gehen können, um Spaß zu haben.
Sophie: Das sagt in einem Interview Ricarda Louk, die deutsche Mutter von Shani Louk, deren Verschleppung am 7. Oktober überall zu sehen war. Sie wurde offenbar unmittelbar nach oder bei der Entführung ermordet. Shani Louk war Deutsche. Doch als ihre sterblichen Überreste aus Gaza geborgen wurden, war es kaum eine Meldung seitens der Bundesregierung wert.
Jürgen: Ja, Deutsche unter den Opfern. Das hören wir doch immer in den Nachrichten, bei Flugzeugabstürzen, bei Naturkatastrophen. Warum nicht jetzt?
Gerrit: Das Auswärtige Amt hat bisher keine Liste herausgegeben, nicht einmal eine Zahl. Es spricht in einer Presseerklärung von einer „niedrigen zweistelligen Zahl von Personen mit Deutschlandbezug“.
Sophie: Die Jüdische Allgemeine nannte am 7. April 2024 die Namen und das Alter von 14 Geiseln, die im Rahmen eines Deals zwischen Israel und der Hamas im November freigelassen wurden: Aviv Asher (2 Jahre alt), Raz Asher (5), Raz Ben-Ami (57), Shoshan Haran (67), Doron Katz-Asher (34), Rimon Kirsht-Buchshtab (36), Margalit Moses (78), Yarden Roman-Gat (36), Amit Shani (16), Adi Shoham (38), Naveh Shoham (8), Yael Neri Shoham (3), Or Yaakov (16), Yagil Yaakov (12).
Jürgen: Das Redaktionsnetzwerk hat am 15. August 2024 während der Verhandlungen in Doha weitere Namen veröffentlicht. In der Gewalt der Hamas war bis vor Kurzen noch Hersh Goldberg-Polin. Er ist eine der sechs Geiseln, die die Hamas kurz vor ihrer Befreiung ermordete. Fußballfans im Bremer Weserstadion zeigten mit einem riesigen Transparent zu seinen Ehren mehr Rückgrat als weite Teile der Politik und Zivilgesellschaft.
Gerrit: Da ist Shiri Silberman-Bibas, 33 Jahre alt, mit ihren beiden Jungs Kfir, der bei seiner Entführung gerade neun Monate alt war und im Januar 2025 zwei Jahre alt geworden wäre, und Ariel, im August 2024 gerade fünf Jahre alt geworden. Die Hamas zeigte ein Bild, bei Yarden, Vater von Kfir und Ariel und Ehemann von Shiri, erfahren haben soll, dass sie tot wären. Beide wurden unmittelbar nach der Entführung ermordet. Die Kinder wurden mit bloßen Händen erwürgt. Im Gegenzug zur Übergabe der Leichen von Shiri, Ariel und Kfir hat Israel der Hamas 90 lebendige Terroristen übergeben. Yarden Bibas hielt bei der Beerdigung der im Februar 2025 von der Hamas übergebenen Geiseln eine beeindruckende Rede. Er bat Shiri, Ariel und Kfir um Vergebung, dass er sie nicht habe beschützen können: „Verzeiht, dass ich euch nicht beschützen konnte“. Er selbst wurde von der Hamas angekettet in einem Tunnel gehalten, zum Teil in einen Käfig gesperrt. Es gab – wie Eli Sharabi nach seiner Freilassung berichtete – oft gerade einmal 200 bis 300 Gramm Brot am Tag, etwas Wasser zum Duschen einmal im Monat.
Sophie: Wie die Bibas-Familie lebte Arbel Yehoud (29) im Kibbuz Nir Oz. Von dort wurde sie am 7. Oktober verschleppt. Ihr Urgroßvater, ein Hamburger Kunstlehrer, war 1935 vor den Nazis geflohen und verbrachte seinen Lebensabend in dem Kibbutz, aus dem seine Urenkelin, ihr Freund Ariel Curio (27) und dessen Bruder David Curio (34) entführt wurden. David Curio wurde vor zehn Jahren noch als Schauspieler („Youth“) auf der Berlinale gefeiert.
Jürgen: Daran wollte sich bei der Berlinale 2024 niemand erinnern, aber die Veranstalter gaben auf der Bühne Raum für pro-palästinensische – besser: anti-israelische – Kundgebungen. Und niemand intervenierte, auch die politische Prominenz schwieg.
Gerrit: Gadi Moses wurde ohne Brille, Medikamente und Hörhilfe gefangen genommen, in Gaza wurde er 80 Jahre alt. Sein Vater kam aus dem Schwalm-Eder-Kreis. In Treysa finden sich am ehemaligen Haus seiner Großeltern und seines Vaters Stolpersteine. Nach der Ermordung seiner Eltern floh Moses‘ Vater im Alter von 16 Jahren vor den Nazis in das Mandatsgebiet Palästina. Einige Wochen nach dem 7. Oktober war Gadi Moses auf einem Video des Islamischen Dschihad zu sehen.
Jürgen: Die israelische Regierung geht bei den genannten und allen anderen entführten Deutsch-Israelis davon aus, dass sie noch am Leben sind oder zumindest sein könnten. Bestätigt wurde der Tod von fünf Geiseln: Shay Levinson (19), Itay Chen (19), Tamir Adar (38), Itai Svirsky (38) und Yair Yaakov (59) haben die Geiselhaft nicht überlebt, ihre Leichen werden noch von der Hamas festgehalten.
Gerrit: In Frankreich hat die Regierung die Namen aller französischen Geiseln veröffentlicht. In den USA sind die „Gaza Six“, wie die US-amerikanischen Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in der Gewalt der Hamas dort genannt werden, ständig bekannt. Der deutschen Bundesregierung, weder Kanzler noch Außenministerin, war die Beerdigung von Shiri, Ariel, Kfir, alle drei deutsche Staatsbürger, keinen einzigen Satz wert. Es blieb der Zivilgesellschaft überlassen. Die Omas gegen Rechts und die deutsch-israelische Gesellschaft riefen am 20. Februar 2025 in Hannover zu einer Mahnwache auf. Etwa 100 Menschen nahmen teil.
Sophie: Bring them home und Say their names – gilt das auch hier oder sind deutsche Opfer in Israel nur Bürger zweiter Klasse?
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung am 9. März 2025, Internetzugriffe zuletzt am 9. März 2025. Das Titelbild zeigt ein Bild der Mahnwache der Omas gegen Rechts in Hannover am 20. Februar 2025, Foto: Bernd Schwabe. Wikimedia Commons.)