Yes, we can

Sandro Witt über Demokratie in der Arbeitswelt

„Demokratie endet nicht vorm Werkstor. Die Demokratie wird vor und hinter dem Werkstor verteidigt.“ (Sandro Witt)

Sandro Witt ist Leiter des DGB-Koordinierungsprojekts Betriebliche Demokratiekompetenz beim DGB-Bundesvorstand, die aus Mitteln des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gefördert wird. Er wurde 1981 in Pirna geboren, verbrachte einige Jahre seiner Kindheit in einem Kinderheim, wurde anschließend Punk. Er absolvierte nach diversen prekären Beschäftigungen eine Ausbildung zum Bürokaufmann und hat sich in Thüringen in der Partei „Die Linke“, zeitweise im Parteivorstand, engagiert, ebenso im DGB, auch dort mehrfach in leitenden Positionen. Während seiner Ausbildung hat er eine Auszubildendenvertretung gegründet, von der mit der Zeit auch sein Chef recht angetan war. Auf seiner Internetseite charakterisiert er sich als „Arbeiterkind – Gewerkschafter – Antifaschist“, er ist Mitglied der IG Metall. In seiner Biographie vermerkt er: „Familienstand: glücklich“. Auf seiner Internetseite veröffentlicht er regelmäßig lesenswerte Statements zur aktuellen politischen Lage. Die Kommentarfunktion hat er – aus nachvollziehbaren Gründen – abgestellt.

Sandro Witt. Foto: privat.

Die Gewerkschaft wurde für ihn Dreh- und Angelpunkt seines Engagements. Er vertritt auch aufgrund seiner persönlichen Erfahrungen die These, dass eine wirkmächtige Organisation, wie es die Gewerkschaften sind, zivilgesellschaftliches Engagement für die Demokratie nachhaltig stärkt. Der unmittelbare Kontakt im Betrieb hilft, anti-demokratische Ressentiments auflösen, die Einrichtung eines Betriebsrates schafft Verlässlichkeit.

Vieles von dem, das Sandro Witt über die Erfahrungen seines Projekts nennt, gleicht den Erfahrungen des aula-Projekts von Marina Weisband, das sie zuletzt anlässlich ihres Buches „Die neue Schule der Demokratie“ auch im Demokratischen Salon vorgestellt hat. Letztlich geht es Entscheidend um Selbstwirksamkeitserfahrungen der Beschäftigten ebenso wie der Schüler:innen, die mit der Zeit erleben, dass sie selbst ihren Alltag, im Betrieb, in der Schule wie in der Gemeinde gestalten können. Wie dies sich in einem Betrieb verwirklicht, zeigt das Vorstellungsvideo, in dem stellvertretend drei Projekte vorgestellt werden: „Zusammen anders! Betriebe leben Vielfalt“ mit Sitz in Frankfurt, „CHiB – Couragiert Handeln im Betrieb“ mit Sitz in Saarbrücken und „Zuhören.Verstehen.Handeln – Empowerment für Beschäftigte zur Förderung von demokratiebewusstem Agieren“ mit Sitz in Jena.

Die Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz

Norbert Reichel: Was darf ich mir unter der Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz vorstellen?

Sandro Witt: Die Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz beruht im Kern auf einer Entscheidung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nach dem Mord an Walter Lübcke. Nach diesem Mord wurde ein Kabinettausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus eingerichtet. Der Ausschuss hat Stellungnahmen aus der Zivilgesellschaft eingefordert. Der DGB hat auf rechtsextreme Einstellungen in der Arbeitswelt verwiesen, denen man sich auf verschiedenen Ebenen stelle, aber man sei auf Unterstützung angewiesen. Daraus entstand die Initiative Betriebliche Demokratiekompetenz, die – zusammengefasst – in der Arbeitswelt interveniert und längerfristig Prozesse in der Arbeitswelt begleitet, mit regionalen und branchenbezogenen Projektteams unterschiedlicher Träger, mit den Beschäftigten, mit Betriebsräten, mit Personalleitungen, mit Arbeitgebern, aber auch in Berufsschulen, mit Schüler:innen, mit den Lehrkräften.

Zur Ausgangslage: Auf der einen Seite finden wir sehr hohe Zustimmungswerte zur Demokratie vor. Auf der anderen Seite gibt es viele Rückfragen, worum es in der Demokratie überhaupt geht. Nicht nur im Osten, wie manche glauben, dass gilt überall in Deutschland. Es gibt viele Menschen, die fragen, wie man sich außerhalb von Wahlen beteiligen könne. Wir haben uns dem gestellt und gesagt, es gehöre zur Demokratiekompetenz, Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus einordnen, dechiffrieren zu können, aber auch zu wissen, was man auf betrieblicher Ebene machen könne, beispielsweise über eine Betriebsvereinbarung mit dem Arbeitgeber, indem man bestimmte Maßnahmen gemeinsam mit dem Arbeitgeber gestaltet. Das ist die Oberfläche, aber dahinter stecken langfristige Prozesse.

Es klingt etwas schräg, wenn ich sage, es mangelt an Demokratiekompetenz. Ich denke, es ist auch nicht gut, den Leuten auf den Kopf zu zu sagen, es fehle ihnen Kompetenz. Das machen unsere Teams natürlich nicht so direkt, indem sie jemandem sagen, was er oder sie nicht können. Es ist auch eine diffuse Welt, es gibt einen Überfluss an Informationen, gerade über soziale Netzwerke. Unsere Angebote sollen helfen, dies zu strukturieren.

Norbert Reichel: Du nanntest eben die Frage, wie man sich außerhalb von Wahlen „beteiligen“ könne. In dem Schulprojekt von Marina Weisband erwiesen sich beispielsweise die Toiletten als hochpolitisches Thema. Gibt es ähnliche Erfahrungen in dem von dir geleiteten Projekt?

Sandro Witt: Die Beteiligung, die wir organisieren, hat zwei Ebenen. Das eine ist ein Zugang zum Betrieb über Betriebsräte, die bereits gemeinsam mit den Beschäftigten das Zusammenleben gestalten. Auch da zum Beispiel das Thema Toiletten, das Thema Pausenräume. Betriebsräte haben eine Menge Themen auf dem Zettel. Die zweite Ebene – das ist mir besonders wichtig – ist eine Arbeitswelt, in der es keine Betriebsräte gibt. Wir haben in Deutschland, in allen Landesteilen, große Unternehmen mit starken Betriebsräten, viel Mitbestimmung, aber wir haben auch viele kleine und mittlere Unternehmen, in denen es leider keine Betriebsräte gibt.

Ich arbeite seit 20 Jahren in und mit Gewerkschaften. Und wir erklären immer wieder, dass es ein Betriebsverfassungsgesetz gibt. Die Einrichtung eines Betriebsrates ist keine Kann-Bestimmung, sondern für alle Betriebe mit mindestens fünf Beschäftigten vorgeschrieben, aber oft hängt es auch an den Kolleg:innen, ob sie das einfordern. Wir sind jetzt nicht diejenigen, die den Kolleg:innen sagen, sie sollten einen Betriebsrat einrichten, das ist die Aufgabe der Gewerkschaften. Natürlich weisen wir auch auf das Betriebsverfassungsgesetz hin. Keine Frage. Wir organisieren Beteiligungen dort, wo es keinen Betriebsrat gibt. Wir flankieren im Grunde alles, was es an Möglichkeiten gibt, sich zu beteiligen, auch im Rahmen des Antidiskriminierungsgesetzes.

Da gibt es oft eine Geschäftsführung, die spürt, dass in dem Betrieb etwas nicht stimmt. Das ist schon einmal eine gute Voraussetzung. Es gibt Diskussionen im Betrieb, Leute wurden laut, gingen aufeinander los, auch bei Fragen, die nicht unmittelbar mit dem Betrieb etwas zu tun haben, zum Beispiel zum Thema Ukraine-Russland. Das sind die spannenden Momente, beispielsweise auch bei der händeringenden Suche nach Fachkräften. Da gab es Anrufe bei uns, wo wir gebeten wurden zu intervenieren, wie wir den Betrieb unterstützen könnten, auch Fachkräfte hinein zu holen, die die Diversität des Betriebs erhöhen. Ich vermeide gerade einen anderen Begriff.

Die Arbeitgeber, die sich an uns gewendet haben, denken, das ginge ganz schnell. Wir kämen vorbei und dann würde das geregelt. Aber die Probleme liegen oft tiefer und es muss einiges geklärt werden, bevor man sich bereiterklärt.

Demokratie braucht Zeit und einen Werkzeugkasten

Die Verteilung der Projekte. Screenshot des Vorstellungsvideos.

Norbert Reichel: Wo liegt das Problem konkret?

Sandro Witt: Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt das knallharte Thema Rassismus, das bekommt man schnell mit. Aber das ist schwierig. Bearbeitet man das Problem konkret, stellt man fest, dass dahinter unter der Oberfläche ganz andere Themen liegen. Wir reden von Betrieben ohne Mitbestimmung, von Betrieben ohne Tarifbindung. Da geht es um die Ausgestaltung der Arbeitsplätze, den Lohn. Darauf will ich das nicht verkürzen, denn das wäre eine Verharmlosung von Rassismus. Oft spielt der Einfluss der gesellschaftlichen Debatte eine zentrale Rolle, die rassistisch vergiftet ist. Dann wird versucht – ich sage ganz bewusst „versucht“ – eine Brücke zu bauen, um sich den eigentlichen Problemen zu entziehen.

Ich habe persönlich einmal abgefragt, was die drei drängendsten Probleme wären. Ich nenne den Betrieb nicht, es war aber ein Betrieb mit etwa 300 Leuten, noch KMU. Dort kam tatsächlich zurück, in der jetzt von mir genannten Reihenfolge: Die Öffentlich-Rechtlichen erzählen nur Blödsinn. Keine Organisation in Deutschland hat Ideen, die in Berlin machen was sie wollen. Der dritte Punkt: das Gendern.

Ich habe gefragt, was sich für den Betrieb verbessere, wenn wir diese Themen bearbeiten. Damit hatte ich sie. Es dauerte ein paar Minuten, aber dann ging es um andere Themen: Arbeitszeiten, Verlustängste, wenn man sich öffnet. Es ist immer ein langer und steiniger Weg. Ich sage es ganz deutlich: Das ist kein kurzfristiges Projekt, das geht auch nicht in Vierjahresfristen. Ein Projekt wie das unsere müsste verstetigt werden.

Norbert Reichel: Das ist eine Daueraufgabe!

Sandro Witt: Eine Daueraufgabe! Dafür werben wir zurzeit. Betriebsräte können, mit Unterstützung der Gewerkschaften Betriebsvereinbarungen abschließen. Gewerkschaften unterstützen Betriebsräte und Beschäftigte, wenn diese sich für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft entscheiden. Wir schulen zum Thema Antidiskrimierung und so weiter. Aber die Arbeit im Betrieb bleibt am Ende Betriebsratsaufgabe.

Norbert Reichel: Du hast es nach zwanzig Minuten geschafft, dass die Leute merken, es geht um mehr als ihr – ich sage es einmal so – allgemeines Unbehagen. Niemand zwingt jemanden, Sternchen zu malen, auch wenn manche das glauben. Das was eigentlich drückt, sind Arbeitszeit, Arbeitsbedingungen, Gestaltung des Arbeitsplatzes. Werden die Leute nach eurer Intervention und Begleitung weniger rassistisch?

Sandro Witt: Ich kann mich auf Studien beziehen. Es gibt mehrere, nicht nur von gewerkschaftsverdächtigen Stiftungen, die nachgewiesen haben, dass sich in der Arbeitswelt Menschen begegnen und die Probleme, die Herausforderungen, die sich im Gesellschaftlichen ergeben, im Betrieb ausleben. Im Betrieb kann man sich nicht aus dem Weg gehen, da trifft man sich ständig.

Norbert Reichel: Wie in der Schule.

Sandro Witt: So wie Marina Weisband das sagt, es geht um Beteiligung. Menschen treffen sich, diskutieren miteinander, manchmal recht faktenfrei, manchmal faktenbasiert, manchmal mit Verschwörungserzählungen, aber sie sind in einer Auseinandersetzung. Diese Auseinandersetzung ist im Kern sehr wichtig. Gleichzeitig wissen wir, dass da, wo strukturierter diskutiert wird – damit bin ich wieder bei den Betriebsräten –, dass da, wo sich Kolleg:innen organisieren, wo sie Selbstwirksamkeitserfahrungen im Betrieb machen, wo sie gestalten können, dass dort die Neigung – ich zähle die Ismen jetzt nicht alle auf – zu autoritären Strukturen viel niedriger ist als bei denen, die das nicht haben, und gleichzeitig Ismen, Menschen verachtende Einstellungen zurückgehen. Das einzige Item, das nicht zurückgeht, sind antifeministische Einstellungen, die Frage von Hass auf Frauen, die bestimmte Positionen einnehmen, auch Wut, die sich ausdrückt in Pöbeleien. Das erlebe ich seit vielen Jahren, das müsste man meines Erachtens tiefer erforschen.

Wir verändern konkret nichts, wir geben Werkzeug, Kompetenzen an die Hand. Besonders wichtig ist mir folgender Punkt: Wir haben gute Erfahrungen gemacht, wenn die Personalleitung und die Beschäftigten gemeinsam die jeweilige Problematik bearbeitet und unsere Leute sie fachlich begleitet haben. Wenn man diesen Weg zwei, drei oder vier Monate gemeinsam gegangen ist und sich Mechanismen einstellen, dass man etwas sagen darf, dass man befähigt ist, dass man bestimmte Prozesse gemeinsam voranbringen kann, dann spürt man etwa im vierten Seminar, dass sich die Sprache verändert, dass das Verständnis untereinander da ist, dass sich möglicherweise Kompetenzen automatisch entwickeln, die jeder Einzelne in sich hat. Es geht um die Rückkehr in sachliche Diskurse und gleichzeitig das Gefühl, wahrgenommen zu werden.

Das ist für mich der entscheidende Punkt! Ich erlebe, wie sich Menschen mit ihren Positionen erst einmal wahrgenommen fühlen, auch wenn das nicht die Positionen sind, die ich für richtig halte, aber es wird sichtbar, wie gut sich die Betriebsangehörigen damit fühlen und wie sich ihre Sichtweisen verändern. Ganz persönlich finde ich das fantastisch. Das sagt meines Erachtens sehr viel über den Diskurs aus, wie wir ihn führen sollten.

Das Ende der Patriarchen

Norbert Reichel: Ich würde gerne auf den antifeministischen Aspekt zurückkommen. Die letzte Leipziger Autoritarismusstudie wies darauf hin, dass der Antifeminismus die Brückenideologie zum Rechtsextremismus – ich ergänze: möglicherweise auch zum Islamismus – ist. Ein zweiter Aspekt, über den wir sprechen sollten, ist die Hierarchie in KMU. Es gibt die vielen Patriarchen, oft auch schon über 60, 70 oder sogar 80 Jahre alt, die genau wissen, wie es geht und andere Meinungen nicht gelten lassen. Vielleicht hängen die beiden Aspekte sogar miteinander zusammen?

Sandro Witt: Ich fange mal mit dem Patriarchen an. Ich kenne solche Betriebe. Ich kenne auch den Küchentisch, an dem im Handwerk alles geklärt wird. Kurz: Wir leben im Kapitalismus, es gibt Privateigentum, und da gibt es Firmeneigner – in der Regel Männer –, die sich auch so benehmen, weil sie der Meinung sind, dass die Beschäftigten zu ihrem Privateigentum gehören, fast schon eine Art Leibeigenschaft.

Es ist nicht Aufgabe meines Projekts, dies zu ändern. Das ist eine klassische Gewerkschaftsaufgabe, eine Aufgabe von Mitgliedsgewerkschaften des DGB, die sich dieser Problematik auch stellen. Ich kann Beispiele nennen, in denen sich die Beschäftigten organisieren, der Patriarch aber sagte, das hier ist meine Diktatur, ihr macht, was ich will. Ich kann gute Beispiele nennen, bei denen die Beschäftigten sagten, nein, die Zeiten sind vorbei, wir gründen einen Betriebsrat. Dann werden sie gekündigt, es gibt Arbeitsgerichtsverfahren und die Beschäftigten, die den Betriebsrat gegründet haben, werden wieder eingestellt. Das Betriebsklima ist zwar gestört, aber dem Patriarchen wurden Grenzen gesetzt. Oft ist der Patriarch dann nach einiger Zeit auch endgültig weg und es kommt der Sohn – meistens sind es Männer – und dann habe ich schon erlebt, dass die neue Generation zwar genauso konfliktbereit ist, aber nicht so patriarchalisch auftritt wie der Vater. Die einzige Chance, die die Beschäftigten in solchen Situationen haben, ist sich zu organisieren und so auch durchzusetzen. Das ist der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, der Interessensgegensatz ist einfach da und der lässt sich nur mit starken Gewerkschaften, zwar nicht auflösen, aber sagen wir mal, die Bedingungen für die Beschäftigten können sich durchaus verbessern.

Zum anderen Teil deiner Frage kann ich gut überleiten. Ich rede jetzt aber nicht als Projektleiter, sondern aus meiner Erfahrung im DGB in Thüringen. Antifeminismus: Wir haben auf Sommertouren, bei Betriebsbesuchen, auch Betriebe getroffen, in denen Kollegen sagten: „Der Alte ist weg und jetzt da so ‘ne Olle, die will das Unternehmen leiten. Kannst dir ja vorstellen, wie die da hingekommen ist.“ Es gibt Leute – wie Höcke oder Krah, die immer mit dieser Männlichkeitsgeschichte kommen und die solche Dinge ansprechen, die bei allen Entwicklungen immer noch verfangen. Ich weiß nicht, wie ich es scharf genug formulieren kann: Wer so blöd ist zu glauben, dass er nur, weil er ein Mann ist, ein Unternehmen besser leiten könne als eine Frau, bei dem verfängt das natürlich. Diese antifeministische Einstellung hat unterschiedliche Gründe, aber viel davon ist auch mangelnde Empathie. Auch mangelndes Selbstbewusstsein.

Norbert Reichel: Die haben doch auch Frauen zu Hause, Mütter, Ehefrauen, Töchter. Ich rede jetzt nicht von den InCels. Das ist noch einmal eine andere Hausnummer.

Sandro Witt: Da bleibe ich bei meinen Erlebnissen: Das ist mangelndes Selbstbewusstsein. Auch zu Hause.

Norbert Reichel: Aus manchen Studien entnehme ich die Erkenntnis, dass dort, wo Selbstbewusstsein fehlt, Leute dogmatisch werden. Sie fühlen sich von allem und jedem angegriffen und bilden dann eine Art Wagenburgmentalität aus.

Sandro Witt: Da haben wir wieder den Dreh zu unserem Projekt. Sobald ein Personalleiter merkt, dass die Beschäftigten selbstbewusster werden, sieht er, wie sie anfangen, selbst etwas zu gestalten. Die gehen dann auch raus in die reale Welt und sind weniger anfällig für Verschwörungserzählungen und menschenfeindliche Ansichten, weniger anfällig für rechts. Wir reden viel mit den Kollegen und da lässt sich genau dieses immer wieder feststellen.

Norbert Reichel. Der Schlüssel ist die Organisation von Selbstwirksamkeit.

Sandro Witt: Das ist der Schlüssel. Die Einsicht, ich brauche niemanden, der das für mich macht, das mache ich selbst.

Baseballschlägerjahre in der thüringischen Provinz

Rostock-Lichtenhagen, Sonnenblumenhaus. Wikimedia Commons.

Norbert Reichel: Du bist 1981 geboren, die Friedliche Revolution, den Mauerfall, das hast du als Achtjähriger erlebt. Du gehörst somit sozusagen zur dritten Generation der in der DDR aufgewachsenen Menschen. Dann hast du als Kind, als Jugendlicher die gesamte sogenannte „Transformationszeit“ der 1990er Jahre erlebt und in dieser Zeit auch – so nenne ich das jetzt einmal – deine politische Sozialisation. Selbstwirksamkeit war für viele Menschen im ersten Jahrzehnt nach 1990 doch eher weniger vorhanden, mit Nachwirkungen – so sagen es viele Kommentator:innen – bis heute.

Sandro Witt: In der Tat. Ich fange mit meiner Kindheit an. Ich war in Suhl, ich war ab dem zwölften, dreizehnten Lebensjahr Kinderheimkind. Das ist wichtig, das war nicht in der DDR-Zeit, das wäre ein abendfüllendes Programm, wenn wir über Kinderheime in der DDR sprechen wollten.

Um mich herum haben sehr viele Menschen geweint, waren traurig. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in meinem Umfeld junge Menschen erzählten, die Eltern sind jetzt arbeitslos, finden keine Arbeit mehr. Ich war immer in der Stadt und habe auch Demonstrationen mitbekommen, da waren Demonstrationen mit roten Fahnen, mit fünf-vor-zwölf-Parolen, die sagten, jetzt kommt der Westen, der Kapitalismus wird jetzt über das System drüber gesetzt, man habe das eigentlich gar nicht gewollt, dass die DDR verschwände.

Wir hatten aber auch sehr viele frustrierte Lehrerinnen und Lehrer, die ihren ganzen Frust an uns ausgelassen haben. Ich habe das damals nicht verstanden, aber da wurde viel Wut an uns ausgelassen, vor allem, wenn man nicht unter die Norm gepasst hat. Ich war Kinderheimkind und damals schon Punk, meine Frisur hatte ich schon mit 13.

Gleichzeitig hat sich ein extremer Frust entwickelt, der sich auch auf die Jugend übertragen hat. Auch mein Freundeskreis, ein sehr stark punkgeprägter Kreis, mit Leuten, die zehn Jahre älter waren als ich, die sagten, die Polizisten, die uns jetzt immer kontrollieren, die kenne ich schon von früher. Die sind damals auch schon vorbeigekommen. Die haben uns an den Haaren über die Straße gezogen. Das waren die alten Volkspolizisten.

Der letzte Punkt neben den Demonstrationen und den damals verschwundenen Unternehmen: das war die Treuhand, so hieß es und heißt es für viele immer noch, die hat alles plattgemacht, es gab nie eine Entschuldigung dafür. Ich kann für Suhl und Zella-Mehlis sagen, schon damals, Mitte der 1990er Jahre, gab es Rechtsextremisten, Hardcore-Rechte, Skinheads, die auf der Straße auf Jagd auf Andersdenkende gingen.

Norbert Reichel: Die versammelten sich damals in fast jeder kleinen und mittleren Stadt vor den Bahnhöfen.

Sandro Witt: Die haben auch Überfälle auf unser Kinderheim gemacht, haben Menschen, die erkennbar nicht „deutsch“ oder „punk“ waren, durch die Stadt gejagt. Die Reaktion des Staates war damals mir gegenüber: Schneid dir doch die Haare ab, dann jagen die dich nicht mehr. Auch der Bürgermeister von Zella-Mehlis sagte das zu mir.

Norbert Reichel: Vergleichbar der Reaktion gegenüber Frauen, die sich gegen Belästigungen wehren wollen, sie sollten sich doch nicht einen so kurzen Rock anziehen.

Sandro Witt: Exakt. Die Wahrnehmung war am Ende – das wissen viele, die das jetzt lesen werden – eine gesellschaftliche Debatte. Es gab damals die DSU, die CDU-Bürgermeister, damals gab es fast nur CDU-Bürgermeister in Thüringen, die gesellschaftlich immer beschwichtigten, das sind doch nur verirrte Jugendliche, die man pädagogisch betreuen musste. Die meinten uns, nicht die Nazis.

Etwas später in der Arbeitswelt, die ich ja auch in den 1990er Jahren dann kennenlernte, spielte die Frisur nicht mehr eine so entscheidende Rolle.

Norbert Reichel: Der sozialpädagogische Ansatz lässt sich ja auch bei der SPD finden, manche glauben sogar, man könnte die Neonazis so zivilisieren. Gleichzeitig trägt die SPD im Bund und in den Ländern die Streichung von Mitteln für die Prävention gegen Extremismus mit oder veranlasst sie sogar.

Sandro Witt: Tja. Das Problem war aber auch, dass sie akzeptierende Jugendarbeit gemacht haben. Wir sammeln einfach einmal alle Nazis an der Bushaltestelle ein und schwätzen mit denen.

Norbert Reichel: CDU wie SPD haben darauf gesetzt. Die Wirksamkeit von Maßnahmen gegen Extremismus wäre noch ein anderes Thema. Aber wir reden gerade über gesellschaftliche Stimmungen. Das ist ein anderer Kontext. Und es ist schon ein Dilemma: Mit Härte erreiche ich nichts, mit Sozialpädagogik auch nichts. Ich weiß, ich vereinfache.

Sandro Witt: Auf jeden Fall hat mich das beschriebene staatliche Verhalten stark politisiert. Wenn ich den Bogen zu meiner heutigen Welt schlage, kann ich zumindest sagen, dass es eine Organisation gab, die etwa in der Zeit von 1996, 1997, 1998 erkannt hat, dass Rechtsextremismus ein schärferes Problem ist und uns Möglichkeiten zur Verfügung gestellt hat, irgendetwas Praktisches zu machen, Demonstrationen zu organisieren, Aufbauarbeit zu leisten. Das war der DGB in Südthüringen mit seinem damaligen Regionsvorsitzenden Thomas Schmidt und auch mit dem Landesvorsitzenden in Erfurt, Frank Spieth. Das waren Leute, die uns Mut gegeben haben, damit wir uns organisieren konnten. Die haben uns immer wieder unterstützt. Das hat bei mir dafür gesorgt, dass ich wahrgenommen habe, das sind Kolleginnen und Kollegen, die helfen wollen und die auch dazu in der Lage sind. Strukturell, juristisch im Zweifelsfall. Die das Problem ernstnehmen. Sie waren die Einzigen, die das Problem ernstgenommen haben. Neben der PDS und einzelnen Sozialdemokraten, aber das waren Parteien. Durch diese Unterstützung bin ich dann bei der Gewerkschaft gelandet.

Politische Sozialisation eines Linken Ende der 1990er Jahre

Protest gegen Schließung des Siemens-Generatorenwerks Erfurt. Foto: privat.

Norbert Reichel: Die von dir beschriebenen DGB-Strukturen haben sich – wenn ich dich richtig verstehe – mit keiner Partei verbunden. Das war Zivilgesellschaft. Ich erinnere mich aber auch an meine Jugend in den 1970er Jahren. Damals gehörten Gewerkschaften und SPD mehr oder weniger untrennbar zusammen. Damals war man als SPD-Mitglied Mitglied in der Partei, in der Gewerkschaft, in der Arbeiterwohlfahrt und bei den Falken. Das ist natürlich die West-Seite. Eine wichtige Grundlage waren die Ortsvereine, aber Schröder und Müntefering haben mit ihrer Parteireform diese Struktur zerschlagen, weil sie die Partei auf Kanzlerlinie verpflichten wollten. Die innerparteiliche Demokratie, die Bündnisse mit der Zivilgesellschaft verschwanden.

Sandro Witt: Ich rechne jetzt etwa 25 Jahre zurück. Der damalige Regionsvorsitzende des DGB Südthüringen war SPD-Mitglied, auch der damalige Landesvorsitzende. Das war für ihn aber nicht das Entscheidende und das hat uns auch nicht so sehr interessiert.

Parteimitgliedschaft spielte bei uns in Südthüringen keine Rolle, aber es gab schon einige in der SPD, die auf linke Jugendliche anders geschaut haben, als ich mir das gewünscht habe. Ich hatte mal viele Jahre später ein Gespräch mit dem damaligen Landesvorsitzenden der SPD, mit Christoph Matschie. Er fragte mich, warum ich nicht in der SPD gelandet bin. Ich antwortete, in Suhl beispielsweise habe sich die SPD sehr schwer damit getan, sehr linke Jugendliche wie mich irgendwie in ihre Strukturen aufzunehmen.

Christoph Matschie sagte mir auch, dass die SPD sich damals entschieden hatte, niemanden mit Nähe zur SED in die Partei aufzunehmen. Im Unterschied zu CDU und FDP. Das hat aber auch dazu geführt, dass die SPD im Osten nie zu einer wirklich großen Partei geworden ist. So konnte sich dann neben der SPD die Linkspartei etablieren.

Heute ist die SPD in Südthüringen ganz anders aufgestellt. Da springen auch Leute mit bunten Klamotten herum.   

Norbert Reichel: Hilft das der SPD?

Sandro Witt: Das weiß ich nicht. Immerhin haben sie den Wahlkreis bei der Bundestagswahl gewonnen, aber vielleicht lag das einfach auch an der Popularität von Frank Ulrich.

Aber noch einmal zurück: Ich bin im Grunde von der Arbeitsagentur – die hieß damals damals noch Arbeitsamt – als „nicht ausbildungsreif“ deklariert worden. Die Gründe kannte ich nicht. Man sagte mir, ich passe nicht hinein in die Welt. Zunächst habe ich dann nach der Zeit im Kinderheim mich in Aushilfsjobs verdingt, Kisten gepackt bei einem Pressevertrieb, Bandarbeit gemacht, mich im Gerüstbau verdingt, Maler- und Lackierergeschichten gemacht. Körperliche Arbeit, schlecht bezahlt, man bekam wenigstens noch etwas Sozialhilfe dazu – die gab es damals ja noch. So konnte man sich eine kleine Wohnung, eine Art Wohnklo, leisten. Die Bedingungen damals waren – da sind wir wieder bei KMU – nicht so, dass ich da etwas lernte, sondern dass die billige Arbeitskräfte suchten. Es gab auch Leute, die mit mir wegen meiner Frisur nicht zusammenarbeiten wollten, die meinten, dass ich in Lager gehörte. Das habe ich damals oft gehört. Dieses Rechtsextreme waberte immer irgendwie so mit.

Ein Kumpel empfahl mir dann als Ausweg, dass ich mal nach dem Betriebsrat fragen sollte. Diese Frage hat mich aus vielen Verhältnissen befreit. Sie hat tatsächlich dazu geführt, dass ich meine Sachen packen und gehen durfte und man dem Arbeitsamt mitteilte, dass man mit mir nicht arbeiten könnte. Das ist mir so oft passiert, dass ich das hier sagen kann, man konnte sich befreien.

Diese Erfahrung beantwortet vielleicht auch ein wenig, warum es in KMU, nicht nur im Osten, so wenig Betriebsräte gibt. In den 1990er- und in den 2000er Jahren hat die CDU in der Zeit ihrer Alleinregierung tatsächlich damit geworben: Kommt nach Thüringen, hier gibt es Fördermittel, hier müsst ihr keinen Betriebsrat wählen lassen, hier müsst ihr keine Tarifverträge schließen. Das hat am Ende dazu geführt, dass man sich gutsherrenmäßig benehmen konnte.

Das hat sich irgendwie vererbt. Ich höre immer wieder von Beschäftigten, dass die Gründung eines Betriebsrates etwas Verwerfliches wäre, dass man dann entlassen würde. Das wurde 15 Jahre lang so betrieben. Politisch. Als Hegemonie.

Selbstwirksamkeit in „blühenden Landschaften“?

Screenshot aus dem Vorstellungsvideo.

Norbert Reichel: Das passt zu meinem Eindruck. In der Forschung und auch in eher journalistischen Gesprächen, wie ich sie führe, höre ich immer wieder, dass die sogenannte Transformationszeit so nachhaltig gewirkt habe, dass man sich über die heutigen Wahlergebnisse nicht wundern müsse. Andererseits erlebe ich vor allem in den Städten, dass der Kohl’sche Spruch von den „blühenden Landschaften“ vielerorts in Erfüllung gegangen ist. Auch auf dem Land sehe ich zumindest an der Oberfläche viel Gutes. Es hat sich doch Vieles getan, aber offenbar nicht das, was zu einer nachhaltig zuversichtlichen Stimmung führt.

Sandro Witt: Na ja. Wir haben eben über Selbstwirksamkeitserfahrungen gesprochen. Die Erfahrungen, die viele in der damaligen Generation hatten, waren die, dass ihre Betriebe – das darf ich so sagen – „plattgemacht“ wurden, auch wenn es auf der anderen Seite Produktivität gab. Die Erfahrung des „Plattmachen“ dominierte. Die Selbstwirksamkeitserfahrung lag im Grunde bei Null. Die einzigen Möglichkeiten, die man noch hatte, war, auf die Straße zu gehen, sich an diversen Aktivitäten zu beteiligen und vom Arbeitsamt eine Umschulung vermittelt zu bekommen. Zum Beispiel als Florist, ich sage das sehr überspitzt. Man kam im Grunde in den nächsten Niedriglohnjob. Wenn man ganz großes Glück hatte, einen Computerkurs zu bekommen, um nicht mehr nur auf der Schreibmaschine einen Text zu schreiben und so sein Bewerbungsschreiben für den nächsten Niedriglohnjob mit dem Laserdrucker ausdrucken konnte. Auch das vielleicht überspitzt. Dann kam noch hinzu, dass man diejenigen, mit denen man gar nichts anfangen konnte, in Maßnahmen steckte. Da hat man viel Geld investiert, Strukturanpassungsmaßnahmen, ABM. Damit hat man gut bezahlte Arbeitsplätze verdrängt.

All das hat man erlebt. All die Abschlüsse, all die Erfahrungen, die man mit seiner Arbeit vorher gemacht hat, Arbeit ist ja auch der Ort, über den man Wertschätzung erfahren kann, all das galt plötzlich nichts mehr. Das Gefühl, man habe etwas geschafft, das wurde einem weggenommen.

Man darf ehrlicherweise vielen unterstellen, dass sie sich aus der Diktatur befreien wollten. Viele sagten ehrlichen Herzens, wir wollen über den Sozialstaat sprechen, mussten aber erleben, dass es für sie weiterhin schwierig war. Manche haben es geschafft, sich selbst zu befreien, haben sich selbstständig gemacht, viele hatten aber das Gefühl, dass ihnen diktiert wird, was sie zu tun haben, und sich für sie eigentlich kaum eine Veränderung gab, sie vielleicht sogar noch stärker auf das Geld achten mussten als zuvor.

Angebote schaffen – die Chance der Gewerkschaften

Mindestlohngipfel in der Thüringer Staatskanzlei. Foto: privat.

Norbert Reichel: Eine Neigung zu autoritären Strukturen könnte vielleicht auch damit zusammenhängen, dass man irgendwann beginnt, auf jemanden zu warten, der die Probleme für einen löst.

Sandro Witt: Ja, in der Tat ist das ein Kernproblem. Das findet man auch immer wieder in den verschiedenen Umfragen. In der gesamten Auseinandersetzung – das erlebe ich aber auch in Westdeutschland –gibt es diese Sprüche, die Gewerkschaft macht das schon. Wir haben es mit einer Gesellschaft zu tun, in der es viele gibt, die denken, wenn da jemand kommt, der das für uns regelt, ist es gut, denn dann müssen wir nichts machen. Ist nur für die Gesellschaft nicht so gut, denn am Ende nimmt das jegliche Bewegung aus der Gesellschaft. Genau da setzt die AfD an: Ihr braucht nichts machen, kümmert euch nicht um den Klimawandel, Das klären wir alles für euch.

Mir ist superwichtig: Das ist nicht die Mehrheit der Gesellschaft. Die Mehrheit möchte aktiv werden, aber viele finden keine Andockpunkte, wie sie das machen sollten, wo sie ansetzen könnten.

Norbert Reichel: Als ich Anfang der 1990er Jahre als Referent im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft immer wieder nach Ostdeutschland fuhr, um dort Bund-Länder-Projekte auf den Weg zu bringen, machte ich auch eine andere Erfahrung. Ich traf sehr viele Leute, die mir erzählten, dass sie sich im Leben in der DDR irgendwie eingerichtet hätten, sie wären sozusagen unter Radar geflogen und hätten sich so eine Menge Freiheiten im Privatleben ermöglicht. Natürlich spielte die soziale Absicherung dabei eine wichtige Rolle. Man kam immer irgendwie zurecht, fehlte etwas, wusste man, wie man es sich organisiert. Diese Kombination von sozialer Sicherung und Fliegen unter Radar aber gebe es jetzt in der kapitalistischen West-Welt nicht mehr, Fliegen unter Radar wäre nicht mehr möglich, man werde auf sich selbst zurückgeworfen.

Sandro Witt: Ich unterschreibe das. Im gesellschaftlichen Diskurs wird von zu wenigen offen gesagt, dass wir Angebote schaffen müssen. Ich komme in diesem Zusammenhang auf einen Punkt zurück, den wir eben schon angesprochen hatten. In der schwierigen Phase meines Lebens merkte ich, dass diese ausbeuterische Struktur mich selbst betrifft und um mich herum Menschen wegschauten oder sich zurückzogen, vielleicht hinter den Kulissen das ein oder andere machten. Letztlich ging es um mich selbst. In dieser Situation gab es für mich ein Angebot: Das war der DGB. Ich durfte auf einmal Jugendstrukturen aufbauen. Man gab mir tatsächlich Geld an die Hand, mit dem ich selbstverantwortlich handeln konnte. Wir durften sogar selbst entscheiden, wofür wir das Geld ausgeben wollten. Nur Schnaps war ausgeschlossen. Das war natürlich für mich eine extreme Wirksamkeitserfahrung, eine absolute, dass Leute für mich da waren, die zwar sagten, wir lösen deine Probleme nicht, das musst du schon selbst tun, die mir das aber zutrauten.

In dieser Zeit wurde ich vom Arbeitsamt auch verpflichtet, eine vernünftige Ausbildung zu machen, die Ausbildung zum Bürokaufmann. Dort konnte ich eine Auszubildendenvertretung durchsetzen. Wir Jugendlichen haben uns zusammengetan, aus irgendeinem Grund sind sie mir gefolgt. Der Chef des Unternehmens ist leider inzwischen gestorben. Er war später ein wichtiger Mensch in meinem Kreis. Er sagte voller Respekt zu mir, ich konnte mich ja gar nicht richtig gegen das wehren, was ihr wolltet, ihr wolltet mit einer Stimme sprechen, ich wollte das erst nicht, aber ich fand es dann irgendwann okay. Solche Erfahrungen lassen mich daran glauben, dass es funktioniert, wenn man Angebote macht.

Gewerkschaften haben diese Angebote. Sie müssen sie nur lauter vortragen, vielleicht auch in anderen Bereichen, vielleicht auch neue Strategien entwickeln. Das tun sie auch, aber es muss lauter werden. Bei den Parteien sieht das anders aus. Die Parteien sind laut Grundgesetz auch zur Meinungsbildung da, aber mal abgesehen von extrem rechten Parteien, die erklären, wir machen das schon für euch, gibt es kein Angebot, wie wir die Gesellschaft weiterentwickeln könnten und sollten. Ich schließe meine eigene Partei ausdrücklich mit ein. Dann bleibt nur noch die Entscheidung, sich ganz zurückzuziehen oder vielleicht wenigstens noch demokratisch zu wählen. Es fehlt an Angeboten der Parteien. Das beginnt in der Kommune. Je weiter man die Ebenen hochgeht, umso schwieriger wird es. Aber es wird Zeit, dass die Parteien solche Angebote machen, sonst machen sie sich irgendwann überflüssig. Vielleicht gibt es direkte Demokratie, lokale Initiativen, die die Dinge in die Hand nehmen. Das meine ich erst einmal im positiven Sinne.

Norbert Reichel: Damit sind wir bei der Frage der Verbindung von repräsentativer, deliberativer und direkter Demokratie. Ich halte die Hinweise von Philip Manow für einleuchtend, der sagt, wir hätten keine Krise der Demokratie, sondern eine Krise der Repräsentanz. Das passt meines Erachtens zu deinen Erfahrungen. Könnten deliberative Formen helfen? Das von dir beschriebene Projekt der Betrieblichen Demokratiekompetenz wäre ein gutes Beispiel, wie das auf der Ebene des Alltags, in dem Fall in der Arbeitswelt, funktionieren kann. Marina Weisband hat mit dem aula-Projekt im Grunde dasselbe Anliegen für die Schule konzipiert und erprobt. Ich denke, das müsste zumindest auch in Kommunen funktionieren. Oder ist das, was ich da erzähle, zu abstrakt?

Sandro Witt als Gastredner beim SPD-Parteitag 2016 in Thüringen. Foto: privat.

Sandro Witt: Das ist erst einmal sehr abstrakt. Ich glaube aber auch, dass sich beim Angebot von Beteiligung zwei Fragen stellen. Wird Beteiligung angeboten, weil man es muss, weil ein bestimmter Konflikt gelöst werden muss? Oder wird Beteiligung angeboten, weil man wirklich möchte, dass man die Gesellschaft einbindet? Alles, was ich bisher erlebt habe, lief nach dem ersten Muster. Wir müssen das so machen, denn sonst können wir die Brücke oder die Umgehungsstraße nicht bauen, etwa nach diesem Muster. Das jedoch ist Scheinbeteiligung. Da wird nicht gefragt, was die zu beteiligenden Menschen wollen, sondern nur danach, was ihnen zu einer konkreten Vorgabe von oben einfällt.

Norbert Reichel: Und das dann in der Regel völlig unverbindlich. Das sind dann oft nur Schwarz-Weiß-Entscheidungen. Entweder das eine oder das andere. Offene Formen gibt es dann allenfalls mal als Malwettbewerb für Kinder, dann gibt es eine Ausstellung im Rathaus, die Kinder werden gelobt, aber es geschieht nichts.

Sandro Witt: Ich erlebe in meiner Heimat, in Südthüringen, dass es viele von Jugendlichen initiierte Initiativen gibt, die aber eher im lokalen Umfeld zusammenkommen, die Dinge besprechen, die sie besprechen wollen, aber mit der Zeit fallen sie auch wieder auseinander. Das bestätigt aber, dass es viel guten Willen gibt, sich zu beteiligen und zu engagieren.

Norbert Reichel: Diese Struktur sehe ich auch bei überregionalen Themen. Ich denke an Occupy, Pulse of Europe, Fridays for Future und viele andere, die sich gründen, für eine begrenzte Zeit viele Menschen erreichen, aber dann wieder verschwinden. Manchmal gibt es radikalisierte Formen wie bei der Klimabewegung mit Ende Gelände oder Letzte Generation, die aber wiederum von den Beharrungskräften – so nenne ich die mal – sehr schnell kriminalisiert werden. Damit fällt dann auch das ursprüngliche Anliegen wieder in sich zusammen, wird sozusagen mit denen, die es vertreten, gleich mit kriminalisiert.

Sandro Witt: Was nicht zerfällt, ist eine Betriebsvereinbarung, die ich im Betrieb mit den Kolleginnen und Kollegen gemeinsam hinbekomme. Was nicht zerfällt, das ist der Tarifvertrag. Das nimmt mir keine Regierung, egal welcher Couleur. An dieser Stelle vielleicht eine Warnung vor faschistischen Parteien: Das kann manchmal auch sehr schnell gehen, das haben wir erlebt. Aber im Kern sehe ich, dass sich auch Arbeitgeber öffentlich zur Demokratie bekennen. Da gibt es natürlich auch solche, die sich öffentlich „Weltoffenes Thüringen“ anschließen, aber in dem Betrieb keinen Tarifvertrag schließen wollen.

Auch das ist ein Teil der Wahrheit: Es steht nicht im Grundgesetz, dass sich nur die Arbeitnehmer organisieren dürfen. Das gilt auch für die Arbeitgeber. Aber viele scheuen sich vor solchen Mitgliedschaften, obwohl sie ihnen große Vorteile bringen.

Norbert Reichel: Bei Handwerkskammer und IHK gibt es Zwangsmitgliedschaften. Aber das ist eine andere Geschichte.

Sandro Witt: Das ist auch zu wenig. Ich würde mir wünschen, dass die Arbeitgeber den Wert des Grundgesetzes erkennen, was eigentlich damit gemeint ist.

Norbert Reichel: Ein Fazit unseres Gesprächs aus meiner Sicht: Es reicht nicht aus, sich mit Demonstrationen oder der ein oder anderen Initiative für die Demokratie einzusetzen. Erforderlich sind starke Institutionen, die dies unterstützen und vor allem in der Lage sind, Nachhaltigkeit im Engagement für Demokratie zu organisieren. Betriebe oder auch Schulen sind der richtige Ort, um solche Strukturen zu schaffen, die Erfahrungen der Selbstwirksamkeit ermöglichen und Selbstbewusstsein schaffen.

Sandro Witt: Unser Koordinierungsprojekt erreicht mit 33 lokalen bzw. branchenbezogenen Projektteams, Betriebe auf ganz Deutschland verteilt, in mehreren Branchen, die im Grunde genommen etwas tun, was 30 Jahre liegengeblieben ist, auf der Ostseite, vielleicht auch auf der Westseite.

Norbert Reichel: Auf der Westseite entwickelte sich über die Jahrzehnte eine Art Konsummentalität, die sich inzwischen fatal auswirkt. Und diese hat sich auch auf den Osten ausgewirkt, schon in den 1990er Jahren. Marina Weisband formulierte in ihrem Buch „Die neue Schule der Demokratie“ ihren Anspruch: Wir müssen aus Konsumenten Gestalter machen.

Sandro Witt: Sehr guter Satz. Fantastisch. Im Kern geht es um Befähigung. Ehrlich: Man kann es. Wir beide sind gute Beispiele, und viele andere. Marina Weisband haben wir mehrfach genannt. Es geht letztlich auch nicht darum, ob man sich organisieren soll oder nicht. Ich habe Länder bereist, in denen man sein Leben riskiert, wenn man sich gewerkschaftlich organisiert. Und wenn man sich hier organisiert, kann das auch ein Zeichen der Solidarität sein. Mehr Mut an dieser Stelle!

Mir ist zum Abschluss unseres Gesprächs folgender Gedanke wichtig: Wenn eine Bundesregierung Demokratie mit Projekten unterstützen will, sollte sie diese Projekte nicht auf vier Jahre beschränken, sondern auf Dauer einrichten. Das ist eine Daueraufgabe und das betrifft nicht nur das Programm, das ich leite.

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Juli 2024, Internetzugriffe zuletzt am 15. Juli 2024. Das Titelbild ist ein Screenshot aus dem eingangs erwähnten Vorstellungsvideo.)