Die Bildung und der Antisemitismus
Warum es so schwer ist, Antisemitismus zu bekämpfen
„Die Judenfeindschaft blüht. Als Gegenmittel wird nun Bildung gepriesen, das gehört zum Standardrepertoire von Politikern. Doch gebildete Menschen sind nicht weniger anfällig für Vorurteile als ungebildete. Vorurteile geben Halt. Es waren gebildete Menschen, Bischöfe und Könige, Stadtkämmerer und Zunftmister, Priester und Landesfürsten, die jahrhundertelang den Hass auf Juden schürten. Adolf Hitler stellte 1931 hoffnungsfroh fest: ‚Wenn eines mich an den Sieg unserer Bewegung glauben lässt, so ist es der Vormarsch unserer Bewegung in der Studentenschaft.‘ Von fünfzehn Teilnehmern der Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 trugen acht den Doktortitel.“ (Louis Lewitan: Der Antisemitismus von nebenan, in: Die ZEIT vom 9. November 2018)
Wer glaubt, dass Bildung ein geeignetes zureichendes Instrument wäre, antisemitisches Denken und antisemitische Taten zu verhindern, muss sich eines Schlechteren belehren lassen. Wer wirksam Antisemitismus bekämpfen will, mag sich mitunter wie Sisyphos vorkommen, vielleicht mit dem Unterschied, dass der Satz von Albert Camus, der Sisyphos in seinem Essay „Le mythe de Sisyphe“ letztendlich zu einem glücklichen Menschen erklärte, kaum zutreffen dürfte.
Bildung gegen Antisemitismus – eine Illusion?
Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz nennen in ihrem Buch „Die Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ eine illustre Reihe von gebildeten Menschen, die sich antisemitisch äußern und betätigen. „Es waren Wissenschaftler, Rechtsanwälte, Ärzte, Bankangestellte, Pfarrer und Studierende, die Äußerungen kommunizierten, aus denen das uralte judeophobe Ressentiment sprach, ungebrochen durch die Erfahrung Auschwitz, trotz Bildung und Reflexion über die Sprache artikuliert, Botschaften der Intoleranz und Verblendung.“
Je höher der Bildungsstand, umso bemühter waren sich – so ein Ergebnis von „Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert“ – die Einsendenden, ihre Positionen umfangreich, zum Teil mit diversen Anlagen und ausführlichen Dossiers zu begründen, und vor allem die Regeln der Höflichkeit einzuhalten, indem sie – offenbar voraussetzend, dass sie Neues berichteten – versuchten, ihre Adressat*innen, Zentralrat der Juden und israelische Botschaft, für Interventionen bei der israelischen Regierung zu gewinnen. Gemeinsam war ihnen „die konzeptuelle Verschmelzung der Konzepte JUDE(N) und ISRAELIS(S)“, verbunden „mit der häufigen Thematisierung der eigenen Integrität und dem Phänomen der individuellen Antisemitismus-Abwehr; diese Menschen begreifen sich selbst bzw. ihre Meinung nicht als antisemitisch oder problematisch, sie sehen ihre Standpunkte als notwendig und berechtigt an und bürgen dafür mit ihrem Namen.“
In einem anderen Essay stellt Monika Schwarz-Friesel die Frage: „Wie kann – nach Jahrzehnten des Bemühens, über Judenfeindschaft aufzuklären – ein universitär gebildeter Mensch allen Ernstes antisemitische Äußerungen artikulieren?“ Sie beantwortet die Frage mit der antisemitischen Tradition deutschen Geisteslebens. Das „Ressentiment gegen Juden“ ist bis 1945 „habitualisiertes Alltags- und Kulturgut“ gewesen. Wer dieses Ressentiment ausleben wollte, fand spätestens nach 1933 genug Gelegenheit dazu und konnte sich von zahlreichen gebildeten Autoritäten ermutigt und bestätigt fühlen. Martin Heidegger war kein Einzelfall, die „Weiße Rose“ schon.
Erstes Fazit: Es mangelt selbst gebildeten Menschen mehr oder weniger an fast allem, was einen gebildeten Menschen ausmachen sollte, an historischem Wissen, an Sprachgefühl, an Problembewusstsein, an der Bereitschaft, sich auf die berechtigten Klagen der von Antisemitismus betroffenen Menschen einzulassen, sowie an dem erforderlichen Differenzierungsvermögen über komplizierte historische und politische Sachverhalte.
Hilflose Bildungsministerien
Nach den Beschlüssen des Zentralrats der Juden und der KMK vom 1. September beziehungsweise 8. Dezember 2016 über ihre gemeinsame „Erklärung zur Vermittlung jüdischer Geschichte, Religion und Kultur in der Schule“ gab es Hoffnung. Am 18. April 2018, wenige Tage nach den Angriffen eines jungen Mannes auf einen Kippa tragenden Mann im Berliner Alternativ-Kiez Prenzlauer Berg fand eine vielbeachtete Tagung statt, die der Vorsitzende des Zentralrats, Dr. Josef Schuster, und der damalige Präsident der KMK, Helmut Holter, gemeinsam eröffneten.
Wenig später erkundete sich der Vorsitzende des Zentralrats 2018 bei den Kultusminister*innen der Länder nach dem Sachstand in der Lehrer*innenbildung. Dies führte zur Einrichtung einer neuerlichen gemeinsamen Arbeitsgruppe, die ihre Ergebnisse voraussichtlich im Jahr 2021 vorlegen dürfte. Etwa zeitgleich arbeitet eine von Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, geleitete internationale Arbeitsgruppe an einem Maßnahmenbündel auf europäischer Ebene.
Auf der Ebene der Entschließungen der Parlamente und höchster exekutiver Gremien lässt sich ein hohes Bewusstsein für die Gefahren des Antisemitismus feststellen. Doch mitunter lässt sich der Eindruck nicht vermeiden, es handele sich wie bei der bekannten Kurzgeschichte von Heinrich Böll um ein mantrahaft vorgetragenes „Es muss etwas geschehen“. Je weiter man*frau in die Niederungen der pädagogischen und kulturellen Praxis hinabsteigt, umso schwieriger wird es. Diejenigen, die in den Ländern Lehrpläne und Fortbildungskonzepte schreiben, nehmen nach meinen Erfahrungen Beschlüsse der KMK oder anderer bundesweiter Minister*innenkonferenzen kaum wahr. Ich wage zu behaupten, dass bis heute kein einziges Land seine Lehrpläne und Fortbildungskonzepte in Bezug auf die Erklärung von Zentralrat der Juden und KMK grundlegend überarbeitet hätte, vielleicht abgesehen von einigen marginale Hinweisen, dass Antisemitismus bei Erwähnung von Demokratie und Rassismus doch immer mitgemeint wäre.
Schulbücher wurden ebenfalls nur sehr zurückhaltend verändert. Die deutsch-israelische Schulbuchkommission hat 2017 Empfehlungen vorgelegt. Sie stellte auf der Grundlage von Texten bis zum Jahr 2015 fest, dass mit Ausnahme einiger Bücher aus Bayern fast alle Bücher erhebliche Defizite im Hinblick auf „Jüdische Geschichte, Religion und Kultur“ – so die Begrifflichkeit der Erklärung von 2016 – aufwiesen (Deutsch-Israelische Schulbuchkommission, Hg.: Deutsch-Israelische Schulbuchempfehlungen, 2. veränderte. Auflage, Göttingen, V & R Unipress, 2017). Eine vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet im Jahr 2018 in Auftrag gegebene Studie, die die Ergebnisse der genannten Studie aktualisieren sollte, wird von der zuständigen Fachabteilung im Schulministerium nur dilatorisch bearbeitet, sodass die Ergebnisse noch nicht vorliegen. Die empirische Forschung hätte hier noch einiges zu tun.
Wie empfindlich – oder sollte ich schreiben hilflos – die Landesministerien agieren, lässt sich nicht nur aus ihren Antworten an die Nachfrage von Josef Schuster, sondern auch aus manchen Berichten von Antisemitismusbeauftragten ablesen. In solchen Behörden-Berichten werden gerne alle Maßnahmen, die auch nur entfernt etwas mit dem Thema der Abfrage zu tun haben könnten, als spezifische Maßnahme zum jeweiligen Thema des Berichts benannt. Während beispielsweise der Bericht aus Baden-Württemberg relativ konkrete Vorschläge vorgelegt hat, zeichnet sich der nordrhein-westfälische Bericht dadurch aus, dass eine Fülle von Maßnahmen genannt wird, denen allen eines gemeinsam ist: Antisemitismus ist mitgemeint, aber spezifiziert wird nichts.
So nennen alle Länder bei Nachfragen zum Antisemitismus regelmäßig ihre Kooperationen mit Yad Vashem und die dort durchgeführten Fortbildungen oder andere Formen der Zusammenarbeit mit Gedenkstätten an die Opfer der Shoah als Maßnahme gegen Antisemitismus. An den Fortbildungen in Yad Vashem nehmen in der Regel einmal im Jahr jeweils etwa 20 bis 25 Lehrkräfte eines Bundeslandes teil, engagierte Kolleg*innen, von denen anzunehmen ist, dass sie in der Sache gut informiert sind und wissen, worüber sie reden. Benannt werden Anti-Diskriminierungsstellen, Sozialarbeit, auch Schulpsychologie, obwohl deren Aufgaben erheblich breiter definiert sind als ausschließlich im Hinblick auf das Thema Antisemitismus. In der Ausbildung der Lehrer*innen ist es eher zufällig, ob Antisemitismus thematisiert wird, in der Regel abhängig von den Schwerpunkten einzelner Hochschullehrer*innen, in der Fortbildung wird das Thema gerne in einem größeren Zusammenhang, beispielsweise zu politischer Bildung oder zu Demokratie angesprochen. Weitere Konkretisierungen Fehlanzeige. Dies haben Samuel Salzborn und Alexandra Kurth in ihrer Studie „Antisemitismus in der Schule – Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven“ bei gleichzeitigem Lob der gemeinsamen Erklärung von KMK und Zentralrat der Juden feststellen müssen.
Überforderte Lehrkräfte?
Julia Bernstein denkt in ihrer Studie „Antisemitismus an Schulen in Deutschland – Befunde – Analysen – Handlungsoptionen“ (Weinheim, Beltz Juventa, 2020) darüber nach, warum Lehrkräfte die Schuld der Täter*innen der Shoah ebenso wie das Leid der Opfer so oft relativieren. Ich nenne zwei der von ihr zitierten Beispiele, die vielleicht manchen Leser*innen ungewöhnlich erscheinen mögen, aber nichtsdestoweniger gut wiedergeben, mit welchem Stand des Bewusstseins wir rechnen müssen. Eine Lehrkraft meinte anmerken zu müssen, dass alle, die den Krieg überlebt hätten, gleichermaßen als „Überlebende“, als „Opfer“ zu betrachten wären. Ein besonders absurdes Beispiel für solche „Schuldabwehr“ ist der Beitrag einer Studentin, die ihren Großvater als „Helden“ präsentiert, weil er eine Jüdin, die schlecht zu Fuß war, mit seiner Kutsche gefahren habe. Auf die Frage, wohin er sie gefahren habe, kam die Antwort: „Zum Hauptbahnhof, zur Deportation.“
Lehrkräfte sind vielleicht überfordert. Zumindest fühlen sich viele so. Ob dies nur an mangelnder Aus- und Fortbildung liegt oder nicht auch an fehlender politischer Bildung, vielleicht an fehlendem Interesse für historisch-politische Zusammenhänge, vermag ich nicht zu beurteilen. Eine Rolle spielt sicherlich der Druck von außen, durch Eltern, durch Kolleg*innen, möglicherweise durch die Presse, kurz die Angst, etwas Falsches, Anstoß Erregendes zu sagen oder zu tun, und schon gar nicht möchte jemand den Eindruck zu erwecken, an der eigenen Schule wäre etwas nicht in Ordnung.
Julia Bernstein dokumentiert die Ängste von Lehrkräften und Schulleitungen, dass schon die Ankündigung einer Fortbildung als Schwäche und Hinweis auf unerfreuliche Entwicklungen in der Schule verstanden werden könnte und Abwehrhaltungen bewirkt. Entsprechend wird Antisemitismus zum „persönlichen Konflikt“ heruntermoderiert, den die betroffenen Schüler*innen unter sich ausmachen sollten. „Damit werden die Betroffenen mitunter in die Pflicht genommen, mit den Angreifer*innen auf interpersoneller Ebene übereinzukommen und eine Entschuldigung anzunehmen, obwohl es ihren Wünschen und Bedürfnissen widerstrebt. Wenn sie sich weigern, die Entschuldigung anzunehmen, wird es ihnen oft übelgenommen und ihr Verhalten von einigen Lehrkräften als trotzig oder konfliktträchtig ausgelegt.“
Manche Lehrkräfte fürchten Nachteile, welcher Art auch immer, wenn sie sich negativ über den Antisemitismus muslimischer Schüler*innen äußern, da diese sich ja auch oft diskriminiert fühlten, bagatellisieren antisemitische Beschimpfungen als schlichtes Mobbing oder persönliche Differenz zwischen zwei Schüler*innen. Viele verstehen Antisemitismus lediglich als Untergruppe von Rassismus, obwohl Rassismus nur eine der verschiedenen Begründungen von Antisemitismus ist. „Viele wissen, dass es keine ‚Rassen‘ gibt, nutzen allerdings Rassifizierungskategorien, kreieren ‚rassische‘ Unterschiede und reproduzieren rassistische Ordnungssysteme.“
Nicht zuletzt befürchten manche, dass die Schüler*innen zu wenig motiviert wären, sich mit der Shoah im Unterricht zu beschäftigen, und verzichten daher von sich aus auf dieses Thema. So kommen Statements zustande wie das einer Lehrkraft, die treuherzig verkündet, dass das Thema im Unterricht so eingeführt werden solle, dass es den Schüler*innen auch „Spaß“ mache. Gedenkstätten berichten hingegen von hohem Interesse ihrer Besucher*innen. Andererseits gehört der Besuch einer Gedenkstätte nicht zum Regelangebot einer Schule. Ein flächendeckendes Angebot, möglicherweise sogar eine flächendeckende Pflicht zum Besuch einer Gedenkstätte, wie sie Josef Schuster bereits mehrfach vorschlug, gibt es nicht.
Das Ergebnis: Julia Bernstein zitiert eine Studie der Körber-Stiftung aus dem Jahr 2017: „Weniger als die „Hälfte der 14-16jährigen Jugendlichen (47 Prozent) weiß, was Auschwitz-Birkenau war. (…) Eine solche Unwissenheit unter Schüler*innen folgt auch aus der Vermeidung der Thematisierung der Shoah im Unterricht und weiterführender Bildung im Themenbezug.“ Und nicht zuletzt: auch Eltern tragen ihr Teil zu einer „Haltung der Erinnerungs- und Schuldabwehr“ bei.
Gefährliche Sonntagsreden
Ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass es viele engagierte Lehrer*innen gibt, die mit ebenso interessierten Schüler*innen versuchen, sich den diversen Themen rund um Jüdische Geschichte, Religion und Kultur zu widmen. Viele nutzen die Angebote der Gedenkstätten, nicht nur in Deutschland, auch auf Klassenfahrten ins Ausland, manche halten Kontakt mit einer jüdischen Gemeinde in der Nähe oder nutzen die Kontaktmöglichkeiten über „Meet A Jew“ (www.meetajew.de). Der Zentralrat der Juden und die KMK haben sogar eine in Peer-Verfahren geprüfte Datenbank mit Materialien und Hintergrundinformationen veröffentlicht , die neben der Bundeszentrale für politische Bildung vielleicht das bestkommentierte Angebot auf dem Markt der Bildungsmedien darstellt. Aber es bleibt trotzdem die Frage nach dem, was Politiker*innen gerne „Flächendeckung“ nennen. Es sieht so aus, dass die positiven Beispiele, die sich überall finden lassen, nicht die Regel, sondern die Ausnahme sind.
Gefordert wird in vielen Sonntagsreden, Feierstunden zum ichweißnichtwievielten Jubiläum einer Gedenkstätte „Erinnerung“. In der Tat hat die deutsche „Erinnerungskultur“ viel bewegt. Die politische Wirkung der berühmten Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 sollte nicht unterschätzt werden. Einer seiner immer wieder nachgesprochenen Merksätze lautet: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Hier setzt die Kritik Meron Mendels an, nicht an diesem Satz, sondern an seiner Verwendung in der pädagogischen Theorie und Praxis: „Aus pädagogischer Sicht ist dieser Gedanke gefährlich. Das Gefühl, erlöst zu sein, vermittelt den Anschein, als sei das Problem aus der Welt. Es etabliert sich, wie die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann zutreffend beschrieb, ein Selbstverständnis als Weltmeister der Erinnerung.“ Mission accomplished? Anders gesagt: Es geht nicht um „Erlösung“ von Antisemitismus und historischer Schuld, sondern um Bekämpfung des Antisemitismus, auch, aber nicht nur in Anerkennung der historischen Schuld.
Meron Mendel, Leiter der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt am Main (www.bs-anne-frank.de) hat seinen Beitrag einer Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom Juni 2020 mit dem Satz überschrieben, der als Grundsatz jeder Leugnung welchen Problems auch immer gelten darf: „Weil nicht sein kann, was nicht sein darf“. Anders gesagt: Antisemitismus an meiner Schule, in meinem Viertel, in meinem Betrieb? Nicht möglich. Es hilft nun wenig, jemanden als Antisemit*in zu bezeichnen, wenn er*sie fest davon überzeugt ist, gerade dies nicht zu sein. Die schwierigste Aufgabe eines Bildungsprozesses ist daher der Anfang. Wie ist es möglich, dass Menschen sich mit einem Thema beschäftigen, dessen Relevanz sie bezweifeln und dessen Unterhaltungswert unter Null liegt?
Grenzen der Erinnerungskultur
Gedenkstättenpädagogik ist meines Erachtens überfordert, wenn sie dafür verantwortlich gemacht wird, jeden Antisemitismus zu bekämpfen. Julia Bernstein: „In Gedenkstätten soll die Geschichte der Orte vermittelt werden. Besuche von Gedenkstätten stellen demnach eine Öffnung des schulischen Lernens dar, sind aber wegen der Historisierung der Juden als vernichtet keineswegs an sich eine Präventionsmaßnahme gegen Antisemitismus. Dabei sollte der Gegenwartsbezug zum heutigen Antisemitismus hergestellt werden.“
Julia Bernstein spricht von „Belehrungskommunikation zur gemeinschaftlichen Verurteilung des nationalsozialistischen Antisemitismus“, der wie schon gesagt nur eine Ausprägung von Antisemitismus ist, die die vom Verfassungsschutz in seinem Lagebild 2020 zum Antisemitismus genannte sechste „Radikalisierungsstufe“ erreicht hat (Die sechs Stufen: „latente Einstellungen“, „verbalisierte Diffamierungen“, „politische Forderungen“, „diskriminierende Praktiken“, „Übergriffe auf Einrichtungen und Personen“, „systematische Vernichtung, Mord“.
Das Erlebnis einer kollektiven Läuterung bleibt Illusion. Vielleicht werden manche Besucher*innen nachdenklich, auch diejenigen, die den Besuch in der Regel nicht selbst initiiert haben und vielleicht zunächst skeptisch waren. Solange jedoch der Bezug zum heutigen Alltag fehlt, wird der Besuch einer Gedenkstätte bei einigen als bloßes Event erinnert werden. Vor- und Nachbereitung einer Gedenkstättenfahrt ist mehr als Ereignisse aneinanderreihender Geschichtsunterricht. Linguistik, Psychologie, Sozialwissenschaft gehören dazu, letztlich – wie die gemeinsame Erklärung von Zentralrat der Juden und KMK sagt – ein Thema aller Fächer.
Noch gefährlicher wird es, wenn bestimmten Gruppen die gelungene Aufarbeitung, die „Erlösung“ oder sogar Erlösbarkeit abgesprochen wird. Dazu gehören beispielsweise Menschen mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“. Meron Mendel zitiert die „Integrations- und Migrationsforscherin Naika Foroutan, die 2017 auf Augsteins Frage, wie man als ‚migrantische Autorin mit der deutschen Schuld‘ umgehe, wie folgt antwortete: ‚Ich finde Ihre Fragen an mich irritierend: weniger, weil Sie so selbstverständlich davon ausgehen, dass ich als Muslimin, oder als Migrantin, oder als was auch immer Sie mich anfragen, keine Deutsche und somit auch nicht verwoben mit dieser Geschichte sein kann. Vielmehr, weil Ihre Täter-Opfer-Außenseiter-Kategorisierung so wenig die Komplexität des Holocaust und seiner Geschichten reflektiert.“
Naika Foroutan entlarvt eine bestimmte Form von Erinnerungskultur als Waffe, mit der Auszuschließende als Ausgeschlossene markiert werden. Sie sind die anderen, die vielleicht auch gerade wegen der Geschichte ihres Herkunftslandes einer „Erlösung“ von ihrer eigenen Geschichte bedürfen, aber was haben sie mit der Shoah zu tun? Elke Gryglewski belegte diesen wenig migrationssensiblen Zugang auf einer Veranstaltung der KMK und der Bundeszentrale für politische Bildung zur 2014 beschlossenen KMK-Empfehlung zur Erinnerungskultur mit folgendem Beispiel: Lehrer*in gibt an die Schüler*innen den Auftrag, Großeltern nach dem Krieg zu fragen, entbindet aber die jungen Menschen mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ davon, diese Aufgabe zu erfüllen. Sie hätten ja nichts damit zu tun.
Viola Georgi belegt in ihren Arbeiten empirisch, dass junge Menschen aus ein- und zugewanderten Familien durchaus Interesse für die deutsche Geschichte und die Shoah zeigen. Sie bezieht sich auf eine Rede des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau, der auf dem Historikertag 2003 in Halle über Deutschland als „Einwanderungsland“ sprach, in dem ein „Wir“ entstehen müsse, zu dem auch „gemeinsame Erzählungen, (…) eine Geschichte“ gehörten. Viola Georgi überschreibt diese Passage mit den Begriffen „Multiperspektivität durch Beziehungsgeschichten“: „Es ist die Frage nach dem Subjekt der Geschichte, aber eben auch die Frage nach den (…) Rahmungen der historischen Erzählung, nach den Ausgangs- und Fluchtpunkten sowie den Anfangsmetaphern. Was stellen wir an den Anfang der Erzählung des gemeinsamen ‚Wir‘ in der Einwanderungsgesellschaft? Am Anfang war die Vertreibung aus dem Paradies? Am Anfang war die Völkerwanderung? Am Anfang war die Nation? Am Anfang war der Pass? Am Anfang war die Grenze? (…) Bislang fehlen noch die tragfähigen Begriffe und Konzepte, um das Gemeinsame und nicht das Trennende dieser im doppelten Sinn geteilten Geschichte in sprachmächtige Metaphern, Bilder und Erzählungen zu fassen.“ (Viola B. Georgi / Rainer Ohlinger, Hg. Crossover Geschichte – Historisches Bewusstsein in der Einwanderungsgesellschaft, Hamburg, edition Körber-Stiftung Hamburg 2009).
Eine andere verbreitete Variante der Exklusion wäre es, grundsätzlich davon auszugehen, dass muslimische beziehungsweise arabische oder türkische junge Menschen – nicht zu vergessen: die haben fast alle einen deutschen Pass und sind in Deutschland geboren, also deutsche Staatsbürger*innen – oder in den letzten Jahren aus arabischen Ländern Zugewanderte und Geflüchtete von vornherein als Antisemit*innen zu verdächtigen. Wenn Pädagog*innen in ihren Gruppen, Kursen oder Klassen eine*n Jugendlichen mit dem sogenannten „Migrationshintergrund“ erleben, der*die mit antisemitischen, vielleicht sogar nationalsozialistischen Begriffen und Gesten auf sich aufmerksam macht, einfach als „Türken*Türkin“, „Araber*in“ abtun, der*die es nicht besser wissen könne, verfehlen sie ihren Auftrag. Meron Mendel unter Bezug auf Saba-Nur Chesma („Verdächtig sind die Anderen – Umgang mit islamistischem Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus in der Bildungsarbeit“, in: Andreas Foitzik / Lukas Hezel, Hg., Diskriminierungskritische Schule, Einführung in theoretische Grundlagen, Weinheim 2019): „Zum einen soll eine pädagogische Intervention gegen die Verherrlichung Hitlers und die Hetze gegen Juden und Jüdinnen stattfinden. Gleichzeitig gehört es zur Aufgabe von Pädagoginnen und Pädagogen, selbstreflexiv zu handeln und eine derartige Konstruktion von Gruppen zu hinterfragen.“
Eine besondere Form der Schuldabwehr besteht darin, mit dem Finger auf die Schuld der anderen zu zeigen. Insofern ist es schon ein wenig anmaßend, wenn westliche Parlamente – so auch der Deutsche Bundestag oder die französische Assemblée Nationale –darüber abstimmen, dass die Massaker der Türkei bzw. des damaligen Osmanischen Reiches an den Armenier*innen im Jahr 1915 als „Völkermord“ zu bezeichnen wären. Ich will dieser Bezeichnung nicht widersprechen, aber sehe es nicht als Aufgabe eines Parlaments, darüber zu befinden. Es wäre etwa vergleichbar einer Abstimmung im Parlament der Türkei über den „Völkermord“ des damaligen Deutschen Reichs an den Herero und Nama. Für Lehrer*innen reicht es schon gar nicht aus, sich hier auf gegenseitige Schuldzuweisungen zurückzuziehen.
Neutralitätspflicht gibt es nicht
Lehrkräfte kennen den berühmt-berüchtigten „Beutelsbacher Konsens“, kennen aber eher selten den Beschluss der KMK vom 11. Oktober 2018 mit dem Titel „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“. Dieser KMK-Beschluss enthält eine ausführliche Kommentierung des Beutelsbacher Konsenses, der mitnichten Neutralität verlangt. Julia Bernstein schreibt mit Recht: „‘Neutralität‘ gegenüber Antisemitismus kann es nicht geben. Denn vermeintliche Neutralität im Kontext Antisemitismus ist Indifferenz gegenüber Anfeindungen und Gewalt gegenüber Jüdinnen und Juden. In dem Antisemitismus aus dieser Position heraus bagatellisiert wird, werden antisemitische Akteure aufgewertet. (…) Das ist keine Parteinahme im Sinne einer politischen Positionierung, sondern eine Positionierung gegen Antisemitismus. Diese ist nicht nur vereinbar mit der von Lehrer*innen geforderten Neutralität, sondern in der Lehrerrolle gefordert.“
Julia Bernstein berichtet von mehreren Fällen, in denen antisemitische Äußerungen mit Schulverweisen oder dem temporären Ausschluss von einer schulischen Veranstaltung, beispielsweise einer Klassenfahrt geahndet werden sollten. Damit würde das Problem nicht aus der Welt geschafft, sondern lediglich an andere weiterdelegiert, beispielsweise an eine andere Schule. Sie plädiert für eine offene Auseinandersetzung, für Nachfragen und Gegenfragen, von der „Förderung eines Reflexionsraums, in dem man Fehler machen kann und sich durch die Aneignung von Wissen und der sozialen Kompetenz als gesellschaftlich engagierte und immer weiter lernenden Person entwickelt.“ So kann „Ambiguitätstoleranz im heterogenen Klassenraum als Mikrokosmos der heterogenen Gesellschaft“ entstehen. Auf keinen Fall sollten Schüler*innen in eine Situation gebracht werden, in der sie „ihre Gesamtpersönlichkeit verteidigen oder sich persönlich gegen die Autoritätsperson eines Erwachsenen und Lehrers, zu der sie in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen, behaupten zu müssen.“ Sie müssen die Chance haben, ihre Aussagen zurückzunehmen, zu revidieren und vor allem zu reflektieren.
Ähnlich auch Meron Mendel: „Ohne antisemitische Inhalte zu relativieren, sollen die Adressatinnen und Adressaten die Möglichkeit bekommen, ihre Ängste, Unsicherheiten und Empörung zu Ausdruck zu bringen.“ Wenn sich dann Unterrichtsreihen ergeben, in denen Sprache, Geschichte, die Konstruktion von Exklusion durch eine Aufteilung der Welt in „Wir und die anderen“ ergäbe, wäre dies ein Anfang. Marina Chernivsky, die zwei Kapitel für die von Julia Bernstein in ihrer Studie veröffentlichten „Handlungsempfehlungen“ beigetragen hat, fasst die Perspektiven einer an „Empowerment“ orientierten Pädagogik zusammen: „Die Perspektive derjenigen, die Dominanzansprüchen, Hierarchisierungen und machtvollen Rollen- sowie Identitätsordnungen ausgesetzt sind, unterscheidet sich grundlegend von der Perspektive jener, die nicht qua ihrer Herkunft von außen definiert und verandert werden, damit nicht konfrontiert werden.“ Dies gilt eben auch für die Wir-Gruppe der Pädagog*innen. Antisemitismus lässt sich nicht bekämpfen, wenn die Welt als eine Welt erscheint, in der junge Antisemit*innen und erfahrene erwachsene Anti-Antisemit*innen sich gegenüberstehen.
Optimistischer Ausblick?
Das, was in Sonntagsreden Allgemeinplatz ist, braucht dringend einen Platz im gesellschaftlichen und pädagogischen Alltag. Allerdings bräuchten Pädagog*innen auch die entsprechende Aus- und Fortbildung, darüber hinaus aber die beratende und wohlwollend begleitende Unterstützung ihrer Vorgesetzten, beispielsweise von Schulleitung und Schulaufsicht. Solange diese jedoch fürchten, dass die Schule wegen eines antisemitischen Vorfalls ins Gerede käme und daher lieber wie der berüchtigte Vogel Strauß den Kopf in den Sand stecken, wird dies nicht gelingen.
Meron Mendel hält Erfolge dann für absehbar, „wenn Erwachsene Antisemitismus nicht nur als Problem ‚der Anderen‘ wahrnehmen, sondern beginnen, sich selbst auf antisemitische Ressentiments hin zu befragen.“ Selbst für den Fall, dass eine solche Selbstbefragung ergeben sollte, dass solche Ressentiments nicht vorhanden wären, bleibt die Frage, warum Erwachsene Antisemitismus nicht erkennen, nicht thematisieren und weghören oder wegschauen (wollen). Samuel Salzborn und Alexandra Kurth haben in ihrer Studie zur Lehrer*innenausbildung (Antisemitismus in der Schule – Erkenntnisstand und Handlungsperspektiven“ deutlich herausgearbeitet, dass die aktuelle Lehrer*innenaus- und -fortbildung nur wenig, eigentlich nichts dazu beiträgt, Lehrkräfte auf die Aufgabe vorzubereiten, Antisemitismus zu erkennen und erfolgreich zu intervenieren.
Material gibt es genug. Die wissenschaftliche Forschung bietet historische, sozialwissenschaftliche, psychologische und linguistische Zugänge. Warum werden diese nicht didaktisiert? Ich könnte mir Vieles vorstellen, nenne aber nur drei Beispiele:
- Für das Fach Deutsch: Warum werden die von Julia Bernstein, Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz dokumentierten und ausgewerteten Briefe, e-mails, Berichte nicht für ein didaktisches Modul zur Sprache des Antisemitismus genutzt? Es wäre ein Leichtes, auch auf den ersten Blick für viele nicht erkennbare Antisemitismen zu analysieren.
- Für das Fach Geschichte: Ein Vergleich verschiedener Staaten anhand einzelner Begriffe würde zeigen, dass und warum Israel ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat ist. Dies ließe sich beispielsweise an dem Begriff der „Apartheid“ durchführen, der in der Debatte um Achille Mbembe eine zentrale Rolle spielte. Ein Vergleich Südafrikas, der USA der 1960er Jahre und Israels würde dies sehr schnell belegen. Das können Lernende selbst recherchieren. Vergleichbar ließe sich mit dem Thema der Gewaltenteilung umgehen, die es in Israel in vollem Umfang gibt, aber in keinem der umliegenden arabischen Staaten, schon gar nicht in den Gebieten der Palästinensischen Autonomiebehörde und in Gaza, und immer weniger in der Türkei.
- Für die Beratung: Vorausgesetzt, Lehrer*innen haben gelernt, auch subtile antisemitische Äußerungen zu erkennen, sollten sie auch in der Lage sein, darauf angemessen zu reagieren. Zurückweisung ist nur ein Anfang, die Aufforderung, eine Äußerung zu begründen, Gegenargumente zu recherchieren – die oft genug dann auch aus der Lerngruppe kommen –, realen und möglichen Wirkungen der eigenen Worte nachzuspüren – das wäre ein weiterer Schritt.
All dies natürlich in enger Zusammenarbeit mit einem flächendeckenden, staatlich institutionell geförderten zivilgesellschaftlichem Netzwerk mit einer maßgeblichen Rolle der jüdischen Gemeinden und Organisationen – das wäre nicht nur ein wichtiges Signal für die demokratische Zukunft der Schule, sondern auch der Gesellschaft. Es nützt nichts, wenn deutsche Schüler*innen eines Tages in den PISA-Tests die Spitzenposition erreichten, der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat jedoch nachhaltig beschädigt wäre. Das gilt im Übrigen auch für die Ausbildung von Polizist*innen, Richter*innen, Staatsanwält*innen und Justizangestellten. Und damit habe ich etwas zu einer dringend erforderlichen neuen Prioritätenbildung in der Bildungspolitik gesagt, und nicht nur in der Bildungspolitik, damit sich auf einer neuerlichen Wannsee-Konferenz nicht eines Tages erneut gebildete Menschen treffen …
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2020, Internetlinks wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.)