Zwischen Drahomanow und Marx
Das politische Leben der Lesja Ukrajinka
An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren sozialistische Überzeugungen unter der jüngeren Generation ukrainischer Kultur- und Politikakteure eher die Regel als die Ausnahme. Viele ukrainische Aktivistinnen und Aktivisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sammelten ihre ersten Erfahrungen politischer Teilhabe, im journalistischen Schreiben und im Umgang mit polizeilicher Repression innerhalb der sozialistischen Bewegung. Doch nicht alle blieben zeitlebens Sozialisten; einige rückten im Verlauf ihres Lebens an das entgegengesetzte Ende des politischen Spektrums. Ein Beispiel hierfür ist Dmytro Dontsov, der seine lange politische Laufbahn als Mitglied der Ukrainischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei begann und sie als christlicher Traditionalist und ultrakonservativer Verschwörungstheoretiker beendete.

Ivan Trush, Porträt von Lesja Ukrajinka, 1900. Wikimedia Commons.
Über hundert Jahre zuvor, im Jahr 1922, tat Dmytro Dontsov dasselbe wie der Verfasser dieser Zeilen: Er schrieb und veröffentlichte einen Text zum Jubiläum von Lesja Ukrajinka, einen Essay mit dem Titel „Die Dichterin des ukrainischen Risorgimento“. Zu diesem Zeitpunkt hatte er marxistische Ansichten bereits aufgegeben und entwickelte nach und nach die Idee des „aktiven Nationalismus“, die auf der Ablehnung und Verurteilung von Sozialismus, Rationalismus, Materialismus und Demokratie beruhte – mit anderen Worten, einem vollständigen Bruch mit den Ideen, denen er selbst einst zugeneigt gewesen war. Eine Wertschätzung für das Werk von Lesja Ukrajinka und Taras Schewtschenko jedoch hatte er sich seit seiner Jugend bewahrt. Diese Wertschätzung war jedoch eigentümlich, da er diese Autorinnen und Autoren in Gegensatz zur gesamten vorausgehenden Tradition des ukrainischen sozialen und politischen Denkens stellte, die er verächtlich als „Provenzalismus“ bezeichnete.
In Dontsovs Vorstellungswelt erscheint Lesja Ukrajinka als eine „typische Gestalt des Mittelalters“ – eine Fanatikerin, eine Voluntaristin, eine Verfechterin eines kämpferischen Nationalismus, für die die Idee des Internationalismus „unendlich fremd“ gewesen sei.
Der interessante Punkt besteht nicht darin, dass Dontsov seine eigene Weltanschauung auf Lesja projizierte – eine Auseinandersetzung mit einem längst verstorbenen ultrarechten Ideologen ist nicht das Anliegen dieses Textes. Auffällig ist vielmehr, dass der „Endgegner“ in seinem Kampf gegen den „Provenzalismus“ Mychajlo Drahomanow war, in dem er all jene Ansichten verkörpert sah, die er verachtete: Sozialismus, Säkularismus, Rationalismus, Universalismus, Föderalismus und den Glauben an sozialen Fortschritt. In Wirklichkeit jedoch war Mychajlo Drahomanow nicht nur Lesja Ukrajinkas Onkel; sie hing so sehr an ihm, dass sie eine Handvoll Erde von seinem Grab als Reliquie aufbewahrte (Odarchenko 1954, genaue Angaben jeweils im Quellenverzeichnis am Ende des Beitrags). Er spielte eine bedeutende und positive Rolle bei der Prägung ihres Weltbildes, und in vielerlei Hinsicht war sie seine ideologische Verbündete. Während ihr Onkel der Herausgeber der ersten ukrainischsprachigen sozialistischen Zeitschrift „Hromada“ war, wurde Lesja zur Mitbegründerin der ersten ukrainischen sozialdemokratischen Organisation im Russischen Imperium. Der Versuch, Drahomanow gegen seine vielleicht berühmteste Anhängerin auszuspielen, ist daher mindestens fehlgeleitet.
Obwohl Lesja Ukrajinka Drahomanows Schülerin war, war sie keineswegs dazu verpflichtet, ihr Leben lang innerhalb der Grenzen seiner Ideologie zu bleiben. Ziel dieses Beitrags ist es, die Entwicklung von Lesja Ukrajinkas politischen Ansichten anhand ihrer nichtfiktionalen Schriften – ihrer Korrespondenz und ihrer publizistischen Texte – nachzuzeichnen.
Zwischen zwei Imperien und zwei sozialistischen Traditionen

Mykhailo Drahomanow. Wikimedia Commons.
Lesja Ukrajinka begann sich an der Wende der 1880er zu den 1890er Jahren ernsthaft für sozialpolitische Fragen zu interessieren – eine schwierige Zeit. Die ukrainische Bewegung war durch den Emser Erlass vom 30. Mai 1876 (der Erlass verbot die Verwendung der ukrainischen Sprache und die Verbreitung ukrainischsprachiger Literatur in Öffentlichkeit, Schulen und Hochschulen, Anmerkung des Demokratischen Salons), die Verbannung einiger Aktivisten und die erzwungene Emigration anderer, darunter Mychajlo Drahomanow, geschwächt worden. Hinzu kam die Stabilisierung der Autokratie unter der Herrschaft Alexanders III. (1881–1894), die von der Unterdrückung sowohl tatsächlicher als auch potenzieller revolutionärer Kräfte begleitet war.
Diejenigen ukrainischen Aktivistinnen und Aktivisten, die nicht ins Exil gingen oder ins Ausland flohen, konzentrierten sich auf unpolitische kulturelle Tätigkeiten und vermieden sorgfältig jede Aussage oder Handlung, die staatliche Repressionen hätte provozieren können. Für junge politisch engagierte Ukrainerinnen und Ukrainer wirkte ein solcher unpolitischer Kulturaktivismus allzu vorsichtig und zaghaft. Zudem stellte diese Haltung, wie Ivan Lysiak Rudnytsky zutreffend bemerkte, einen deutlichen Rückschritt gegenüber dem Aktivismus des vorangegangenen Jahrzehnts dar (Rudnytsky 1994).
Mychajlo Drahomanow war der wichtigste Inspirator und Ideologe der Politisierung der ukrainischen Bewegung jener Zeit. Nach seiner Emigration gab er die politische Tätigkeit nicht auf: In Genf veröffentlichte er die Zeitschrift Hromada und hielt gleichzeitig enge Kontakte zu führenden Mitgliedern der Kyjiwer Hromada. Doch Drahomanows politisierte Aufrufe, die sich in einer sozialistischen Rhetorik äußerten, erschienen den Kulturaktivisten, den sogenannten Kulturnyky, die staatliche Vergeltungsmaßnahmen befürchteten, zu scharf und zu unbedacht. Infolgedessen wurden Mitte der 1880er Jahre die Beziehungen zwischen Drahomanow und der Kyjiwer Hromada abgebrochen, und die Hromada stellte ihre ohnehin instabile finanzielle Unterstützung für seine Publikationsprojekte ein (Fedchenko 1991). Drahomanow pflegte weiterhin freundschaftliche Beziehungen zu einzelnen Kulturnyky aus der Naddnipro-Ukraine, die die Verbindung zu ihm nicht abgebrochen hatten, doch setzte er auf die ältere Generation der Hromada-Mitglieder keine Hoffnungen mehr und vertraute stattdessen zunehmend auf die Jugend.

Titelbild der Zeitschrift Hromada, 1881.
Unter dem Einfluss der Genfer Literatur begannen sich unter der gebildeten ukrainischen Jugend Kreise von Anhängerinnen und Anhängern Drahomanows zu bilden. In der Folge spaltete sich die Jugend in Kulturnyky, die der Alt-Hromada weiterhin verbunden blieben, und in „Politiker“. Die zentrale Figur bei der Schaffung und Unterstützung der Kreise der „Politiker“ war Mykola Vasylovyč Kovalevskyi – ein Landsmann, gleichgesinnter Mitstreiter und Freund Mychajlo Drahomanows seit ihren Gymnasialjahren. Gemeinsam hatten sie in den 1860er Jahren an den Anfängen der Kyjiwer Hromada gestanden. Während des späteren Konflikts brach Kovalevskyi mit der Alt-Hromada und begann in der gesamten Ukraine Gelder zur Unterstützung seines emigrierten Freundes zu sammeln (Yakovliev 2013). Eine wichtige Rolle bei der Verbreitung von Drahomanows Ideen unter der Jugend spielte auch Hanna Kovalevska, die Tochter von Mykola Vasylovyč und enge Freundin von Lesja Ukrajinka.
Die organisatorischen Erfolge der galizischen Radikalen hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf die Kyjiwer „Politiker“. Unter dem Einfluss Drahomanows und unter der Führung seiner Schüler Ivan Franko und Mychajlo Pavlyk gründeten sie 1890 die Zeitschrift Narod und die ruthenisch-ukrainische Radikale Partei. Die Anhänger Drahomanows im Russischen Imperium blickten hoffnungsvoll auf den Kampf ihrer galizischen Gleichgesinnten und glaubten, dass sich die galizische radikale Bewegung letztlich auch auf die ukrainischen Gebiete unter russischer Herrschaft ausweiten würde. Mykola Kovalevskyi sammelte regelmäßig Gelder zur Unterstützung von Narod, wo junge naddniprjanische Anhänger Drahomanows zu publizieren begannen (Tuchapskii 1923, Hrinchenko 1925, Yakovliev 2013).
Die Teilnehmer der Drahomanow-Kreise beschäftigten sich in erster Linie mit Selbstbildung, suchten jedoch zunehmend den Übergang zu praktischer Tätigkeit. Ihre Vorstellung davon, wie dies zu erreichen sei, blieb allerdings vage. Drahomanows Ideen zur Organisation lokaler Räte und zur Mobilisierung der Bauernschaft erschienen im Kontext des repressiven Polizeistaates, zu dem Russland bereits geworden war, unrealistisch. Gleichzeitig hielt der Marxismus Einzug ins Russische Imperium und verlagerte den Schwerpunkt von der Bauernschaft auf die Arbeiterklasse, die sich wesentlich leichter agitieren und organisieren ließ. Unter der gebildeten Kyjiwer Jugend verbreitete sich der Marxismus zunächst in der polnischen Studentengemeinschaft, die besseren Zugang zu entsprechender Literatur hatte. Unter den nicht-polnischen Studierenden war Bohdan Kistiakovskyj der erste, der den Marxismus propagierte. Er war durch polnische Studenten an der Universität Dorpat damit in Berührung gekommen, an die er nach seiner Exmatrikulation von der Universität Kyjiw wegen illegaler, mit der Drahomanow-Bewegung verbundener Aktivitäten gewechselt war (Bilous 2017).
Zu dieser Zeit schlossen sich viele ukrainische Studierende mit linken Ansichten, enttäuscht von der Passivität der Drahomanow-Kreise, der breiteren russischen sozialistischen Bewegung an. Spätere Historikerinnen und Historiker neigten häufig dazu, die Interaktion zwischen ukrainischen und russischen Sozialisten zu vereinfachen, indem sie behaupteten, „die jüngere Generation habe den von Drahomanow eingeschlagenen Weg nicht fortgesetzt, sondern vielmehr die fertigen Formeln des internationalen Sozialismus aus russischen Quellen übernommen“. Selbst der umsichtige und ausgewogen argumentierende Historiker Ivan Lysiak Rudnytsky war nicht völlig frei von solchen Vereinfachungen (Rudnytsky 1994). Meiner Ansicht nach legt jedoch der Fall Lesja Ukrajinkas – wie auch der vieler ihrer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen – nahe, dass diese Schlussfolgerung nicht vollständig zutrifft. Drahomanows Ideen wurden weder verworfen noch vergessen, und nicht alle jungen Sozialisten des ukrainischen fin de siècle waren an russische Interpretationen des Sozialismus gebunden. Zudem gilt dies nicht nur für Aktivistinnen und Aktivisten innerhalb ukrainischer sozialistischer Organisationen, sondern auch für jene Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich schließlich gesamtrussischen linken Parteien anschlossen – Persönlichkeiten, die heute oft aus der ukrainischen nationalen Bewegung verdrängt werden, wenn nicht gar aus der ukrainischen nationalen Identität insgesamt.
Europäismus vs. Nationalismus
Der bedeutende Einfluss Mychajlo Drahomanows auf die philosophischen und politischen Ansichten Lesja Ukrajinkas wird von der überwältigenden Mehrheit der Forscherinnen und Forscher sowie der Kommentatorinnen und Kommentatoren zu ihrem Leben und Werk anerkannt – mit der möglichen Ausnahme der Anhänger von Dmytro Dontsov. Lesja Ukrajinkas Korrespondenz mit Drahomanow begann im Juni 1888, und lange Zeit blieb ihre Bekanntschaft aufgrund von Mychajlo Petrovychs Emigration und seiner Unfähigkeit, ins Russische Imperium zurückzukehren, vorwiegend brieflich. Abgesehen davon, dass die Familie Kosach Drahomanow vor seiner Emigration im Februar 1876 in Kyjiw getroffen hatte, begegnete Lesja ihrem Onkel zum ersten Mal persönlich im Sommer 1894 in Sofia – etwa ein Jahr vor seinem Tod (Kosach-Kryvyniuk 1970).
Schon durch die Korrespondenz mit ihrem Onkel hatte Lesja Ukrajinka viel zu lernen. Drahomanow verfügte über große Erfahrung im Umgang mit seinen jüngeren Anhängerinnen und Anhängern, und diese Erfahrung war vielfältig. In seiner Nichte sah er ein großes Potenzial und tat alles, um ihr zu helfen, die Fehler zu vermeiden, die andere Drahomanow-Unterstützer begangen hatten. Bereits im ersten erhaltenen Brief Drahomanows an Lesja, datiert auf den 5. Dezember 1890, forderte er sie auf, „kritisch auf die ‚hausgemachte Weisheit‘ zu blicken“ (Drahomanow 1924).
Die „hausgemachte Weisheit“ der ukrainischen Kreise, die in ihren eigenen Vorstellungen eingeschlossen blieben und im russischen Kontext agierten, stand in scharfem Gegensatz zu den Ideen des Europäismus: „Wir haben keine anderen Aufgaben als jene, die in Europa bestehen; es gibt keine anderen Methoden. Der Unterschied ist lediglich ein quantitativer, nicht ein qualitativer (…). Es ist dieselbe Wissenschaft und dasselbe Ziel. Nun, widme dich der Wissenschaft und folge dann ihrem Beispiel.“ (Drahomanow 1924). Eine prägnante Definition von Drahomanows Prinzip des Europäismus lieferte später Mychajlo Drai-Khmara, der zwei Dimensionen dieses Konzepts hervorhob: „sich im weiten Sinne mit der europäischen Kultur zu verbinden“ und die nationalen Angelegenheiten im gesamteuropäischen Zusammenhang zu betrachten (Drai-Khmara 1924).
Drahomanows ablehnende Haltung gegenüber dem „engen Nationalismus“ spiegelt sich auch in seiner Vorstellung von Kosmopolitismus wider. Er teilte nicht die Auffassung eines nationalen Nihilismus; daher unterscheidet sich sein Verständnis von Kosmopolitismus vom landläufigen und steht dem Konzept des Universalismus näher – dem Glauben an bestimmte Wahrheiten und Prinzipien, die für die gesamte Menschheit gelten.
Für Drahomanow existierten solche Prinzipien tatsächlich, und sie hatten einen übernationalen Charakter, waren jedoch weder un-national noch anti-national. Deshalb umfasst seine Idee des Kosmopolitismus die gleichberechtigte Wechselwirkung verschiedener Nationen, ohne dass die Entwicklung einer Nation zugunsten anderer unterdrückt wird. Er wies die Bedeutung der Entwicklung nationaler Kulturen nicht zurück; zugleich wandte er sich gegen nationale Autarkie, Selbstgenügsamkeit und Isolationismus. Stattdessen schlug er vor, nationale Bewegungen auf allgemeinmenschliche Prinzipien zu gründen – daher stammt seine berühmte Losung: „Kosmopolitismus in den Ideen und Zielen, Nationalität im Boden und in der Form der kulturellen Arbeit“ (Drahomanow 1894).
Gleichzeitig erörterte Drahomanow mit Lesja Fragen des Sozialismus. In seinen Briefen an seine Nichte formulierte der Ideologe der Hromada-sozialistischen Bewegung seine Vorstellungen von der Sozialdemokratie: „Sozialdemokratie besteht nicht in den letzten Idealen, sondern in der Organisation der Arbeiter, in der Erhebung von Forderungen wie dem Achtstundentag und im Widerstand gegen den Militarismus, insbesondere in Deutschland.“ (Drahomanow 1924). Dieser Gedanke klingt deutlich im berühmten Leitsatz von Eduard Bernstein an, dass das Endziel nichts, die Bewegung aber alles sei – zumal Bernstein und Drahomanow sich in der Schweiz zeitweise begegneten (Bernstein 1922).
Lesjas politischer Werdegang

Lesja Ukrajinka auf einem Geldschein. Wikimedia Commons.
Aus Lesjas Briefen geht hervor, dass sie bereits mit der Sozialdemokratie vertraut war. So erwähnte sie etwa das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie (Brief an Mychajlo Drahomanow vom 5. Juli 1893). Es sei daran erinnert, dass die erste russische Übersetzung des Erfurter Programms von den Kyjiwer Marxisten unter der Leitung von Bohdan Kistiakovskyj angefertigt und 1894 in Kolomyja von Mychajlo Pavlyk veröffentlicht wurde (Bilous 2017).
Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass Drahomanow im Unterschied zur Sozialdemokratie die Bauernschaft als die Hauptstütze der sozialistischen Bewegung in den ukrainischen Ländern betrachtete. In seinen Briefen an Lesja pries er die politische Handlungsmacht der Bauern, insbesondere im Vergleich zur Passivität anderer gesellschaftlicher Schichten: „(…) dass sich wenigstens fünf harte und arbeitsame Seelen finden, bis die Köpfe der Bauern, die – entgegen allen Beispielen der Geschichte – mehr Licht in ihren Köpfen haben als die galizischen Akademiker und Professoren, erhellt werden. Pavlyk schickte mir manchmal Briefe von Bauern – Meliton Buchynskyj bleibt im Vergleich zu ihnen weit zurück“ (Drahomanow 1924).
Aus den Gesprächen mit ihrem Onkel entwickelte Lesja Ukrajinka eine kritische Haltung gegenüber der damaligen ukrainischen Realität – sowohl im Russischen Imperium als auch in Galizien. Zudem neigten Lesjas Altersgenossen dazu, die galizische Ordnung zu idealisieren und sich von den Erfolgen anderer, insbesondere von der „neuen Ära“, der Politik des polnisch-ukrainischen Kompromisses zu Beginn der 1890er Jahre, blenden zu lassen.
Auf ihrer Reise nach Wien zur Behandlung im Jahr 1891 besuchte Lesja Ukrajinka Galizien und erlebte das galizische politische Leben aus erster Hand, einschließlich der Wahlvorbereitungen und damit verbundener Aktivitäten. Sie war von ihren Beobachtungen beeindruckt und entwickelte ein Misstrauen gegenüber konservativen Ansätzen im politischen Kampf: „Die alte ‘Politik’, die ‘Loyalität’, die krummen Wege zu einem hohen Ideal, die ‘Ehrfurcht vor nationalen Festtagen’, der ‘mäßige Liberalismus’, die ‘nationale Religiosität’ usw. usw. haben uns jungen Ukrainern schon so sehr ermüdet, dass wir froh wären, diesem ‘stillen Sumpf’ irgendwohin ins Reine zu entkommen.“ (Brief an Mychajlo Drahomanow, 17. März 1891).
In ihrem Artikel von 1895 fasste die ukrainische Dichterin die von ihr missbilligte „opportunistische und rationale“ Politik der galizischen Narodniki wie folgt zusammen: „(…) kämpft nicht mit der Hacke gegen die Sonne, eilt nicht voran, sondern knüpft langsam Beziehungen zur Regierung und zu stärkeren Parteien.“ (Ukrajinka 2021).
Sie war auch unzufrieden mit der Atmosphäre in den „politischen“ Kreisen der Naddnipro-Ukraine. Die Dichterin war vor allem durch die Zersplitterung dieser Kreise und ihre erzwungene Geheimhaltung enttäuscht, die die Ergebnisse ihrer Arbeit nicht nur für Außenstehende und die verschiedenen „Pharaonen“, sondern sogar für Mitglieder anderer Kreise unsichtbar machte: „Wir tun alles in hermetisch verschlossenen Kästen – man hört irgendein Geräusch, aber man weiß nicht, worum es geht, und wer in einen solchen Kasten gerät, wird sich darin nicht sehr wohl fühlen, denn es ist trotzdem eng und stickig, auch wenn der Kasten gut sein mag und die Menschen darin nicht schlechter sind“ (Brief an Mychajlo Drahomanow, 25. Juni 1893).
Zudem erinnerte die Atmosphäre der Kreise schmerzhaft an die kleiner politischer Sekten unserer Zeit, mit ihrem intensiven Gruppendruck und der Tendenz, schon bei der geringsten Abweichung von der allgemeinen Linie lautstark aus der Bewegung „auszutreten“. Dies betraf sowohl die Kulturnyky-Kreise um Oleksandr Konyskyj als auch die Kreise der „Politiker“ (Brief an Mychajlo Drahomanow, 5. April 1894). Auch nachdem sich diese Kreise später zu Parteien entwickelten, hielt die Sektiererei an – ebenso wie Lesja Ukrajinkas Abneigung dagegen (Brief an Olha Kosach und Mychajlo Kryvyniuk, 6. Dezember 1905).
Dennoch pflegte Lesja Ukrajinka enge Beziehungen zu den Mitgliedern der Kreise der „Politiker“ und zu Mykola Kovalevskyi, der sie leitete. Eine Rede des ältesten Kyjiwer Anhängers von Drahomanows Ideen blieb Lesja Ukrajinka besonders in Erinnerung: „(…) er sagte uns, dass wir so bald wie möglich und beharrlich unter dem ukrainischen Volk zu arbeiten beginnen sollten, um sein nationales Selbstbewusstsein zu stützen und zu erwecken, bevor es völlig erlischt, denn es flackert bereits kaum noch. Diese Arbeit musste legal und illegal sein, durch das gedruckte oder gesprochene Wort, mit Hilfe aller Mittel, außer trügerischer oder terroristischer.“ (Ukrajinka 2021).
Dank Kovalevskyi, dem galizischen Radikalen Mychajlo Pavlyk und ihrem Onkel schloss sie sich der Bewegung der Anhänger des Drahomanow’schen Sozialismus an, die auf beiden Seiten des Flusses Zbrutsch tätig war. Dennoch konnten weder Kovalevskyi noch Pavlyk an den Einfluss heranreichen, den Drahomanow auf Lesja Ukrajinkas Ideologie ausübte.
Lesja Ukrajinkas politische Ansichten wurden am stärksten durch ihr Jahr in Bulgarien geprägt, von Juni 1894 bis Juli 1895. Dort lernte sie endlich ihren Onkel und dessen Familie persönlich kennen, hatte uneingeschränkten Zugang zu Drahomanows umfangreicher Bibliothek und konnte mit Mychajlo Petrovych frei über all jene Themen sprechen, die sie beschäftigten. Das Jahr, das Lesja im fremden und zugleich vertrauten Haus der Drahomanows verbrachte, wurde – mit gutem Grund – von dem Forscher der Diaspora, Petro Odarchenko, hinsichtlich seiner Bedeutung für Leben, Werk und Weltanschauung der Dichterin mit Taras Schewtschenkos „drei Jahren“ verglichen (Odarchenko 1954).
Sie war die einzige Zeugin von Mychajlo Drahomanows plötzlichem Tod am 8. Juni 1895 und, so Odarchenko, schloss sie sogar persönlich die Augen des verstorbenen Onkels. Doch das traurige Ende ihres Aufenthalts in Sofia minderte den Einfluss dieser Zeit auf Lesja Ukrajinkas Denken nicht; vielmehr verstärkte es diesen in mancher Hinsicht emotional und schlug sich in ihrer Treue zum Andenken ihres Verwandten nieder.
Unter den dichterischen Werken aus Lesja Ukrajinkas früher Schaffenszeit war das am stärksten drahomanowsche die 1893 verfasste und Mychajlo Drahomanow gewidmete Dichtung „Robert the Bruce, King of Scots“. Dieses Gedicht ist der konzentrierteste und zugleich durchsichtigste allegorische Ausdruck der Ideen ihres Onkels: der Verrat des nationalen Adels („wir haben kein Rittertum, wir haben keine Herren“), die Erlangung der Freiheit durch einen Bauernaufstand sowie Abgeordnete aus dem Volk, die dem König ungehindert mit Ungehorsam drohen, sollte er von der Vereinbarung mit ihnen abweichen – und er erhebt keinen Einspruch.
Zudem wurde die Thematik des Gedichts selbst, ebenso wie das Bild der Spinne, die nach mehreren Rückschlägen unermüdlich ihr Netz weiterwebt und Robert the Bruce zum Weiterkämpfen inspiriert, Lesja Ukrajinka von Mychajlo Drahomanow nahegelegt (Brief an Mychajlo Drahomanow, 15. März 1892).
Mychajlo Drai-Khmara stellte fest, dass Olena Pchilka, die Mutter der Dichterin, und Mychajlo Drahomanow die entscheidenden Einflüsse bei der Formung von Lesjas Persönlichkeit waren: (Drai-Khmara 1924: 34).
Nichts wäre jedoch irreführender, als Lesja Ukrajinka zu einer bloßen Vermittlerin der Ideen ihres großen Onkels zu reduzieren. Erstens trägt eine solche Vorstellung einen deutlich sexistischen Beigeschmack. Zweitens stimmt sie schlicht nicht.
Mykola Zerov, ein Neoklassizist wie Drai-Khmara, unterschied zu Recht zwei große Typen ukrainischer Anhänger Drahomanows und ordnete Lesja Ukrajinka der zweiten Gruppe zu: „Die einen, wie Pavlyk, blieben vollständig gefangen in seiner (Drahomanows – M. L.) markanten Persönlichkeit und fanden nie ihren eigenen Weg. Wenn sie sich voneinander unterschieden, dann nur im Temperament und im Grad ihrer Hingabe an den Drahomanow-Kult. Andere aber, wie Franko, nahmen nur das Wesen seiner Lehre in sich auf, entwickelten es jedoch auf ihre eigene Weise weiter, beeinflusst von anderen Kräften, und brachten schließlich Früchte hervor, die unverkennbar die ihren waren und mit einer individuellen, manchmal scharf konturierten Gestalt in die Geschichte eingingen.“ (Zerov 1990).
Diese Einschätzung mag Pavlyk gegenüber ungerecht sein, doch trifft sie ganz und gar auf Lesja Ukrajinka zu, deren Verehrung für ihren bedeutenden Verwandten niemals ihre eigene geistige Entwicklung einengte – im Gegenteil, Drahomanow selbst wäre bestürzt gewesen, wenn es anders gewesen wäre.
Dank Drahomanows Einfluss schärfte Lesja Ukrajinka ihre kritische Haltung gegenüber konservativer und eng nationalistischer Politik, ohne jedoch die nationale Identität abzulehnen. Nicht zuletzt durch ihre Bemühungen gab ihr ukrainischer literarischer Kreis die Bezeichnung als „Ukrainophile“ auf und begann, sich schlicht Ukrainer zu nennen. Gleichzeitig fühlte sich Lesja zutiefst zur ethischen Dimension des Hromada-Sozialismus hingezogen, mit seiner Ablehnung derselben „listigen und terroristischen Methoden“ und aller Formen des Opportunismus – ganz im Sinne von Drahomanows Überzeugung, dass „eine reine Sache saubere Hände verlangt“.
Seine unorthodoxe Spielart des Sozialismus bot fruchtbaren Boden, um neue sozialpolitische Ideen zu prüfen und aufzunehmen – und der Marxismus war unausweichlich Teil dieser Entwicklung.
Ukrainische Sozialdemokratie
Lesja Ukrajinkas Verhältnis zur Sozialdemokratie und zum Marxismus ist ein Thema, das reich an Möglichkeiten für Mythenbildung ist. Es ist weithin bekannt, dass sie gemeinsam mit Ivan Steshenko zu den Gründerinnen und ideologischen treibenden Kräften der sogenannten USD-Gruppe gehörte – der ersten ukrainischen sozialdemokratischen Vereinigung im Russischen Imperium. Sie bezeichnete sich selbst als Sozialdemokratin, wie ihre Freundin Liudmyla Starytska-Cherniakhivska in einem Gespräch mit Mychajlo Drai-Khmara bestätigte (Drai-Khmara 1924).

Ukrainische Ausgabe des Kommunistischen Manifests. 1902.
In linken Kreisen ist zudem die verbreitete Auffassung anzutreffen, Lesja Ukrajinka sei die Autorin der ersten ukrainischen Übersetzung des Kommunistischen Manifests, das 1902 anonym in Lwiw erschien. In einem Brief an Ivan Franko vom 7. September 1901 äußerte Lesja ihr Interesse an der Veröffentlichung mehrerer sozialistischer Schriften in Galizien, darunter des Kommunistischen Manifestes sowie ihrer Übersetzung der Broschüre „Wer lebt wovon?” von Szymon Dikstein (Brief an Ivan Franko, 7. September 1901).
Die ukrainische Übersetzung des Manifestes erschien 1902 in Lwiw unter dem Impressum „Verlag der Ukrainischen Sozialistischen Partei“ – eine Bezeichnung, die die USD-Gruppe niemals verwendete. Darüber hinaus ist die Übersetzung selbst eher nachlässig und voller Russizismen und Polonismen; so bezeichnet der Übersetzer die Woche als „nedilia“, eine Verwendung, die Lesja selbst nie gebrauchte, da sie in ihren eigenen Schriften äußerst sorgfältig mit Sprache umging.
Gleichzeitig existierte zwischen 1900 und 1904 in der Naddnipro-Ukraine, vor allem am rechten Ufer, eine kleine Ukrainische Sozialistische Partei (USP) unter der Leitung von Bohdan Jaroshevskyj. Dies legt nahe, dass der Autor der Übersetzung des Manifestes von 1902 in Wirklichkeit Bohdan Jaroshevskyj war (Zhuk 1957).
Das Vorwort zu dieser Übersetzung wurde nur ein einziges Mal veröffentlicht – in einer russischen Ausgabe der Werke Lesja Ukrajinkas im Jahr 1957 – und nicht nach einem Autograph. All dies schließt nicht aus, dass Lesja das Manifest tatsächlich übersetzt und sich um seine Veröffentlichung bemüht haben mag, doch die Fassung, die 1902 in Lwiw erschien, stammt nicht von ihr. Solange das Manuskript ihrer Übersetzung nicht vorliegt, gibt es keinen Grund, etwas anderes anzunehmen.
Ende der 1890er Jahre begann sich Lesja Ukrajinka intensiv für die Sozialdemokratie und ihre theoretischen Grundlagen zu interessieren. 1897 studierte sie „Das Kapital“, war jedoch enttäuscht, da sie darin nicht das „strenge System“ fand, von dem ihr so viel erzählt worden war (Brief an Olha Kosach, 11. September 1897). Dies schmälert ihren sozialdemokratischen Standpunkt jedoch keineswegs – viele Sozialisten hatten Schwierigkeiten mit dem „Kapital“, und niemand wurde deswegen aus der Bewegung ausgeschlossen.
Sie studierte ebenfalls die materialistische Geschichtsauffassung in der Interpretation von Marx und ihre Anwendung auf ukrainisches Material und gelangte zu Schlussfolgerungen über die Bedeutung des Klassenantagonismus in der ukrainischen Geschichte: „(Ich) kann meine Ansicht über die Geschichte der Ukraine unter der Moskauer Herrschaft mit folgender marxistischer Paraphrase ausdrücken: ‘Wir sind nicht nur wegen des Klassenantagonismus zugrunde gegangen, sondern auch wegen dessen Fehlens’.“ (Brief an Mychajlo Kryvyniuk, 26. November 1902).
In ihren Briefen an den standhaften Drahomanowiten (Drahomanow-Anhänger) Mychajlo Pavlyk betonte Lesja, dass die Sozialdemokratie „eine zu universelle Bewegung (sei), als dass die ukrainische Nation darauf verzichten könnte.“ (Brief an Mychajlo Pavlyk, 7. Juni 1899). Ebenso sah sie nichts Problematisches darin, dass sich eine sozialdemokratische Fraktion von der radikalen Partei abgespalten und eine eigene Partei gegründet hatte; im Gegenteil, sie begrüßte dies, wenngleich sie viele Beschwerden über die galizischen Sozialdemokraten hatte (Brief an Mychajlo Pavlyk, 2. März 1899).

Postkarte von Lesja Ukrajinka an Ivan Franko vom 29. Mai 1902.
Erwähnenswert ist, dass kurz zuvor, 1896–1897, eine aufschlussreiche Debatte zwischen Lesja Ukrajinka und Ivan Franko stattfand. In seinem Artikel „Mit dem Ende des Jahres“, der die Kontroverse eröffnete, nahm der Kamenjar (Frankos Pseudonym, bedeutet „Steinhauer“) einen herablassenden Ton gegenüber den Drahomanowiten der Naddnipro-Ukraine an (die er in seiner Terminologie „ukrainisch“ nannte) und wies ihre Kampferfahrungen von sich – eine Haltung, die Lesja Ukrajinka in ihrer Erwiderung entschieden zurückwies.
Franko beklagte, dass ukrainische Radikale Angst hätten, sich an illegalen Aktivitäten zu beteiligen, und „nur mit Erlaubnis der Behörden“ handelten. Als Gegenbeispiel stellte er die galizischen Radikalen heraus und lobte ihre Bereitschaft, der „Stiefmutter-Konstitution“ zu trotzen und direkt mit der Bauernschaft zu arbeiten – etwas, wozu ihren Pendants in der Naddnipro-Ukraine seiner Ansicht nach die Entschlossenheit fehlte. Schließlich diskreditierte Franko die Aktivitäten der ukrainischen linken Intelligenz als „eine Art Tinktur radikaler Ideen, aber keinen wirklichen Radikalismus“.
Am meisten empörte Lesja Ukrajinka letztlich der Vorwurf, die ukrainischen Radikalen täten angeblich nichts und hätten Angst, sich an illegalen Aktivitäten zu beteiligen. In den Jahren 1896–1897 „landeten einige dieser Genossen in ‘freier Unterkunft’ – mit Erlaubnis der Behörden“. Gemeint waren Mychajlo Kryvyniuk und Ivan Steshenko, die in diesem Zeitraum wegen ihrer Teilnahme an der Studentenbewegung inhaftiert worden waren. Gleichwohl beeinträchtigte diese Kontroverse ihre persönlichen Beziehungen zu Ivan Franko nicht wesentlich: Lesja Ukrajinka war fähig, zwischen Persönlichem und Politischem zu unterscheiden, zwischen den „Freunden meiner Freunde“ und den „Freunden meiner Ideen“, wie sie selbst sagte (Brief an Ivan Franko, 14. August 1903).
Diese Ereignisse fanden in den frühen Jahren jener oben erwähnten Gruppe der Ukrainischen Sozialdemokratie statt. Die Gruppe arbeitete im Geheimen und wurde während ihres Bestehens nie enttarnt, sodass nur wenige Spuren über die Größe ihrer Mitgliedschaft erhalten sind. Zu ihren Kernmitgliedern gehörten mit Sicherheit Ivan Steshenko, Lesja Ukrajinka, Mychajlo Kryvyniuk und Lesjas Schwester Olha Kosach. Die Beteiligung anderer Personen, die oft als Mitglieder genannt werden, ist jedoch höchst zweifelhaft (Lavrinenko 1971).
Das genaue Entstehungsdatum der USD-Gruppe ist unbekannt. Forscherinnen und Forscher sowie Zeitgenossen haben unterschiedliche Jahre genannt – von 1893 bis 1897 (Fedenko 1959, Tulub 1929). Am wahrscheinlichsten wurde die Gruppe etwa 1896 gegründet, und zwar auf Initiative von Ivan Steshenko – der später Mitglied des Generalsekretariats der Zentralna Rada wurde und damals an der Historisch-Philologischen Fakultät der Universität Kyjiw studierte. Oleksandr Morhun erinnerte sich auch an Steshenko als den Anführer der „radikalen Gruppe“ innerhalb der ukrainischen Studentenschaft in Kyjiw Mitte der 1890er Jahre: „Die radikale Gruppe unter Steshenkos Führung begann, die unpolitische Haltung der Gemeinschaft und ihre Gleichgültigkeit gegenüber sozialen Fragen in Frage zu stellen und der Gemeinschaft in dieser Hinsicht einen klareren Charakter zu geben“ (Morhun 1963).
Steshenko wurde von der Gruppe um Mykola Mikhnovskyj opponiert, der meinte, solche Fragen dürften nicht aufgeworfen werden. Daher erscheint die Behauptung über den Einfluss der Ideen der Bratstvo Tarasa (Taras-Bruderschaft) auf die USD-Gruppe (Holovchenko 1996) eher fragwürdig.
Bis 1896 existierten in Kyjiw bereits zwei andere sozialdemokratische Gruppen, die in den damaligen Untergrundkreisen als die „polnische S.-D.-Gruppe“ und die „russische S.-D.-Gruppe“ bezeichnet wurden. Der Kern der ersten Gruppe bestand jedoch aus litauischen Studenten der Universität Kyjiw, während die zweite von Bohdan Kystjakowskyj gegründet worden war und unter anderem jüdische und ukrainische Studierende derselben Universität einbezog, darunter auch den ehemaligen Drahomanowiten Pawel Tuchapskii. Diese beiden Gruppen schlossen sich 1897 gemeinsam mit einer weiteren Gruppe, die zuvor der Polnischen Sozialistischen Partei angehört hatte, zur Kyjiwer „Union des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse“ zusammen, die ihrerseits 1898 zur Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) beitrug (Bilous 2017: 53). An den Vorbereitungen zum ersten Parteitag war ein Mitglied der Union beteiligt, der belarussische Marxist Serhij Meržynskyj, mit dem Lesja Ukrajinka in einer engen Beziehung stand.
Vor diesem Hintergrund liegt es nahe anzunehmen, dass die USD-Gruppe den Versuch darstellte, eine dritte sozialdemokratische Organisation in Kyjiw zu etablieren und den Abfluss der ukrainischen Jugend in gesamtrussische Bewegungen zu verhindern. Im Unterschied zu den anderen Gruppen schloss sich die USD weder der „Union des Kampfes“ noch der SDAPR an. Ihre Mitglieder arbeiteten weiterhin eigenständig und orientierten sich stärker an anderen ukrainischen sozialistischen Parteien – etwa der galizischen USDP (Ukrainischen Sozialdemokratischen Partei), der bereits erwähnten Ukrainischen Sozialistischen Partei (USP), deren Mitglieder Ukrainer polnischer Kultur waren, sowie der Revolutionären Ukrainischen Partei (RUP), unter deren vier Mitbegründern sich zwei Söhne bedeutender Kulturnyky der Alten Hromada befanden: Dmytro Antonowytsch und Mychajlo Rusow.
Lesja Ukrajinka verfasste eine kritische Analyse des „Entwurfs des Programms der Ukrainischen Sozialistischen Partei“, und ihre Briefe an Mychajlo Kryvyniuk zeigen, dass sie die Entwicklung und die inneren Auseinandersetzungen innerhalb der RUP genau verfolgte. Sie kritisierte insbesondere die RUP-Zeitung Haslo dafür, dass sie als Motto den oben erwähnten Satz von Eduard Bernstein übernahm: „Das Endziel ist nichts, die Bewegung ist alles.“ Dies lässt Rückschlüsse auf ihre Position innerhalb der breiteren zeitgenössischen Debatte zwischen dem reformistischen Flügel der internationalen sozialistischen Bewegung, vertreten durch Bernstein, und dem revolutionären Flügel zu. Lesja Ukrajinka stellte fest, dass „die Redaktion Bernsteins antirevolutionäre Haltung völlig missverstanden hat“, und fügte später hinzu, dass ihr „der Artikel in Volja (dem Organ der galizischen USDP – Red. von Spilne/Commons) gegen den Bernsteinianismus von Haslo“ gefallen habe (Briefe an M. Kryvyniuk, 14. März 1902 und 22. April 1902). Wie später deutlich wird, wichen ihre Ansichten jedoch auch erheblich von denen vieler linker Kritiker Bernsteins ab.
Die Briefe Lesjas werfen zudem Licht auf das Ende der USD-Gruppe. Im Dezember 1905 schrieb sie an ihre Schwester Olha und an Mychajlo Kryvyniuk über die Verhandlungen der USD mit der RUP. Diese wurde auf ihrem Parteitag in Ukrainische Sozialdemokratische Arbeiterpartei (USDRP) umbenannt und übernahm offiziell sozialdemokratische und föderalistische Positionen. Da die USDRP jedoch autonome Gruppen in ihrer Struktur nicht zuließ, trat die USD nicht als Kollektiv der Partei bei. Nur einige wenige Mitglieder der USD – unter ihnen Lesja Ukrajinka – erklärten sich bereit, unabhängig voneinander an der Herausgabe der neuen sozialdemokratischen Zeitung Pratsia mitzuwirken (Brief an Olha Kosach und Mychajlo Kryvyniuk, 6. Dezember 1905).
Die Zeitung erschien jedoch aus verschiedenen Gründen nie. Einer davon war die Verhaftung von Petro Djatlów, der als ihr Redakteur vorgesehen war. Ausgerechnet ein Satz aus seinem Nachruf auf Lesja Ukrajinka – später auf ihrem Grabstein eingraviert – löste vor Kurzem Empörung in der „patriotischen Öffentlichkeit“ aus.
Revolutionäre Ethik und der Geist des Sozialismus

Gedenktafel für Mykahailo Drahomanow in Sofia, Bulgarien. Foto: Иван. Wikimedia Commons.
Ideologisch entstand die USD-Gruppe an der Schnittstelle zwischen marxistischem Einfluss und Drahomanows Variante des Sozialismus. Ihre frühen Publikationen spiegelten bereits sowohl eine kritische Haltung gegenüber Drahomanow als auch die Suche nach Alternativen wider. Eine der ersten Veröffentlichungen der Gruppe war die anonyme Broschüre „Mychajlo Petrovych Drahomanow (Ukrainischer Emigrant)“, die 1897 erschien. Darin wurden Drahomanows bedeutende Beiträge zur ukrainischen Bewegung anerkannt – insbesondere sein Aufruf zur Schaffung unabhängiger ukrainischer sozialistischer Organisationen. Zugleich enthielt die Broschüre eine marxistische Kritik an seinen sozialpolitischen Ansichten.
Der Verfasser beziehungsweise die Verfasserin der Broschüre – wer auch immer es war – weist auf den bäuerlichen Charakter des Sozialismus von Mychajlo Drahomanow hin und argumentiert, dass mit dem Fortschreiten des Kapitalismus das Bauerntum allmählich seine soziale Homogenität verliere – falls es diese überhaupt je besessen habe. Die Broschüre behauptet, dass die Problemstellung „das Bauerntum im Allgemeinen“ vage und unergiebig sei: „(…) über das Schicksal des Bauerntums im Allgemeinen zu klagen, heißt nichts Bestimmtes zu sagen; das moderne Klassenprinzip der Soziologie verlangt, genau anzugeben, die Interessen welcher Klasse von Bauern der Patriot zu verteidigen wünscht, denn nur unter solchen Bedingungen kann seine Sympathie für die Bauern irgendeine reale Bedeutung haben.“ (zitiert nach Fedenko 1959).
Lesja Ukrajinka erkannte ebenfalls die Notwendigkeit unterschiedlicher Herangehensweisen unter verschiedenen Umständen. Während auf dem Land die Assimilation der Ukrainer nur langsam voranschritt und sich die Sozialdemokraten auf strikt sozialistische Propaganda konzentrieren konnten, war es unter den städtischen Arbeiterinnen und Arbeitern auch notwendig, das nationale Bewusstsein zu fördern – „damit sie nicht zu Fremden in ihrem eigenen Land werden und gegen ihre eigenen Brüder gestellt werden.“ Mit anderen Worten: um einer Vergrößerung der kulturellen Kluft zwischen Stadt und Land in der Ukraine vorzubeugen (Ukrajinka 2021: 504).
Im Nachwort zur Broschüre Wer lebt wovon vermittelt Lesja die Ideen des Klassenkampfes, des Internationalismus und der Selbstorganisation der Arbeiter in möglichst zugänglicher Form. Sie entwirft ein Ideal der Selbstorganisation der Arbeiterschaft „von unten“ – von der lokalen bis zur internationalen Ebene – das Drahomanows Vorstellung eines „freien Bundes“ bemerkenswert nahekommt. Ebenso anerkannte sie unterschiedliche Methoden im Kampf für die Rechte der Arbeiter: „sei es durch Bitte oder durch Drohung (mehr durch Drohung als durch Bitte) oder durch Verschwörung oder durch die Waffe.“ (Ukrajinka 2021).
Vor allem zeigte sich der Einfluss des drahomanowschen Sozialismus in Lesja Ukrajinkas Vorstellungen von der Ethik des politischen Kampfes. Dies wird besonders deutlich in ihrer Reaktion auf den Artikel „Politik und Ethik“ von Mykola Hankewytsch, dem Führer der galizischen USDP. Lesja verwarf die dualistische Sichtweise „entweder Opportunismus oder Fanatismus“ und betonte, dass weder eine Partei noch ein einzelner Denker den Anspruch auf absolute Wahrheit erheben könne. Sie suchte einen Weg jenseits dieser Gegenüberstellung, und dabei wiesen ihr die Ideen Drahomanows den Weg: „Zum Glück gibt es noch den Weg des festen, auf Kritik gegründeten Glaubens und des brennenden, unersättlichen Durstes nach weiterer Wahrheit.“ (Ukrajinka 2021). Zugleich hielt sie weiterhin am Grundsatz ihres Onkels fest, dass „eine reine Sache reine Hände erfordert“, und sie betrachtete Politik nicht als etwas von Natur aus Unreines. Nicht die Politik verderbe die Menschen, sondern die Menschen verdürben die Politik.
Lesja Ukrajinkas Abneigung gegen Fanatismus und den Anspruch auf absolute Wahrheiten führte zu ihrer Ablehnung des Terrors. Sie betrachtete die Revolution mit Gleichmut und war der Ansicht, dass Massenbewegungen sowohl progressiven als auch reaktionären Zielen dienen können – sie verwies etwa auf die Französische Revolution und den Aufstand in der Vendée. Zwar setzte sie beide Phänomene nicht gleich, doch hielt sie die Niederschlagung der Französischen Revolution für schlimmer als die Niederschlagung des Vendée-Aufstands. Zugleich erkannte sie an, dass der menschliche Fortschritt ungleichmäßig verläuft und intensive revolutionäre Phasen nicht ausschließt (Ukrajinka 2021). Sie war jedoch überzeugt, dass der Terror von seinen Anhängern – sowohl von Revolutionären als auch von Reaktionären – fetischisiert werde, vom „blutrotfingrigen Sanson“ (gemeint ist Charles-Henri Sanson, ein Pariser Scharfrichter unter König Ludwig XVI. und während der Französischen Revolution, der nahezu 3.000 Hinrichtungen vollstreckte; im Dialog zwischen einem Montagnarden und einem Girondisten in Lesja Ukrajinkas „Drei Minuten“ wird er als „rotfingrig“ bezeichnet, Anmerkung der Redaktion von Spilne/Commons) bis zu Murawjow dem „Henker“ (Michail Murawjow-Wilenski, genannt der „Henker“, war ein russischer Generalgouverneur, der für die brutale Niederschlagung der Aufstände von 1863–1864 in Polen, Belarus, Litauen und Wolhynien verantwortlich war, Anmerkung der Redaktion von Spilne/Commons. „Und wenn es darum geht, die Ethik eines Henkers zu beurteilen, so soll man seine Hinrichtungen beurteilen, nicht seinen Monarchismus, Republikanismus, Aristokratismus, Bürgertum usw.“ (Ukrajinka 2021). Lesja Ukrajinka hätte sich weder mit Lew Trotzkij und dessen „Terrorismus und Kommunismus“ (1921) identifiziert noch den Immoralismus Dontsovs akzeptiert.
Sie bezeichnete den Terror als eine entartete Form der Revolution und lehnte ihn aus universalistisch-ethischen Gründen ab. Zugleich war Lesja Ukrajinka weder Pazifistin noch Anhängerin gewaltlosen Widerstands. In einem unvollendeten Entwurf zu ihrem Essay über die Staatsordnung rechtfertigt sie den Einsatz von Gewalt zur Verteidigung der Freiheit gegen Angreifer und betrachtet eine solche Verteidigung nicht als Verletzung der Freiheit irgendeiner Person (Ukrajinka 2021). Eine moralische Gleichsetzung von Opfer und Henker, von Angreifer und Angegriffenem, war ihr völlig fremd.
Kosmopolitische Ideen, nationale Wurzeln
Apropos Drahomanows Föderalismus und der Frage der Eigenstaatlichkeit: Lesja Ukrajinkas Auffassungen über das Verhältnis zwischen ukrainischen und russischen Sozialisten unterschieden sich erheblich von dem stereotypen Bild der ukrainischen Linken als russophil – einem Bild, das leider bis heute manche allzu bereitwillig übernehmen. Zunächst einmal stand sie, wie alle engagierten Sozialisten, der russischen zaristischen Autokratie und ihrer repressiven Politik scharf ablehnend gegenüber. Diese Haltung kommt in ihrem Gedicht „Die Stimme einer russischen Gefangenen“ deutlich zum Ausdruck: „Ja, Russland ist riesig – Hunger, Unbildung, Verbrechen, Heuchelei, endlose Tyrannei, und all diese großen Leiden sind riesig, kolossal, grandios.“ (Ukrajinka 2021). Aus diesem Grund mochte sie das Vorgehen ukrainischer Revolutionäre, die sich gesamtrussischen Organisationen im Kampf gegen die zaristische Autokratie anschlossen, vielleicht nicht ausdrücklich billigen, doch gewiss verstand sie ihre Motivation. Sie wurden sowohl vom Willen getragen, dem Imperialismus Widerstand zu leisten, als auch von der Enttäuschung über das Fehlen eines aktiven Widerstands innerhalb der ukrainischen Bewegung.
Im Nachwort zu Diksteins Broschüre verwendete Lesja Ukrajinka die Losung „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Doch sie präzisierte sie: „Vereinigt euch als Freie mit den Freien, als Gleiche mit den Gleichen!“ An anderer Stelle der Broschüre fügte sie zudem die folgenden Worte hinzu: „(…) ohne sich in ein fremdes System zu verwandeln und ohne feindlich gegenüber den Arbeitern anderer Nationen zu sein.“ (Ukrajinka 2021). Die nationale Frage innerhalb der Sozialdemokratie beschäftigte Lesja vielleicht am meisten, und in einem ihrer Briefe an Pawlyk äußerte sie sogar den Wunsch, einen ausführlichen Aufsatz zu diesem Thema zu verfassen, in dem sie insbesondere den Beziehungen zwischen den ukrainischen, russischen, polnischen und anderen sozialdemokratischen Organisationen besondere Aufmerksamkeit widmen wollte (Brief an Mychajlo Pavlyk, 7. Juni 1899). In ihrer Beurteilung des „Entwurfs des Programms der USP“ deutete sie ein mögliches Format solcher Beziehungen an, das ein föderales Organisationsprinzip für eine gesamtreichsweite Partei vorsah: „Uns scheint, dass eine solche Vereinigung unserer Sache kaum dienlich wäre, und wir würden vielmehr auf natürliche Weise eine gewisse Absonderung wünschen, das heißt eine Teilung in Fraktionen, die den nationalen Gliederungen des russischen Staates eher entsprechen.“ (Ukrajinka 2021).
Lesja Ukrajinka betonte die Eigenständigkeit der ukrainischen Organisation gegenüber der russischen und allen anderen, und sie bestand darauf, dass das Bündnis der Sozialdemokraten im Kampf gegen die Autokratie strikt gleichberechtigt sein müsse, ohne Dominanz einer Gruppe über die andere. In ihrer Kommentierung der Initiative der galizischen Zeitung Zoria, Bolschewiki und Menschewiki miteinander zu versöhnen, schrieb sie: „Es ist an der Zeit, den Standpunkt einzunehmen, dass ‘Brudernationen’ lediglich Nachbarn sind, die zwar durch dasselbe Joch verbunden, ihrem Wesen nach jedoch keine identischen Interessen haben. Daher ist es besser, wenn sie wenigstens Seite an Seite agieren, aber jede für sich und ohne sich in die Innenpolitik des Nachbarn einzumischen.“ (Brief an Mychajlo Kryvyniuk, 3. März 1903). Darüber hinaus wies Lesja die Vorstellung einer bedingungslosen Zusammenarbeit mit der russischen revolutionären Bewegung zurück. Sie war der Ansicht, dass eine solche Zusammenarbeit nur möglich sei, wenn die russischen Revolutionäre die nationale und kulturelle Eigenart der Ukrainer anerkennen und berücksichtigen würden. Solange dies nicht geschah, hielt sie es für unter ihrer Würde, sich den Russen als Genossin anzudienen. Zugleich erklärte sie sich bereit, Vertreterinnen und Vertreter der russischen revolutionären Emigration bei Übersetzungen zu unterstützen – jedoch nur unter der Bedingung, dass sie als unabhängige Übersetzerin auftreten könne (im selben Brief).
Um das Thema der Nationalität abzurunden: Lesja Ukrajinka kannte die Idee der Eigenstaatlichkeit sehr wohl, betrachtete sie jedoch nicht als Selbstzweck. Für die nähere Zukunft hielt sie es für am angemessensten, ein föderalistisches Programm zu unterstützen – zumindest während des fortdauernden Kampfes gegen die zaristische Autokratie, der nach ihrer Auffassung im Rahmen des gesamten Imperiums und in Zusammenarbeit mit Sozialisten anderer Nationen stattfinden sollte. Sollte sich jedoch die „brüderliche Union“ als nicht allzu brüderlich erweisen – das heißt, sollte das Recht des ukrainischen Volkes auf freie Entwicklung innerhalb der neuen Föderation nicht gewährleistet sein – so stellte sich Lesja Ukrajinka einer vollständigen staatlichen Trennung nicht entgegen (Ukrajinka 2021).
Fazit

Illustration von Volodymyr Vasylenko zum Gedicht „Morgendämmerungslichter“ von Lesja Ukrajinka.
Lesja Ukrajinkas politische Ansichten wurden stark durch ihren Onkel Mychajlo Drahomanow geprägt, von dem sie vor allem eine kritische Perspektive auf die ukrainische Realität, ein Verständnis für die Bedeutung politischer Tätigkeit und die Fähigkeit lernte, ein Gleichgewicht zwischen nationalen und universalen („kosmopolitischen“) Werten zu finden. Vorstellungen wie die Aufmerksamkeit für die ethische Dimension des politischen Kampfes – ein Kernbestandteil von Drahomanows Sozialismus –, ein im Europäismus verankertes Weltbild sowie die Geringschätzung nationaler Abschottung blieben für Lesja Ukrajinkas literarisches und politisches Schaffen ihr Leben lang zentral.
Doch bereits zu Lebzeiten ihres Onkels setzte sich Lesja Ukrajinka intensiv mit verschiedenen Strömungen des sozialpolitischen Denkens auseinander, unter denen der Marxismus einen herausragenden Platz einnahm. Sie als überzeugte Marxistin zu bezeichnen, wäre zwar eine Übertreibung, doch übernahm sie zweifellos die Bedeutung des klassenbasierten Ansatzes zur Erklärung gesellschaftlicher Phänomene aus dem Marxismus und wandte ihn auf den ukrainischen Kontext an – von der Analyse zeitgenössischer Politik bis hin zu Fragen der Geschichte und Literatur. Ihr Marxismus war jedoch weder dogmatisch noch rein reformistisch; sie begegnete der Revolution mit ruhiger Unterscheidungsfähigkeit, frei von Fanatismus ebenso wie von Angst.
Natürlich beschränkten sich die Einflüsse, die Lesja Ukrajinkas Weltanschauung prägten, nicht nur auf Drahomanow und Marx. In ihrem Aufsatz „Die Utopie in der Dichtung“ sind deutlich Spuren Friedrich Nietzsches und von Georges Sorels Konzept des revolutionären Mythos zu erkennen. Doch gerade das unterstreicht Lesjas intellektuelle Redlichkeit, ihre umfassende geistige Entwicklung und ihre kritische Urteilskraft – denn sowohl der Marxismus als auch Drahomanows Ideen stellen ihrem Wesen nach gerade solche Qualitäten über unkritische Bewunderung oder Dogmatismus.
Im Kern war Lesja Ukrajinkas politische Philosophie in den Idealen Drahomanows verwurzelt, doch verband sie auf harmonische Weise Marxismus mit dem Hromada-Sozialismus und den ukrainischen nationalen Bestrebungen. Ihre Perspektive zeigt erstens, dass Marxismus und Drahomanows Denken durchaus miteinander vereinbar waren, und zweitens, dass die ukrainische Sozialdemokratie des frühen 20. Jahrhunderts weder ein bloßer Ableger russischer Modelle war noch außerstande, die nationale Frage sinnvoll zu behandeln.
Heute neigen manche Autorinnen und Autoren dazu, die Begeisterung der ukrainischen Intelligenzija für den Sozialismus jener Zeit herunterzuspielen und sie als kurzlebige Mode, als Phase jugendlicher Rebellion oder als Ausdruck vermeintlicher Naivität und Unerfahrenheit sowohl dieser Persönlichkeiten als auch der ukrainischen Bewegung insgesamt darzustellen. Für Lesja Ukrajinka jedoch waren sozialistische Ideale ein Grundpfeiler der Weltkultur – ein Denkrahmen, durch den die ukrainische Wirklichkeit verstanden und zum Besseren verändert werden konnte. Anders als viele heutige Kommentatorinnen und Kommentatoren stellte sie die nationale Identität nicht in Gegensatz zum Sozialismus – weder zu Drahomanows Variante noch zur breiteren sozialdemokratischen Tradition. Diese beiden Lesja so teuren Ideale gegeneinander auszuspielen und das eine zu fördern, während das andere verschwiegen wird, bedeutet, sich von jenen Morgendämmerungslichtern abzuwenden, die Lesja Ukrajinka und ihre gleichgesinnten Zeitgenossen entzündet haben – im Streben nach sozialer wie auch nationaler Befreiung.
Quellen
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Mykhailo Liakh, zurzeit Streitkräfte der Ukraine

Mykhailo Liakh. Foto: privat.
Mykhailo Liakh trat 2020 in das Promotionsprogramm für Geschichte an der Nationalen Universität „Kyjiwo-Mohyla-Akademie“ ein. Mit Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine im Jahr 2022 brach er das Studium ab und schloss sich den Streitkräften der Ukraine an. Der Artikel wurde erstmals am 2. März 2021 auf der Website der Zeitschrift „Spilne / Commons“ auf Ukrainisch veröffentlicht. Dort ist auch eine englische Version verfügbar. Übersetzung aus dem Ukrainischen ins Deutsche von Pavlo Shopin, Drahomanov Universität Kyjiw.
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung der deutschen Fassung im Dezember 2025, Internetzugriffe zuletzt am 16. Dezember 2025. Titelbild: Firouzeh Görgen-Ossouli.)
