„Antisemitismus in Deutschland ein Indikator für den Zustand der Demokratie“

Grüner Salon Bonn / Rhein-Sieg am 25. Juni 2019 in Bonn

Das Fazit vorweg: Antisemitismus ist Indikator Nummer Eins für den Grad der Bedrohung des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Die Lage ist bedrohlich, nicht nur in Deutschland. Viele Jüdinnen und Juden denken darüber nach, nach Israel auszuwandern. Prävention und Bildung werden von vielen staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen ausgebaut, doch bleibt offen, ob dies ausreicht, um Antisemitismus zu besiegen. Ohne den Mut zu repressiven Maßnahmen sowie unmittelbaren und deutlichen Widerspruch wird es nicht gelingen.

Dr. Norbert Reichel, Dr. Margaret Traub, Michael Szentei-Heise, Susanne Blasberg-Bense.

Auf dem Foto von links nach rechts: Dr. Norbert Reichel, Dr. Margaret Traub, Michael Szentei-Heise, Susanne Blasberg-Bense. Fotografin und Inhaberin der Rechte: Linda Führer

Eine Bestandsaufnahme

Heinrich Böll Stiftung NRW und Synagogengemeinde Bonn führten den Grünen Salon diesmal gemeinsam durch. Die Vorsitzende der Synagogengemeinde, Frau Dr. Margaret Traub, und der Direktor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Herr Michael Szentei-Heise, skizzierten ein äußerst beunruhigendes Bild antisemitischer Vorfälle der letzten Jahre. Vor 30 Jahren sei ein solches Ausmaß von Beleidigungen, tätlichen Übergriffen, Schändungen von Friedhöfen und Angriffen auf jüdische Einrichtungen nicht vorstellbar gewesen.

Dieses Bild wird durch verschiedene aktuelle Bestandsaufnahmen antisemitischer Vorfälle belegt, allen voran die Studien von Julia Bernstein, Samuel Salzborn und Monika Schwarz-Friesel, alle im Internet verfügbar. Die Bielefelder und die Leipziger Mitte-Studien (in Leipzig seit 2018 Autoritarismus-Studie) belegen seit Jahren einen konstanten etwa bis zu 20 % hohen Zustimmungswert für antisemitische Einstellungen, neu ist jedoch das offene und gewalttätige Erscheinungsbild.

Heute denken viele Jüdinnen und Juden darüber nach, ob es nicht sicherer wäre, nach Israel auszuwandern. Israel ist und bleibt die Lebensversicherung für Jüdinnen und Juden. In Deutschland entscheiden sich jüdische Eltern für eine jüdische Schule heute nicht mehr allein aufgrund der Qualität der dort vermittelten Bildung, sondern weil diese Schulen ein Raum geworden sind, in dem ihre Kinder vor Übergriffen geschützt sind. Zum Vergleich: in Frankreich sind bereits etwa 25 % der Jüdinnen und Juden nach Israel ausgereist.

Antisemitismus hat viele Gesichter. Eine völlig neue Dimension hat sich durch israelbezogenen Antisemitismus ergeben. Man kann die israelische Regierung wie jede andere für ihre Politik kritisieren, doch verbindet sich eine solche Kritik immer öfter mit der grundsätzlichen Frage nach dem Existenzrecht Israels. Offen antisemitisch ist die BDS-Aktion, die den NS-Satz „Kauft nicht bei Juden“ aufgegriffen hat, indem sie an Stelle von „Juden“ „Israel“ nennt und eine Parallele zur Apartheid-Politik des früheren Südafrikas herstellt. Damit ist sie offenbar für viele Menschen, die eigentlich nichts mit Antisemitismus zu tun haben dürften, anschlussfähig. Israel wird zur Chiffre einer umfassenden Verschwörungstheorie, die antikapitalistische, antiimperialistische und antirassistische Argumente antisemitisch auflädt. Rechts, links und muslimisch motivierter Antisemitismus vermischen sich zunehmend.

Die Reaktion von Politik, Polizei und Justiz erscheint mitunter undurchsichtig. Den Tätern eines Anschlags auf die Wuppertaler Synagoge wurde vom Gericht bescheinigt, sie hätten nicht aus antisemitischen Motiven gehandelt, sondern ausschließlich Israel kritisieren wollen. Viele Anzeigen verlaufen im Sande, weil die Polizei offenbar nicht hartnäckig genug ermittelt und manche Straftatbestände in einem Graubereich erfolgen, der schwer zu erfassen zu sein scheint.

In der Politik wird regelmäßig Solidarität mit Israel betont. Auf der anderen Seite werden Entscheidungen der israelischen Regierung in einem Maße skandalisiert wie dies bei kaum einem anderen Land erfolgt. Michael Szentei-Heise verwies auf mediale Schieflagen in der Berichterstattung beispielsweise zum Gaza-Konflikt, die Israel einseitig als Aggressor darstelle. Er bat das Publikum sich vorzustellen, wie Deutschland reagieren würde, wenn aus den Niederlanden täglich Raketen auf Gronau oder Emmerich abgeschossen würden.

Bildung, Prävention und Intervention

Die vorhandenen und in den vergangenen Jahren auf den Weg gebrachten Präventions- und Bildungsmaßnahmen verdienen hohen Respekt, ebenso die aktuellen Bemühungen einer Bund-Länder-Kommission und der Antisemitismusbeauftragten in Bund und Ländern.

Bildung allein nützt jedoch wenig. Die NS-Bewegung hatte in den 1920er Jahren eine ausgesprochen große Anhängerschaft unter den Studierenden, die Mehrzahl der Teilnehmenden der Wannsee-Konferenz führte einen Doktortitel. Darauf hat Louis Lewitan in einem Artikel am 8. November 2018 in der ZEIT hingewiesen. Drei Angebote wurden im Detail präsentiert:

  • Die Zeit-Stiftung hat mit der Seite Stop Antisemitismus ein Angebot entwickeln lassen, das hilft, 35 Musteraussagen zu kontern und in einem Bildungs- und Präventionsangebot aufzugreifen. Das Angebot enthält auch Hinweise auf Einrichtungen, an die sich Ratsuchende wenden können.
  • Ein seit zwei Jahren in Nordrhein-Westfalen etabliertes Angebot ist SABRA. Sophie Brüss stellte vor, wie Betroffene und Ratsuchende beraten werden können und wie auch Schulen Unterstützung, beispielsweise durch Fortbildung, anfordern können. SABRA wird ausgebaut. Susanne Blasberg-Bense, die zuständige Abteilungsleiterin im NRW-Schulministerium, konnte verkünden, dass im Juni 2019 ein Vertrag zwischen dem Träger von SABRA, der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, und dem Ministerium unterzeichnet wurde. Das Ministerium stellt eine zusätzliche Lehrerstelle zur Verfügung.
  • Ein weiteres Angebot gibt es über die örtlichen schulpsychologischen Dienste. Nina Laube stellte die Arbeit der Landesstelle Schulpsychologie vor, die Materialien für Schulleitungsdienstbesprechungen und schulinterne Fortbildungen erarbeitet hat. Die Landesstelle schult die örtlichen Dienste für ihre Interventions- und Präventionsarbeit. Jeder Dienst erhält vom Schulministerium ab Sommer 2019 eine zusätzliche Stelle, die helfen soll, Schulen gegen Antisemitismus und Rassismus zu beraten und je nach Bedarf weitere Hilfe zu vermitteln. Zentral für die schulpsychologische Arbeit ist die Schaffung eines diskriminierungsfreien Klimas in den Schulen. Dies ist erreichbar, wenn die Schule bereit ist, ihren Schulentwicklungsprozess an diesem Ziel zu orientieren.

Nicht zuletzt darf auf die gemeinsame Erklärung der KMK und des Zentralrats der Juden vom 8. Dezember 2016 verwiesen werden, auf deren Grundlage eine kommentierte Materialsammlung entstanden ist.

Wie weit diese und andere Maßnahmen wirken, bleibt offen. Wie schon gesagt muss auch mehr Mut zu direkter Intervention gefördert werden. Nichts darf unter den Teppich gekehrt werden. Ein großes offenes Feld ist die Ausbildung pädagogischen Personals. In Hochschulen spielt das Thema Antisemitismus – so eine Analyse von Samuel Salzborn – nur eine randständige Rolle. Für Bildung zuständige Ministerien verweisen bei Abfragen auf Kooperationen mit Yad Vashem und Erinnerungskultur, scheinen aber wenig Einfluss darauf zu nehmen, wie jüdische Geschichte, jüdisches Leben in Deutschland, die Geschichte Israels in Schulbüchern und Geschichtsunterricht und Antisemitismus im Kontext thematisiert werden. In Fortbildungen wird Antisemitismus in der Regel unter Demokratiepädagogik und Anti-Rassismus subsummiert. Dies wird jedoch der kritischen Situation in der Gesellschaft nicht gerecht.

Die Teilnehmenden der Diskussion stimmten Frau Blasberg-Bense zu, die sich für einen Paradigmenwechsel in der Aus- und Fortbildung einsetzte. Das Ziel einer diskriminierungsfreien Schule und Gesellschaft müsse im Mittelpunkt jedes Entwicklungsprozesses stehen. Dazu gehören auch Peer-to-peer-Prozesse. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Juli 2019, alle Internetlinks wurden am 16. September 2022 auf Richtigkeit überprüft, allerdings stellte sich heraus, dass die Landesstelle Schulpsychologie im Unterschied zum Juli 2019 keinen eigenen Auftritt mehr hat, sondern nur ganz allgemein auf der Seite des NRW-Schulministeriums genannt wird.)