Auf dem Weg zur rassismuskritischen KiTa

Ein Gespräch mit der Sozialwissenschaftlerin Seyran Bostancı

„(1) Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung unabhängig von der Rasse, der Hautfarbe, dem Geschlecht, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, einer Behinderung, der Geburt oder des sonstigen Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds. (2) Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Kind vor allen Formen der Diskriminierung oder Bestrafung wegen des Status, der Tätigkeiten, der Meinungsäußerungen oder der Weltanschauung seiner Eltern, seines Vormunds oder seiner Familienangehörigen geschützt wird.“ (Artikel 2 der 1989 beschlossenen UN-Kinderrechtskonvention)

Die UN-Kinderrechtskonvention, die auch von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde, gebietet eine umfassend inklusive, diskriminierungs- und rassismuskritische Bildung. Diese wird umso wichtiger als dass in vielen Stadtteilen, Schulen und Kindertageseinrichtungen inzwischen mehr als die Hälfte der Kinder in einer Familie mit einer migrantischen Geschichte aufwächst. Aber auch wenn die Zahl dieser Kinder geringer wäre, ist und bleibt es Auftrag eines inklusiv ausgerichteten Bildungssystems, die unterschiedlichen Bedürfnisse, die verschiedenen Familiengeschichten und alltäglichen Gewohnheiten, kurz: die Vielfalt in unserer Gesellschaft ernst zu nehmen, nicht als Problem, sondern als Chance und jeder Rassifizierung und Diskriminierung entgegenzuwirken. Gesellschaftliche Stimmungen können dies erschweren. Meilensteine der Rassifizierung politischer und gesellschaftlicher Debatten sind die seit 2011 wirkende Sarrazin-Debatte, die Debatte um die Kölner Sylvesternacht Anfang 2016 und die Debatten nach dem 7. Oktober 2023. Ob die nach der Veröffentlichung der Correctiv-Recherche stattfindenden Demonstrationen nachhaltig wirken und wie sie das Bewusstsein verändern, bleibt abzuwarten. Ein ermutigendes Zeichen sind sie allemal.

All dies ist Gegenstand der Migrations- und Integrationsforschung, auch in Deutschland. Eine der führenden und international anerkannten deutschen Institutionen der Migrations- und Integrationsforschung ist das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Das DeZIM wird im Wesentlichen vom Bundesfamilienministerium finanziert. Direktorin ist Naika Foroutan. Ein zentrales Instrument ist der Nationale Diskriminierungs- und Rassismusmonitor (NaDiRa), für den der Deutsche Bundestag seit 2020 Mittel bereitstellt.

Seyran Bostancı. Foto: Mehdi Bahmed.

Die Ergebnisse von DeZIM und NaDiRa werden allgemein beachtet, aber in den öffentlichen Debatten wird nur selten darüber nachgedacht, wie sich rassistische, antisemitische und andere menschenfeindliche Einstellungen schon in der frühkindlichen Bildung manifestieren. Dies ist Thema der Forschungen von Seyran Bostancı. 2020 erschien die von ihr geleitete Studie zum Institutionellen Rassismus in der KiTa, im Februar 2023 die Studie über Zugangsbedingungen in der KiTa, die demnächst in der Zeitschrift für Migration und Soziale Arbeit veröffentlicht wird. In ihrer Dissertation, die 2024 bei Transcript erscheinen wird, hat sie sich mit Gelingensbedingungen der Inklusion auseinandergesetzt. Darüber hinaus war sie für die Evaluation der Projekte des Schwerpunkts „Vielfalt gestalten“ aus dem Bundesförderprogramm „Demokratie leben!“ zuständig und wirkte mit in einer Studie zur Tätigkeit von migrantischen Frauen in der Geflüchtetenarbeit (FemPart). Zurzeit leitet sie eine Expertise zur Stärkung der Rechte von geflüchteten Kindern. Im April 2024 erscheint bei Beltz Juventa das von ihr gemeinsam mit herausgegebene Buch „Elementarpädagogik in der postmigrantischen Gesellschaft – Theoretische Zugänge zu einer rassismuskritischen Pädagogik“.

Das weiße deutsche Normalkind

Norbert Reichel: Wesentlicher Gegenstand Ihrer Forschungsarbeit ist die rassismus- und diskriminierungskritische Bildung in der frühkindlichen Bildung.

Seyran Bostancı: Ich forsche vor allem in Berliner Kindertageseinrichtungen und schaue, wie sich Rassismus dort durch Abläufe und Verfahrensweisen sowie stereotype Annahmen und Vorstellungen über soziale Gruppen und Routinen in die KiTa-Praxis einschreibt und institutionell manifestiert. Wir haben gerade eine neue Studie vorgestellt, der eine Pilotstudie vorangegangen ist. Ich habe mir vor allem die Erfahrungen von rassifizierten Familien angeschaut, wie sie mit Diskriminierung und Rassismus umgehen, wenn sie es erleben, und wie Kindertageseinrichtungen mit Beschwerden von Eltern umgehen. Dabei ging es mir vor allem um die institutionellen Hintergründe, denn Familien sagen oft, sie würden in der Einrichtung nicht ernstgenommen, ihre Beschwerden würden oft heruntergespielt. Pädagogische Fachkräfte würden ihre Kolleg:innen schützen, indem sie beispielsweise sagen, dass sie sich das bei der Person X doch gar nicht vorstellen könnten oder dass das doch nicht so gemeint gewesen wäre. Das krasseste Ergebnis war, dass KiTa-Leitungen nach einer solchen Beschwerde das Vertrauensverhältnis zu der jeweiligen Familie in Frage stellten und die Beschwerde zum Anlass nahmen, das Vertragsverhältnis zu kündigen.

Norbert Reichel: Haben Sie Zahlen?

Seyran Bostancı: Ich forsche nicht quantitativ, sondern qualitativ, ich führe Interviews. Ich kann daher nicht sagen, welche Zahlen dahinterstecken. Es sind aber keine Einzelfälle. Es handelt sich um belegbares und relevantes Wissen, das auf der Ebene der Aufsichtsbehörden, der Jugendämter angekommen ist. Das bestätigen meine Gesprächspartner:innen in Behörden, Antidiskriminierungsstellen, Jugendämtern. Dort ist bekannt, dass sich Familien oft wegen des Abhängigkeitsverhältnisses nicht trauen, sich über Diskriminierung zu beschweren, gerade in Zeiten des Kita-Platzmangels. Sie haben auch die Sorge, dass ihr Kind nach einer Beschwerde noch schlechter behandelt wird als vor der Beschwerde, sich die Praxis der Diskriminierung sogar verstärkt. Es gibt auch folgenden Fall: Eltern schauen sich vor der Anmeldung eine KiTa an, sehen dort rassistisch konnotierte Plakate, überlegen sich dann aber zwei Mal, ob sie das jetzt ansprechen, weil sie befürchten, dann den Platz nicht zu bekommen. Oft verhalten sich Eltern dann eher konform, weil sie nicht als schwierige Eltern gelten wollen.

Norbert Reichel: Haben Sie auch mit Kindern gesprochen?

Seyran Bostancı: Leider nicht. Das ist schon etwas tragisch, dass die Perspektive der Kinder meistens außen vor bleibt. Dazu müssten Förderlogiken, das Budget und die zeitlichen Ressourcen erheblich aufgestockt werden. In den Förderstrukturen muss beispielsweise berücksichtigt werden, dass Forschungen mit Kindern mehr Zeit für Vertrauensaufbau braucht. Das Wissen, wie Rassismus und Diskriminierung in der KiTa wirkt, erhalte ich aus der Perspektive der Eltern oder der pädagogischen Fachkräfte und Akteur:innen der diskriminierungskritischen Bildungsarbeit. Meine Daten zeigen aber auch, wie sich Rassismus in Materialien niederschlägt. Es gibt nach wie vor in den KiTas Bücher, in denen das „N-Wort“ vorkommt, oder in denen Schwarze Menschen despektierlich dargestellt werden. Wir hatten 2013 die große Debatte um Kinderbücher. Es scheint eine Normierung von „Hautfarbe“ zu geben, sodass man von „die Hautfarbe“ spricht, obwohl es eine ganze Palette von Hautfarbenstiften gibt. Auch bei Puppen stellt sich die Frage, ob diese die Vielfalt in der Gesellschaft wiedergeben. Es ergeben sich immer wieder Ausschlusssituationen, wenn Kinder in den Büchern, in den Spielmaterialien, in Rollenspielen keine Identifikationsmöglichkeiten finden können.

Norbert Reichel: Ich vermute, dass das Personal nicht viel zum Umgang mit diesen Situationen in der Ausbildung gelernt hat?

Seyran Bostancı: Es gibt schon immer mehr Bemühungen, Curricula zu verändern, aber wenn man genau in die Ausbildungen hineinschaut, dann sieht man schon, dass Inklusion, Migration, Rassismuskritik oft nur marginal gelehrt, auch nicht als Querschnittsaufgabe verstanden werden. In der Ausbildung wird ein Bild von Kindern konstruiert, dass der Norm weiß, Bildungsbürgertum, christlich sozialisiert entspricht. Alles, was diesem Bild nicht entspricht, wird pädagogisch als defizitär geframt. Das gilt nicht nur für die Ausbildung, sondern auch für Rahmenbedingungen und Förderlogik in der KiTa.

Hierarchie der Sprachen

Norbert Reichel: Ein kritischer Punkt ist immer die Sprache. In politischen Debatten zum Thema Integration steht das in der Regel an erster Stelle. Alle sollen Deutsch lernen. Das Ziel ist die eine Sache, die Methode ist dann eine andere.

Seyran Bostancı: In meiner aktuellen Studie zu den Zugangsprozessen in der KiTa habe ich festgestellt, dass in Berlin der Status „ndH“ („nicht deutsche Herkunftssprache“) abgefragt wird. Abgefragt wird auch der „Integrationsstatus“. Das ist von Land zu Land unterschiedlich, es gibt den I-Status, den A-Status, B-Status, C-Status, sozusagen nach Kategorien des Schwerpunktes einer „Behinderung“. Kindern wird von vornherein ein Etikett verpasst, um eine bessere Finanzierung zu bekommen, damit die KiTa die Möglichkeit bekommt, eine Sprach- oder Integrationsfachkraft einzusetzen. Diese Förderlogiken betrachten die Kinder als defizitär und führen so auch zu Ausschlussprozessen. Es gibt in Berlin für den Status „ndH“ eine 40-Prozent-Regelung. Wenn eine KiTa diese Marke überschreitet, kann sie eine Sprachfachkraft einstellen, weil man glaubt, dass die Arbeit mit den ndH-Kindern herausfordernder und schwieriger ist. Das ist als Incentive gedacht, damit diese Kinder auch aufgenommen werden.  

Norbert Reichel: Ich kann mir vorstellen, dass eine KiTa alle Kinder, die nicht Müller, Meier, Schulze heißen, von vornherein als „ndH-Kinder“ klassifiziert, um an die Mittel heranzukommen?

Seyran Bostancı: Das passiert tatsächlich auf der Schulebene. In der Studie von Juliane Karakayalı und Birgit zur Nieden wurde festgestellt, dass dort oft im Schulsekretariat der Status mehr oder weniger auf diese Art festgestellt wird. In den Berliner KiTas sollen die Familien auf den Anmeldebögen ankreuzen, ob sie zu Hause hauptsächlich deutsch sprechen oder nicht. So entscheiden die Eltern, ob ein „ndH-Status“ vorhanden ist. Die meisten Eltern wissen natürlich nicht, welche Konsequenzen das nach sich zieht. Es kommt daher manchmal auch vor, dass die KiTa in einem Gespräch versucht, die Angaben zu korrigieren.Dies geschieht in beide Richtungen, einmal in der Form, dass nachkorrigiert wird, dass der Status vorliegt, weil sie sich dadurch mehr Personal erhoffen. Und in einigen anderen Fällen, wird dieser bewusst niedrig gehalten, aufgrund von rassistischen Annahmen und Vorstellungen über die Zusammenarbeit mit „ndH“-Kindern.

Norbert Reichel: Ich könnte mir auch vorstellen, dass man fragt: Welche Sprachen sprecht ihr? Dann würde man feststellen, dass Kinder mit zwei oder gar drei Sprachen aufwachsen, etwas, das auch wertgeschätzt werden könnte und sollte. Das Kriterium „ndH“ diskriminiert von vornherein, indem es schon mit dem „n“ etwas als anormal hinstellt, was es gar nicht ist.

Seyran Bostancı: Damit sind wir beim Thema Rassismus. Bestimmte Sprachgruppen werden geschätzt, andere nicht. Arabisch, Türkisch nicht, im Gegensatz zu Englisch, Französisch. In meiner Studie war eine Familie, die Spanisch und Arabisch sprach. Sie wurde von der KiTa aufgefordert, zu Hause Spanisch zu sprechen, nicht Arabisch, denn Spanisch sei doch eine Weltsprache.

Norbert Reichel: Woher sollen die auch wissen, dass in der UNO Arabisch ebenso wie Spanisch eine der sechs offiziellen Weltsprachen ist, Deutsch übrigens nicht. So einfach ist das.

Seyran Bostancı: Wäre es. Aber Rassifizierung beruht nicht auf Logik. Diese „ndH“-Förderlogik führt inzwischen auch dazu, dass Kindertageseinrichtungen angesichts des Fachkräftemangels gar nicht über die 40-Prozent-Grenze hinauswollen, weil sie wissen, dass sie die Stellen eh nicht besetzen können. Sie begründen das mit dem Schutz ihrer Fachkräfte. Das Kind wird dann einfach nicht aufgenommen. Es gibt sogar KiTas, die explizit nur deutsche Kinder aufnehmen, obwohl der Stadtteil viel diverser ist. Hier spielen rassistische Selektionspraktiken eine Rolle, weil geglaubt wird, die Arbeit mit einem deutschen und weißen Kind doch viel einfacher wäre. Das soll auch dazu führen, dass die KiTa einen besseren Ruf hat.

Norbert Reichel: Bei bildungsbürgerlichem Publikum mag das dann stimmen, aber es ist doch nun auch nicht so, dass alle deutschen und weißen Kinder so gut Deutsch sprechen. Das ist doch eher ein soziales Problem, sodass neben dem Ausschluss nach dem „ndH“-Kriterium der Ausschluss nach sozialen Kriterien hinzukäme?

Seyran Bostancı: Mit Vernunft kommt man da meines Erachtens nicht weiter. Ungleichbehandlung ist der Kern von Rassismus und Rassifizierung. Wir verstehen uns als Demokrat:innen, die für Vielfalt, für Inklusion eintreten. Trotzdem ist Ungleichbehandlung Fakt. Und so suchen manche nach Legitimationen, warum bestimmte Kinder in den KiTas weniger repräsentiert sind als andere. Auch dazu gibt es Studien, die zeigen, dass der Betreuungswunsch migrantischer Familien die tatsächliche Betreuung um etwa 20 Prozent übersteigt. Migrantische Familien wollen, dass ihre Kinder in die KiTa gehen, aber sie haben den Zugang nicht. Um dies zu erklären, zieht man rassistische Denkmuster heran.

KiTas orientieren sich oft an der Idealvorstellung einer „gesunden Mischung“. Das bedeutet, dass nicht eine Gruppe von Migranten überhandnehmen soll, weil die Fachkräfte Dominanz- und Kontrollverlust befürchten, wenn sie nicht mehr verstehen, was die Kinder untereinander reden. Zeitgleich sagen sie in den Interviews, dass sie es toll finden, wenn ein englischsprechendes Kind in der KiTa einem anderen Englisch beibringt. Das wird positiv bewertet. Aber wenn Kinder untereinander Türkisch oder Arabisch sprechen, wird Kontrollverlust befürchtet und unterstellt, dass die Kinder dann auch Schimpfwörter verwenden, gegen die man nicht einschreiten kann.

Alltagsrassismus

Norbert Reichel: Auf Englisch gibt es auch eine ganze Menge Schimpfwörter. (beide lachen). Auf Streamingdiensten wird immer wieder gewarnt, wenn in einem Film oder einer Serie Schimpfwörter vorkommen. Die Kinder gucken das trotzdem und ich vermute, dass sie da manches in der Art lernen und auch anwenden. Aber Fakt ist, dass Sprache ein wesentlicher Faktor von Rassifizierung ist. Welche weiteren Punkte haben Sie in Ihren Studien feststellen können?

Seyran Bostancı: In der KiTa gibt es immer wieder eine enge Verbindung von Rassismus und Adultismus. Es handelt sich um Diskriminierungsformen von Erwachsenen gegenüber Kindern, wenn Erwachsene meinen, dass sie alles besser wüssten als die Kinder und sie erst gar nicht nach ihrer Meinung fragen. Das führt dazu, dass Anliegen und Bedürfnisse von Kindern nicht gesehen werden. Die KiTa ist historisch gesehen ohnehin sehr adultistisch ausgerichtet. Wir haben inzwischen schon Kriterien wie Partizipation und Emanzipation, aber wir müssen fragen, ob dies auch für alle Kinder gilt beziehungsweise in allen Kontexten. Zu meiner KiTa-Zeit gab es zum Beispiel die Praktik, zu der alle Kinder gleichzeitig aufs Töpfchen gesetzt wurden. Im Berlin-Kreuzberg der späten 1980er Jahre.

Norbert Reichel: Topfzeit gab es eben nicht nur in der DDR.

Seyran Bostancı: Das wäre noch ein anderes Thema, wie vieles, das in der KiTa zu kritisieren wäre, dem Osten zugerechnet wird. Als wenn im Westen immer alles in Ordnung gewesen wäre.

Die homogenisierenden Strukturen in der KiTa führen auch dazu, dass Rassismus und Diskriminierung verschleiert werden. Ich kann aus meiner aktuellen Studie ein Beispiel heranführen, wo eine Fachkraft davon berichtet, dass ein weißer Junge in der Kita immer wieder ein Schwarzes Mädchen abgeleckt hat. Obwohl das Mädchen immer wieder gesagt hat, dass es nicht angefasst werden will, hat der Junge nicht gestoppt und die Fachkraft hat erst spät interveniert. Sie war trotz expliziter Benennung durch das Mädchen nicht in der Lage, die rassistische Gewalt in dieser zwischenmenschlichen Interaktion zu erkennen und hat in ihrer Beschreibung diese Situation als süß beschrieben.

Dieses Beispiel verdeutlicht, wie eine rassistische Gewaltform – das Mädchen wird einfach abgeleckt – infantilisiert und verniedlicht wird. Rassismus und Diskriminierung werden eben oft nicht im KiTa-Kontext verortet. Das führt dazu, dass pädagogische Fachkräfte dann solche Situationen nicht als Diskriminierung einstufen, sondern sogar noch verniedlichen.

Norbert Reichel: Im Grunde ist das, was der Junge da machte, auch noch sexistisch. Da hätte die Fachkraft unbedingt eingreifen und erklären müssen, dass er den Wunsch des Mädchens, nicht abgeleckt zu werden, zu respektieren hat.

Seyran Bostancı: Auch das noch. Ja! Manche Erzieherinnen schreiten ein, aber sie fokussieren dann oft erst einmal das neugierige Kind. In diesem Fall haben sie das Mädchen zwar darin bestärkt, dass es sagen darf, dass es das nicht möchte. In der Aufarbeitung durfte der Junge das Mädchen jedoch erneut anfassen, um zu testen, dass die Hautfarbe nicht abgeht. Das nennt man dann sekundäre Diskriminierung.

Norbert Reichel: Unrechtsbewusstsein wird so nicht erzeugt. Wer weiß, was der Junge für zukünftige Kontakte zu Mädchen daraus gelernt hat?

Seyran Bostancı: So etwas geschieht ständig. Schwarze Kinder werden einfach angefasst, beispielsweise an den Haaren. Es kommt aber auch vor, dass weiße Kinder nicht vom gleichen Obstteller essen wollen, weil sie die Hautfarbe mit Schmutz verbinden. Oder muslimisch markierte Kinder, die weniger auf Geburtstage eingeladen werden. Auch Kinder lernen schon früh dieses rassistische und rassifizierende Wissen, das uns umgibt. Es gibt wenige Studien in Deutschland, die dies thematisieren, aber einige in den USA, die dies nachweisen.  

Norbert Reichel: Sie forschen in Berlin. Gibt es Unterschiede, ob Sie in Pankow, Marzahn-Hellersdorf, Kreuzberg oder Spandau forschen?

Seyran Bostancı: Könnte man meinen. Aber trotzdem gibt es Rassismus in Kreuzberg und im Wedding ebenso wie in Pankow oder Marzahn-Hellersdorf. Nur weil es Vielfalt in einer Einrichtung gibt, ist das kein Selbstläufer und alles ist friedlich. Es braucht tatsächlich Antizipation, dass aufgrund der Vielfalt auch Rassismus stattfinden kann. Oder umgekehrt – nur weil es weniger Vielfalt in einer Einrichtung gibt, heißt es nicht, dass keine Diskriminierung oder rassistischen Wissen (re-)produziert wird. Daher braucht es auch Diskriminierungsschutz, Prävention, ein Diversitätsbewusstsein, das pädagogische Fachkräfte befähigt einzugestehen, dass sie Teil gesellschaftlicher Verhältnisse sind, dass sie Teil dieser Verflechtungen sind und oft – auch unbewusst – dazu beitragen, diese Verflechtungen und eben auch Rassismus aufrechtzuerhalten.

Die Fachkräfte

Norbert Reichel: Wie vielfältig ist das Personal in den KiTas, die Sie besucht haben? Oder sind das alles weiße deutsche Fachkräfte?

Seyran Bostancı: Ich habe viel mit KiTa-Leitungen gesprochen. Das waren tatsächlich hauptsächlich weiße Frauen. Es gab aber auch viele, die sehr bemüht waren und sich verpflichtet fühlten, der Ungleichheit entgegenzuwirken. Aber in meinen Studien wird deutlich, dass sie oft in Rahmenbedingungen agieren, die ihnen nicht ermöglichen, wirklich inklusiv zu arbeiten. In den aktuellen Strukturen kann Inklusion eigentlich nicht praktiziert werden.

Norbert Reichel: Wie meinen Sie das?        

Seyran Bostancı: Wenn ich in meiner KiTa Vielfalt möglich machen möchte, brauche ich auch das Fachpersonal dazu. Das versuchte ich mit dem 40-Prozent-Beispiel deutlich zu machen. Viele Leitungen, mit denen ich gesprochen haben, versuchen, auf keinen Fall über diese 40 Prozent zu kommen. Sie können nicht 70, 80, 90 Prozent von Kindern aus migrantischen Familien aufnehmen, wenn sie das Fachpersonal nicht haben.

Norbert Reichel: Ist es das wirklich allein? 35 Prozent lägen drunter, sind aber auch nicht wenig.

Seyran Bostancı: Das liegt natürlich auch daran, in welchem Stadtteil die KiTa liegt. Wenn sie in einem Stadtteil liegt, in dem die Quote über 40 Prozent liegt, bildet die KiTa bei der beschriebenen Strategie der Leitungen die Wirklichkeit des Stadtteils nicht mehr ab. Und die KiTa, die die 40-Prozent-Quote verwirklicht, achtet wiederum darauf, dass nicht nur türkische und arabische Kinder kommen, sondern auch Kinder aus europäischen Familien, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Schweden, USA, den Niederlanden zum Beispiel.

Norbert Reichel: Vielfalt ist nicht Vielfalt. Das Personal in den KiTas, die Sie beforscht haben, ist in der Regel weiß,

Seyran Bostancı: weiblich,…

Norbert Reichel: …hat vor zwanzig Jahren den Beruf erlernt.

Seyran Bostancı: Das ist unterschiedlich. Die Teams sind oft durchmischt. Es gibt ältere und jüngere Kolleginnen. In Teams, in denen vor allem jüngere Kolleginnen, arbeiten, gibt es ein anderes Bewusstsein, auch im Hinblick auf Rassismus- und Diskriminierungskritik. Das deckt sich auch mit der Studie des NaDiRas zu Rassistischen Realitäten. Es zeigte sich, dass es in der jüngeren Generation eine höhere Bereitschaft gibt, sich gegen Rassismus und Diskriminierung zur Wehr zu setzen.

Beschwerdemanagement

Norbert Reichel: Das klingt erst einmal nach einer guten Entwicklung. Wie laufen die Beschwerdeprozesse ab?

Seyran Bostancı: Wir haben danach gefragt, was Familien machen können, wenn sie sich beschweren wollen. Es wird in der Regel empfohlen, zuerst mit der Fachkraft zu reden, dann mit der Leitung, erst dann zum Träger und als letzten Schritt zur Kitaaufsicht. Diese Reihenfolge haben uns die KiTa-Leitungen, die Fachkräfte, die Kolleg:innen in den Jugendämtern gleichlautend genannt.

Norbert Reichel: Klassischer Dienstweg. Andererseits: Eltern sind nicht verpflichtet, einen Dienstweg einzuhalten, auch in der Schule nicht.

Seyran Bostancı: Interessant ist jedoch, dass in der Verwaltung Beschwerden gegen Rassismus oder Diskriminierung kaum eingehen. Die Zahl liegt etwa bei 0,1 Prozent der Eingaben. Die Realität sieht anders aus. In meinen Interviews mit Eltern gibt es viele Hinweise auf Diskriminierung und Rassismus. Aber die Sorge ist wohl sehr groß, dass diese Beschwerden auf Verwaltungsebene nicht ernst genommen werden.

Es gibt noch andere Diskriminierungsstellen, in Berlin zum Beispiel KIDS („Kinder vor Diskriminierung schützen“), eine NGO, die inzwischen auch im KiTa-Bereich berät. Die Allgemeinen Diskriminierungsstellen sind in der Regel weder auf Bundes- noch auf Landesebene spezialisiert, mit Diskriminierungsfragen von jungen Menschen umzugehen. Wenn man sich dort als Eltern meldet, wird man weiterverwiesen, eher Richtung KIDS. Im Berliner Landesgesetz gibt es eine eigene Diskriminierungsstelle für KiTas und Schulen. Besetzt mit einer einzigen Person! Man muss sich schon fragen, ob diese eine Stelle ausreicht. Letztlich fehlen auch Sanktionsmöglichkeiten. Selbst die KiTa-Aufsicht bei der Senatsverwaltung kann nur Empfehlungen aussprechen. Schaut man sich Interventionspraktiken an, die zur Anwendung kommen, sind es oft Empfehlungen, die nicht unbedingt diskriminierungskritisch ausgelegt sind. Da wird gerne empfohlen, machen Sie doch mal ein internationales Fest in der KiTa, in der Hoffnung, dass dadurch Diskriminierung und Vorurteilen entgegengewirkt wird. Allerdings führt dieser Ansatz in der Praxis selten zu den erhofften positiven Effekten.

Norbert Reichel: Kochen und Essen.

Seyran Bostancı: Ja, genau. Laden sie doch mal die Familien ein, ihre Kultur und ihre Spezialitäten zu zeigen. In meinen Interviews zeigt sich deutlich, es fehlt ein Bewusstsein für Diskriminierung und dementsprechend fehlen Strategien, dem entgegenzuwirken.

Die internationalen Feste in der KiTa sind Kulturvitrinen, mit denen manche sich einreden, diskriminierungs- und diversitätsbewusst zu sein.

Norbert Reichel: Sie sagten, es gebe keine Sanktionsmöglichkeiten, mit der von Ihnen beschriebenen Ausstattung auch kaum Möglichkeiten, sich intensiver miteinander zu befassen, keine Zeit, keine Kapazitäten für Mediationsprozesse.

Seyran Bostancı: Punktuell vielleicht, mal hier, mal da, aber nicht systematisch und auch nicht so, dass die Eltern sich sicher fühlen, dass es eine unabhängige niedrigschwellige Beschwerdestelle gibt, an die sie sich wenden können und bei der sie sich aufgehoben fühlen. Manche Eltern, mit denen ich Interviews geführt habe, sind selbst in der Bildungsarbeit tätig, auch in der diskriminierungskritischen Bildung und empfinden diesen Beschwerdeweg als einen Weg voller Hürden.

Fehlerfreundliche Verlernprozesse organisieren

Norbert Reichel: Welche Maßnahmen würden Sie für die Implementation einer rassismus- und diskriminierungskritischen Bildung in der frühkindlichen Bildung empfehlen?

Seyran Bostancı: Ich möchte empfehlen, bei den Curricula anzufangen und das Thema als Querschnittsthema zu platzieren. Pädagogische Fachkräfte wissen in der Regel nicht, mit dem Thema umzugehen, sie sind meistens überfordert. Wir bräuchten auch eine diskriminierungs- und rassismuskritische Organisationsentwicklung, die alle Abläufe in der KiTa unter diesem Aspekt analysiert und verändert. Es gibt durchaus gute Beispiele dafür. Die Fachstelle Kinderwelten begleitet solche Prozesse, auch über längere Zeiträume, beispielsweise über zwei Jahre. Ich bin selbst Fortbildnerin und habe solche Prozesse begleitet. Das ist erfolgreich, wenn man sich bemüht und eine fehlerfreundliche Kultur schafft und pflegt, diese dann in einer KiTa lebt, auch ohne dass man direkt in Schuld und Scham versinkt, wenn etwas falsch läuft.  

Norbert Reichel: „Fehlerfreundlich“ ist vielleicht ein Schlüsselwort.

Seyran Bostancı: Eben nicht anklagend und nicht mit dem moralischen Zeigefinger! Wir alle sind in diesen Verhältnissen verstrickt und davon beeinflusst, ob wir wollen oder nicht. Wir müssen das jetzt alle leider mühselig verlernen. Ein solcher Verlernprozess braucht ein Gegenüber, das einem zeigt, wo Rassismus, wo Diskriminierung stattgefunden hat. Natürlich will ich dabei auch unterscheiden. Wenn beispielsweise eine rassifizierte pädagogische Fachkraft im Team Diskriminierung und Rassismus erlebt, ist es nicht die Aufgabe dieser Person, das Thema wohlwollend anzusprechen. Wenn sie sich diskriminiert fühlt, ist die erste Reaktion oft erst einmal vielleicht Wut oder Rückzug. Daher braucht es eine Leitungskraft, die die Themen beherrscht, die Fehlerfreundlichkeit beachtet und eine diskriminierungskritische Haltung einfordert. Es kann natürlich nicht sein, dass alle ihre Vorurteile einfach so raushauen, sie sollten schon wissen, dass andere Menschen davon verletzt werden könnten.

Norbert Reichel: Gegenseitige Rücksichtnahme ist nie schlecht. Im Grunde ahnt man schon zu Beginn eines solchen Prozesses der Organisationsentwicklung, was zu Problemen und Missstimmung führen könnte.

Seyran Bostancı: Es geht darum, in den Verlernprozessen das Spannungsfeld zwischen Diskriminierungskritik und Fehlerfreundlichkeit auszuhalten.

Wir brauchen Bündnisse

Norbert Reichel: Sie arbeiten jetzt etwa zehn Jahre in diesem Feld. Sehen Sie Veränderungen in dieser Zeit?

Seyran Bostancı: Es hat sich einiges verändert. Als ich mich vor 13 oder 14 Jahren in meiner Masterarbeit mit dem Thema befasst und das auch in Fortbildungen eingebracht habe, habe ich viel mehr Widerstand erlebt, von Leuten, die die Fortbildung auch wütend verlassen haben, weil sie es nicht ertragen konnten, dass sie selbst Teil dieser Verhältnisse waren. In der Zeit der Sarrazin-Debatte, um etwa 2011, hatten wir eine sehr schwierige Phase. Es war schwierig, über antimuslimischen Rassismus zu sprechen.

Es ändert sich zurzeit etwas. Jetzt – nach dem 7. Oktober 2023 – gab es wieder ein solches Shift. Bestimmte Sachen werden wieder salonfähig, ohne dass sie als Rassismus oder Antisemitismus erkannt werden. Antisemitische und antimuslimische Gewaltdelikte nehmen zu. Die Mechanismen der verschiedenen -ismen sind immer gleich. Es gibt Unterschiede in den Erscheinungsformen und in der Logik, die Wirkweisen sind gleich. Ich sehe allerdings auch Unterschiede in der Wahrnehmung. Antisemitismus wird oft auf einer individuellen Ebene verortet, entweder ist man antisemitisch oder man ist es nicht, es wird nicht als Strukturprinzip verstanden. Beim Rassismus hat sich mittlerweile schon eher – vorsichtig gesagt – ein Wissen etabliert, dass wir in einem rassistischen Verhältnis leben.

Aber eben dies erleben wir auch im Antisemitismus. Wir sind in Deutschland alle von antisemitischem Denken geprägt und müssen erst einmal analysieren, wie es sich im Alltag zeigt und welche Strukturen es befördern. Eine solche Diskussion vermisse ich. Es findet viel zu viel noch auf einer individualisierenden Ebene statt. Es wird nicht genug geschaut, wie Antisemitismus im Alltag, in den Strukturen sich niederschlägt. Es gibt kaum antisemitismuskritischen Praktiken, die zum Beispiel in den Schulen oder in Kitas angeboten würden. Mir wurde durch die aktuellen Auseinandersetzungen bewusst, dass Antisemitismus oft ausgeblendet wird. Was wir beobachten ist vielmehr ein Gegeneinander-Ausspielen von (anti-muslimischem) Rassismus und Antisemitismus, was dazu führt, dass Antisemitismus externalisiert wird, im Außen und nicht als Teil der deutschen Gesellschaft und Geschichte verortet wird.

Norbert Reichel: Sie sprachen es eben schon einmal am Beispiel einer pädagogischen Fachkraft in der KiTa an, die selbst rassifiziert wurde: so ist es ja auch oft beim Antisemitismus. Dann werden Betroffene dafür zuständig gemacht, gegen Antisemitismus vorzugehen. Auch eine Art der sekundären Rassifizierung. Oft heißt es auch: seid nicht so empfindlich, nehmt es nicht so ernst, verhaltet euch doch anders.

Seyran Bostancı: In der Forschung spricht man von „Blame the victim“ und „Down-Playing“. Ich bin überzeugt, dass es jetzt aktuell wichtig ist, dass die verschiedenen Diskriminierungsformen nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern wir in Allianzen und Solidaritäten gehen, antisemitismus- und rassismuskritische Bildungsarbeit stärker zusammenbringen, denn die Mechanismen sind gleich. Wir bräuchten daher auch intersektional durchdachte Gegenmaßnahmen und Schutzkonzepte, damit die verschiedenen -ismen in Bildungseinrichtungen, wie in anderen gesellschaftlichen Feldern, Gesundheitswesen, Wohnungsmarkt, erfolgreich bekämpft werden können.

Norbert Reichel: Wir brauchen Allianzen der von Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus Betroffenen und dazu gehören auch all diejenigen in der Mehrheitsgesellschaft, die sich mit den Betroffenen solidarisieren. Ein solches Bündnis müsste doch möglich sein.

Seyran Bostancı: Zurzeit erleben wir, dass verschiedene Fördertöpfe in diesem Bereich gekürzt werden. Wenn aber das Feld so umkämpft ist, wird es auch schwieriger, innerhalb der marginalisierten Gruppen Bündnisse zu schaffen. Aber gerade deshalb brauchen wir Bündnisse!

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im März 2024, Internetzugriffe zuletzt am 11. März 2024. Das Titelbild zeigt eine Tafel aus dem Bildungshaus Bad Aibling, das im Demokratischen Salon als Paradies für Glückspilze“ portraitiert wurde.)