Zuschauen mit Sehschwäche
Ein kurzer Rückblick auf den Sport im deutschen Fernsehen
Es gab Zeiten, in denen ich mir kaum eine Sportsendung, kaum eine Live-Übertragung eines Wettkampfes habe entgehen lassen. Allerdings war das Angebot in den Zeiten, als es nur drei Fernsehprogramme gab und das Programm in der Regel erst am späteren Nachmittag begann, bescheiden. Kult war die Sportschau in der ARD mit Ernst Huberty, in der es den Bundesliga-Fußball vom Tage zu sehen gab. Alle Spiele begannen damals um 15.30 Uhr und endeten gegen 17.15 Uhr, um 18.00 Uhr waren die Filmrollen in Köln. Abwechslungsreicher waren die ARD-Sportschau und die ZDF-Sportreportage am Sonntag sowie am Samstagabend das Aktuelle Sportstudio im ZDF, vielleicht die erste Sportsendung mit einem Hauch von Show-Charakter. Live-Übertragungen gab es in anderen Sportarten gelegentlich, so auch nachts die legendären Weltmeisterschaftskämpfe des Muhammad Ali.
Ich spreche vom Westfernsehen, das auch in den meisten Regionen der DDR empfangen werden konnte. Die Übertragungen von Sportwettkämpfen in der DDR habe ich als Kind und als Jugendlicher nicht verfolgen können. Sport spielte in der DDR eine im wahrsten Sinne des Wortes staatstragende Rolle, Sport war in Radio und TV höchst präsent, allerdings nur in den Sportarten, in denen die DDR bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften glänzte. Eine vergleichende Analyse der Sportberichterstattung in beiden deutschen Staaten wäre sicherlich spannend.
Heute können wir manche Sportarten täglich verfolgen, im Winter fast jedes Skirennen, jedes Skispringen, im Sommer die Tour de France. Ich weiß nicht, wie viele Menschen die Zeit haben, all diese Programme zu nutzen. Beachtet wurden mit der Zeit weitere Sportarten, je nachdem, wie erfolgreich deutsche Athlet*innen sind. Das gilt für den Radsport auf der Straße, das gilt für Tennis. Ohne Jan Ullrich, Boris Becker und Steffi Graf, ohne Niki Lauda und Michael Schumacher wäre die Zahl der Zuschauer*innen in diesen Sportarten vielleicht nicht so gestiegen wie sie dies tat. Die Verkaufszahlen bestimmter Sportausrüstungen stieg mit dem Erfolg deutscher Athlet*innen. Eiskunstlauf war in den 1960er Jahren populär, weil es in Deutschland mit Hans-Jürgen Bäumler und Marika Kilius ein deutsches Paar gab, das – ähnlich wie Jan Ullrich in seinem Sport – als ewige Zweite hinter dem russischen Ehepaar Protopopow abschloss.
Legendär waren Reporter, deren Leidenschaft das Publikum mitriss. Das waren Klaus Angermann für den Radsport, später im Tandem mit Tomi Rominger auf Eurosport, Addi Furler für Galopp und Trab und Werner Hansch, der eigentlich Trabrennen kommentierte, aber eines Tages beim Fußball als Stadionsprecher beim FC Schalke 04 einspringen musste, die Spieler mit Startnummern vorstellte und bei regnerischem Wetter von schwerem Geläuf sprach. Kein genuiner Sportreporter war der österreichische Kabarettist Werner Schneyder, der aber fachkundig und mit Leidenschaft Boxkämpfe sowie das Aktuelle Sportstudio moderierte. Frauen hatten es im Fußball und in den meisten anderen Sportarten lange Zeit sehr schwer. Legendär war der Versprecher von Carmen Thomas, der ersten Frau, die das Aktuelle Sportstudio moderierte und von Schalke 05 sprach. Twitter und Facebook gab es noch nicht, aber einen Shitstorm gab es, ganz analog über die üblichen Verdächtigen der Zeitungsbranche.
Die Zeit der leidenschaftlichen Sportmoderatoren ist vorbei. Heute moderieren Moderator*innen, die eigentlich alles moderieren könnten, ohne dass sie irgendeine Beziehung dazu haben müssen, aber wenigstens holen sie sich in der Regel emeritierte Sportler*innen hinzu, die den fachlichen Teil der Reportage bestreiten. Live-Übertragungen gibt es in diversen Kanälen, mal im Free TV, mal im Pay TV, es gibt eigene Sportkanäle und einige Sportarten, von denen in den 1960er oder 1970er Jahren in Deutschland noch niemand etwas ahnte, eroberten sich ihr Publikum, zum Beispiel American Football und Dart.
Etwas ganz Besonderes waren stets die Olympischen Spiele. In den zwei Wochen des Sommers und des Winters ließen sich Sportarten verfolgen, die nicht so sehr im Rampenlicht standen, manche Reporter*innen nannten sie Randsportarten. Bei den Olympischen Spielen zeigten sich Athlet*innen, die vorher nur Spezialist*innen kannten, die dieselbe Sportart betrieben, wir sehen Ringen, Boxen, Gewichtheben, Rodeln, Skeleton, Fechten, Turnen, Badminton und Tischtennis, Dressurreiten und Eistanz, Eisschnelllauf, Bahnradfahren, Bogenschießen. Wir lernen, welche Sportarten in welchen Staaten besonders populär sind, beispielsweise Badminton und Tischtennis in ostasiatischen Ländern oder Ringen und Gewichtheben in zentralasiatischen Staaten oder in der Türkei.
Inzwischen gibt es einige Sportarten, die den Eventcharakter steigern und von denen manche vielleicht eher in den Zirkus gehören, wie beispielsweise im Winter Parallelslalom, Big Air, Shorttrack, oder die Massenstarts in Langlauf und Biathlon. Der Eventcharakter ließe sich sicher noch steigern. In den Känguru-Comics von Marc-Uwe Kling und Bernd Kissel gibt es bedenkenswerte Vorschläge zur Kombination zweier Sportarten in einer wie beim Biathlon: Springreiten mit Bogenschießen, Eiskunstlauf mit fünf Bällen, Zauberwürfel-Hürdenlauf. Der tägliche Olympia-Newsletter der ZEIT berichtete von Initiativen zur Einführung von Snow-Volleyball und verwies auf das Tabakweitspucken, das 1904 auf dem Programm stand. Vielleicht – so die ZEIT – hätte angesichts der wirtschaftlichen Interessen Roulette eine Chance? Das ist meines Erachtens gar nicht so weit hergeholt. Der Branchenkanal Sport1 berichtet ausführlich über Pokerturniere. Und wann wird Dart olympisch?
Die Olympiade – eigentlich die Zeit zwischen zwei olympischen Spielen – galt lange Zeit als Zeit der freudigen Erwartung auf ein Treffen junger Menschen, die sich und die Länder, aus denen sie kamen, kennen und schätzen lernen durften – und wir an den Bildschirmen mit ihnen. Das mag vielleicht immer schon ein mehr oder weniger frommer Wunsch gewesen sein. Aber es gab eine Zeit, in der Profis nicht teilnehmen durften, nur Amateure, eine Zeit, in der politische Konflikte während der olympischen Spiele ruhen sollten, auch wenn sie das nicht taten, es gab gemeinsame deutsche Olympia-Teams aus BRD und DDR, aus Nord- und Südkorea. Heute kennen sich die Athlet*innen der jeweiligen Sportarten ohnehin schon alle aus den rund ums Jahr laufenden Wettkämpfen. Es gibt Leichtathletik in der Halle, Rodeln und Skispringen ohne Schnee. Auffällig sind nur einige Exoten wie die in dem Film „Cool Runnings“ verewigter jamaikanische Bobmannschaft oder der Skispringer „Eddie the Eagle“, auch er cineastisch präsent.
„Citius – altius – fortius“ – das war und ist das olympische Motto, „schneller – höher – weiter“. Darüber, was sich so steigern lassen sollte, könnten wir uns streiten. Höher und weiter kommen wir beispielsweise beim Fechten eher nicht, abgesehen von chinesischen Martial Arts Filmen, als deren künstlerischer Höhepunkt nach dem Trash eines Bruce Lee vielleicht Ang Lees „Crouching Tiger, Hidden Dragon“ gelten mag. Schnelligkeit hingegen dürfte im Fechten schon helfen, zur rechten Zeit den richtigen und den Sieg bringenden Stich anzusetzen. Um jedoch höher und weiter zu kommen, hat sich ein in seiner aktiven Zeit erfolgreicher deutscher Fechter etwas ganz Besonderes ausgedacht: Thomas Bach wurde Chef des Internationalen Olympischen Komitees, kurz IOC. Und so stieg sein Kontostand und er kam weit in der Welt herum: „höher, weiter“ und das – wie das so bei jemandem ist, der über hohen Kontostand und beste weltweite Beziehungen verfügt – immer „schneller“. Er kann mit allen reden, mit allen Diktatoren, sogar mit Peng Shuai konnte er reden, einmal per Video und jetzt live. Ob Peng Shuai ihm auswendig Gelerntes vortrug oder die Wahrheit sagte, wird niemals jemand erfahren.
Thomas Bach ist würdiger Nachfolger eines Avery Brundage (1887-1975), der 1936 wusste, was die Nazis taten, aber beharrlich durchsetzte, dass die US-amerikanische Mannschaft nach Deutschland fuhr, als geschähe dort nichts Unrechtes. Avery Brundage war der IOC-Präsident, der 1972, als eine palästinensische Terrorgruppe elf israelische Sportler*innen ermordete, dekretierte: „The Games must go on“. Alle seine Nachfolger pflegten ihr gutes Verhältnis zu Diktatoren. Die ZEIT präsentiert in einem eigenen Newsletter zu den Olympischen Winterspielen 2022 jeden Tag ein Mitglied des IOC, die sich mit den diversen Diktatoren dieser Welt gut verstehen. So auch Thomas Bach in China, so auch – wir werden es bald sehen – Gianni Infantino in Katar. Korruptionsanklagen gegen IOC-Mitglieder sind an der Tagesordnung.
Aber nicht nur Funktionäre denken so. Als die Fußballweltmeisterschaft in Argentinien zu einer Zeit stattfand, in der dort täglich Menschen verschwanden und ermordet wurden, die der Junta nicht gefielen, sagte Berti Vogts, er habe keine politischen Gefangenen gesehen. Franz Beckenbauer sagte über die offensichtliche Sklaverei auf den Baustellen Katars, er habe keine Sklaven mit Ketten gesehen. Und so handeln die Mitglieder von IOC, FIFA und anderen Organisationen gerne. Eine ehemalige russische Stabhochspringerin, inzwischen auch Mitglied des IOC, besuchte russische Soldaten in Syrien und schwärmte, wie schön es wäre, beim Start der russischen Flugzeuge einzuschlafen. Wie beruhigend.
Thomas Bach und seine Kolleg*innen wissen, was die Stunde geschlagen hat. Ihre Olympischen Spiele brauchen keine Zuschauer*innen, keine Begegnungen der Athlet*innen, die die jeweiligen Teamchef*innen ohnehin gemäß politischer Weisungen zu verhindern wüssten und dank COVID-19 auch ganz einfach verhindern können. Viel wichtiger sind das Geld aus den TV-Übertragungen und das Wohlwollen der Wirtschaft. So sagte Thomas Bach in beispielloser Offenheit, es ginge darum, China als Markt für die Skiindustrie zu öffnen, für Lifte, Skiausrüstungen und Winterkleidung. Das wollen wir doch von Politiker*innen: Offenheit, Ehrlichkeit und Transparenz! Thomas Bach bietet sie. Ich erlaube mir abzuschließen wie Wolfgang M. Schmitt in seiner „Filmanalyse“ und zitiere leicht variiert Andrej Tarkowski: wir schauen zu, aber wir sehen nicht.
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Februar 2022, Internetlinks wurden am 23. Dezember 2022 überprüft. Titelbild: Hans Peter Schaefer.)