Paradies für Glückspilze

Das Bildungshaus Bad Aibling – ein Jugendhilfeträger gestaltet Schule

„Liebe Kinder, da sitzt ihr nun, alphabetisch oder nach der Größe sortiert, zum erstenmal auf diesen harten Bänken, und hoffentlich liegt es nur an der Jahreszeit, wenn ihr mich an braune und blonde, zum Dörren aufgefädelte Steinpilze erinnert. Statt an Glückspilze, wie sich’s eigentlich gehörte.“ (Erich Kästner, Ansprache zum Schulbeginn, zitiert nach der Erich-Kästner-Anthologie „…was nicht in euren Lesebüchern steht“, 1968 im Fischer Taschenbuch Verlag erschienen)

Als die vereinigten deutschen Kultusminister*innen im Jahr 2020 die Schulen schlossen, sie nachher wieder öffneten, dies aber unter Bedingungen, die doch ganz anders waren als all das, was pädagogische Praxis in den vergangenen 40 bis 50 Jahren geschaffen hatte, hätte man die ersten beiden Sätze von Erich Kästners Rede an die Kinder zum Schulbeginn als konkrete Dystopie verstehen können. Andererseits ist diese Rede ein Plädoyer für eine – so würde man heute sagen – demokratische Schule im Sinne einer konkreten Utopie, die die Kinder zu selbstständigen, sich selbst reflektierenden, engagierten Erwachsenen heranbilden könnte. Einige Kostproben aus Erich Kästners Rede: „Lasst euch die Kindheit nicht austreiben!“ „Haltet das Katheder weder für einen Thron, noch für eine Kanzel!“ „Nehmt auf diejenigen Rücksicht, die auf euch Rücksicht nehmen!“ „Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern!“ Vielleicht entsteht dann das, was Erich Kästner in den beiden letzten Sätzen seiner Rede rät: „Wenn ihr etwas nicht verstanden haben solltet, fragt eure Eltern! Und, liebe Eltern, wenn Sie etwas nicht verstanden haben sollten, fragen Sie Ihre Kinder!“

Erich Kästner war nicht der Einzige, der von einer Schule träumte, die erst einmal für die Kinder da ist und nicht für die Wirtschaft oder wen oder was auch immer eine Gesellschaft für wichtig erachtet. Manche unterscheiden: Schule ist für Bildung zuständig und meinen ganz technokratisch Qualifizierung, für alles andere wäre die Jugendhilfe zuständig oder der Sportverein, die Musikschule oder wer auch immer sich außerhalb der Schule mit Kindern beschäftigt. Aber wie wäre es, wenn sich alle Erwachsenen, die sich für das Leben und Lernen von Kindern engagieren, auf gemeinsame Ziele und eine gemeinsame Praxis verständigten? Dokumente, in denen Jugendhilfe und Schule als Partner benannt werden, gibt es reichlich, Partei- und Regierungsprogramme, Kinder- und Jugendberichte, Förderprogramme. Bei deren Lektüre drängt sich jedoch immer wieder der Eindruck auf, als wäre es den für Bildungspolitik verantwortlichen Minister*innen und ihrer Bildungsverwaltung eher fremd, dass Bildungspolitik in erster Linie Kinder- und Jugendpolitik sein sollte.

Eine Schule in Trägerschaft der Jugendhilfe

In Bad Aibling, einer Kurstadt im Kreis Rosenheim in Oberbayern, etwa 70 Kilometer südöstlich von München, einem Ort mit Alpenpanorama wie aus einem Werbekatalog für das Land, das ein bayerischer Ministerpräsident einmal als „die Vorstufe zum Paradies“ bezeichnete, gibt es ein Paradies für Kinder. Bad Aibling ist eine Kurstadt, die auf ihrer Internetseite verspricht, die Besucher*innen könnten die „Seele baumeln“ lassen. Dies tat meine Seele, als ich das Bildungshaus Bad Aibling im Juli 2022 mit Hermann Rademacker besuchte, der gemeinsam mit Markus Schmidt das Konzept einer Schule in Trägerschaft der Jugendhilfe entwickelt hatte.

Vorweg möchte ich allerdings auch darauf verweisen, dass es nicht nur in Bad Aibling Lehrer*innen, sozialpädagogische Fachkräfte, Schulen gibt, die – manchen Hindernissen zum Trotz – Erstaunliches leisten. Im Folgenden erlaube ich mir den ein oder anderen Hinweis auf Nordrhein-Westfalen, das vor allem im Zuge des Ausbaus von Offenen Ganztagsschulen (OGS) die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule beflügelt hat. Aber bei allen Erfolgen, die es an anderen Orten gibt, ist das, was ich in Bad Aibling sah, schon etwas sehr Besonderes.

Wenn von privaten Schulen die Rede ist, denken wir zunächst an Kirchen und Waldorfschulen, doch das Bildungshaus Bad Aibling ist eine Perle, eine Schule in Trägerschaft eines Trägers der freien Jugendhilfe, der Diakonie Rosenheim, ein mit 2.500 Mitarbeiter*innen ausgesprochen gut aufgestellter Träger. Mehr noch: In dem Bildungshaus leben und lernen Kinder in der Krippe, in der Kindertagesstätte, in der Schule bis zur vierten Klasse, Kinder im Alter von 0 – 10. In Nordrhein-Westfalen gibt es mit den Bildungsgrundsätzen von 0 – 10 die Theorie, im Bildungshaus Bad Aibling erleben wir, wie die Praxis aussehen könnte. Durchweg glückliche, fleißige Kinder, zufriedene Erwachsene, Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen und viele andere, alle mutig, engagiert, zukunftsorientiert und vor allem im Dienste der Kinder!

Hermann Rademacker, der inzwischen 83 Jahre alt ist, war langjähriger wissenschaftlicher Referent am Deutschen Jugendinstitut und darf zusammen mit seinem Kollegen Erich Raab und seiner Kollegin Gerda Winzen als Väter und Mutter der Schulsozialarbeit in Deutschland bezeichnet werden. Er entwickelte vor etwa fünfzehn Jahren gemeinsam mit dem damaligen stellvertretenden Geschäftsbereichsleiter der Diakonie Rosenheim Markus Schmidt das erste Konzept, der Titel „Bildungshaus – Schule zum interkulturellen Austausch“. Die Grundidee war die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule im Sinne des Bildungsbegriffs des Zwölften Kinder- und Jugendberichts, der im Jahr 2005 erschien, Bundesjugendministerin war damals Ursula von der Leyen. Konkret benannten Hermann Rademacker und Markus Schmidt für das Bildungshaus die Verzahnung von Kindergarten und Grundschulen in einer altersgemischten Form, wie man sie damals auch in großen altersgemischten Gruppen einer Kindertageseinrichtung kannte, diesmal allerdings auch unter Einbeziehung des schulischen Unterrichts.

„Raum zum Leben und Lernen“

Claudia Kohnle übernahm 2013 die Schulleitung und setzte es mit ihren Kolleg*innen um, verfeinerte es und sorgte dafür, dass dieses Modell mehr wurde und mehr ist als ein theoretisches Modell. Claudia Kohnle nahm sich einen ganzen langen Vormittag Zeit, uns die Schule zu zeigen. Das Faltblatt, mit dem das Bildungshaus sich vorstellt, beginnt mit folgendem Text: „Das Bildungshaus öffnet Kindern von der Krippe bis zum 4. Schuljahr einen Raum zum Leben und Lernen. Die Freude an der eigenen Leistung steht im Mittelpunkt. Sie schafft Lust auf lebenslanges Lernen und stärkt die Entwicklung persönlicher, vertrauensvoller und tragfähiger sozialer Beziehungen. Die Neugier auf eigene Entwicklungsmöglichkeiten und persönliche Meisterschaft befähigen die Kinder, sich in einem kulturell vielfältigen Umfeld zu bewegen und Kompetenzen für die Aneignung und aktive Mitgestaltung ihrer Welt zu erlangen.“ Bei diesen Sätzen müsste allen pädagogisch sensiblen Menschen doch das Herz aufgehen. Für mich kann ich sagen. Ergebnis meines Besuchs: ich wurde zum Fan!

Das Bildungshaus ist eine evangelische Schule, die nicht als Konfessionsschule genehmigt wurde, sondern als erste Schule in Bayern in evangelischer Trägerschaft mit einem besonderen pädagogischen Konzept. Das Land finanziert die Schule, es übernimmt auch die Kosten für die Kinder, deren Eltern einen Hortbeitrag nicht zahlen können. Etwa ein Drittel der Kinder profitiert von dieser Leistung. Die Abwicklung dieser Unterstützung erfolgt über das Jobcenter. Aus den Zahlen lässt sich ersehen, dass die Schule über eine gemischte Sozialstruktur verfügt, auch international. Seit 2015 wurden syrische Kinder aufgenommen, die Schule besuchen auch einige wenige Kinder aus Polen, aus der Ukraine, aus Kroatien, aus der Türkei und aus Qatar.

Im Bildungshaus leben und lernen – Stand Juli 2022 – 182 Kinder, davon 118 Grund- und Vorschulkinder. Es gibt 125 Plätze im schulischen Kontext, davon zurzeit 18 Kinder in der vierten Klasse. Dies alles ist der Stand vom Juli 2022. Es gibt Überlegungen, die Schule auszubauen und eine Gesamtschule für die Klassen 5 bis 10 vorzubereiten. Dies würde die Einrichtung davon entlasten, an der mit ihrem Konzept nicht zu vereinbarenden Sortierung ihrer Schüler*innen auf die Schulen der in Bayern immer noch klar ausgeprägten Dreigliedrigkeit der Sekundarstufe I mitzuwirken.

Im Bildungshaus arbeiten 35 Erwachsene, davon sechs Lehrkräfte. Die anderen Erwachsenen sind Sozialpädagog*innen, Erzieher*innen, Kinderpfleger*innen. Es gibt fünf Hilfskräfte zur Schulbegleitung, denn die Schule hat auch einen inklusiven Anspruch. Die weibliche Dominanz im Bildungs- und Erziehungsbereich erleben wir auch hier, aber immerhin gibt es unter den Erwachsenen vier Männer. Leiterin ist zurzeit eine Lehrerin, Claudia Kohnle, die allerdings zum Schul- und Kindergartenjahr 2022/2023 nach etwa zehnjährigen Engagement den Staffelstab an eine Sozialpädagogin übergeben wird. Für die Schulleitung gibt es ein Team von jeweils zwei bis drei Personen. Schon das Konzept sah „eine gemeinsame, gesamtverantwortliche Leitung für den Kindertagesstätten- und den Grundschulbereich“ vor.

Schule und Kindertageseinrichtung liegen auf einem großflächigen Campus. Es handelt sich um ein ehemaliges US-amerikanisches Militärgelände, das heute der B&O-Baugruppe gehört. Gründungsgesellschafter ist Dr. Ernst Böhm. Sein Anliegen ist eine nachhaltige wirkende Bauweise mit Holz, die er als Voraussetzung einer „Bauwende“ bezeichnet. Auf dem ehemaligen Militärgelände sollte eine soziale Stadt entstehen, Wohnen, Arbeiten, Leben und Lernen – all dies soll auf diesem Gelände möglich sein. Wer möchte, kann über die Volkshochschule Bad Aibling eine Führung buchen. Als ich das Gelände und die Schule besuchte, sah ich rege Bautätigkeit, für Wohnhäuser, für multifunktional nutzbare Wege, Gärten. Die Schule selbst ist der ehemalige Flughafentower. Die Idee, auf dem Gelände eine Schule einzurichten, war die Idee von Dr. Böhm. Vielleicht am Rande: der Film „Quax der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann wurde hier gedreht (damals noch zu unseligen Zeiten der deutschen und bayerischen Geschichte).

Die Gebäude, in denen die Kinder lebten und lernten, waren in der Tat nachhaltig gebaut. Alle drei Gebäude wurden von den Amerikanern übernommen, nur das Mobiliar und die Gestaltung von Innen- und Außenflächen mussten verändert werden. Dazu tragen auch die Jugendlichen bei, die über die ambulanten Hilfen des Diakonischen Werks in einer Jugendwerkstatt arbeiten, einem Malerbetrieb und einer Schreinerei. Ein kleines Restaurant beköstigte nicht nur Besucher*innen, sondern ist auch Zentrum für Feste der Stadt Aibling, die auf dem Gelände stattfinden. Die kleine Mensa wird vom Diakonischen Werk versorgt. Es gibt auf dem Gelände ein Hotel sowie ein Sportinternat, für die geplante Gesamtschule wäre durchaus Platz. Eigentlich fehlen auf dem Gelände zurzeit nur ein Supermarkt beziehungsweise ein Lebensmittelgeschäft.

„Die Kinder stehen ganz oben“

Mit diesem Satz charakterisiert Claudia Kohnle das Programm von Schule und Kindertageseinrichtungen. Die Schule ist eine Schule für Kinder, deren Eltern mehr wollen als eine staatliche Schule zu bieten vermag. Die Idee: das System Jugendhilfe integriert alle seine Angebote in das System Schule, dies erfolgt auf Augenhöhe, Jugendhilfe und Schule sind zu 100 Prozent gleichberechtigt und gleichwertig. Im Konzept heißt es dazu: „Vorrangiges Ziel eines kompetenzorientierten Unterrichts ist das Erlernen einer möglichst weit gehenden Eigenverantwortung für das individuelle Lernen und Handeln. Hierzu ist eine Balance zwischen offenem und strukturiertem individuellem Lernen wichtig.“ Als weitere Bedingung wird die Teamentwicklung von Lehrer*innen und sozialpädagogischen Fachkräften genannt, die über gemeinsame Fortbildungen gesichert werden soll.

Die Kinder werden nicht künstlich nach Jahrgängen getrennt. So leben und lernen Kinder der Vorschulklasse und des ersten Schuljahres gemeinsam, ebenso die Kinder der zweiten und dritten Klassen. Die Schule ist eine Ganztagsschule. Sie ist in Bayern inzwischen sogar so etwas wie eine Blaupause für den Kooperativen Ganztag, mit dem Bayern, vor allem die Landeshauptstadt München, den ab 2026 geltenden Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz für Grundschulkinder einlösen möchte, Schule und Hort in einem Haus.

Das Bildungshaus öffnet um 7.00 Uhr. Die verpflichtende Teilnahme am Schulbetrieb beginnt um 8.00 Uhr und endet um 14.30 Uhr, die Schule ist jedoch bis 17.00 Uhr geöffnet. Zwischen 14.30 und 15.00 Uhr gibt es eine Übergangszeit, auch zum Austausch mit den Eltern, die ihre Kinder bereits abholen, anschließend Arbeitsgemeinschaften für Sport und Spiel, eine kreative Lesegruppe und anderes mehr. Es gibt selbstverständlich Ferienangebote, geschlossen ist die Schule nur an 25 Tagen. Die Kinder können ein Mal im Jahr mit ihren Gruppen in der Schule übernachten. Es gibt eine Nachtwanderung, eine Lese- oder Spielnacht, je nach Wetter und Bedarf. Die Kinder kochen gemeinsam Spaghetti, backen Weihnachten zusammen Plätzchen.

Der Tagesablauf kennt „Entwicklungs- und Lernzeiten“. Doch alles beginnt mit einem Morgenkreis, das Tempo in den folgenden Zeiten ist stets individuell. Es gibt drei „Eulenzeiten“, dies sind die „Lernzeiten“ im engeren Sinne, die „Brotzeit“ sowie die „Freispielzeit“. Kinder, die sich vielleicht in der „Freispielzeit“ verlieren, merken in der Regel selbst, spätestens aber mit Intervention der Lernbegleiter*innen, dass es ratsam wäre, sich etwas mehr auf die „Eulenzeiten“ zu konzentrieren. Der individuellen Zeitgestaltung entspricht die individuelle Raumgestaltung. Jede Gruppe hat mehrere Räume, zuständig sind jeweils vier Lernbegleiter*innen pro Gruppe, Lehrkräfte und Sozialpädagog*innen, sodass differenziert werden kann, wer wann was mit wem macht. Der Freitag ist der Abschlusstag, an dem alles schön ordentlich hinterlassen wird, damit nach dem Wochenende am Montag ein ordentlicher Beginn der Schulwoche wieder möglich ist. Da alle Kinder eigene Fächer in der Schule haben, müssen sie nichts nach Hause mitnehmen, Hausaufgaben gibt es nicht, alles kann in der Schule erledigt werden.

Alle 14 Tage tagt der Kinderrat. Im Kinderrat beraten die Kinder, die von ihren Klassen für diese Aufgabe gewählt wurden. Er hat ein Budget von 500 EUR pro Jahr. Über einen Spendenlauf kann dieses Budget aufgestockt werden. Die Kinder entscheiden, wofür das Geld verwendet wird. Sie konnten beispielsweise entscheiden, wie die Außenfassaden oder ein Zaun gestaltet werden sollten. Im Jahr 2019 haben die Kinder die Anschaffung von Spielgeräten für den Garten beschlossen, im Jahr 2020 haben sie Geld an ein Kinderheim in Rosenheim gespendet. Die Kinder haben auch über die Gestaltung des Sommerfestes beraten. Gemeinsam mit ihren Familien haben sie gemalt. Es gibt einen Zeichenwettbewerb und weitere Initiativen.

Alle Gruppen haben eine „Zeit für uns“, die den erforderlichen Raum für Gespräche, für Beratung in Konfliktsituationen sowie soziale Kommunikation sichert. Das Bildungshaus hat daher auch Eigenschaften, wie sie in Nordrhein-Westfalen mit dem Begriff eines Familienzentrums verbunden wären. Auch dieser Gedanke ist im Konzept angelegt: „Die bedarfsgerechte Vermittlung solcher Unterstützungsleistungen ist auch ein wichtiges Thema der Zusammenarbeit mit den Familien, denn der Rechtsanspruch auf diese Leistungen liegt nicht bei den Kindern, sondern bei den Eltern. Sie bei der Inanspruchnahme ihrer Rechte im Hinblick auf gebotene Hilfen für ihre Kinder zu unterstützen, setzt die Kenntnis des gesetzlichen Auftrags der Jugendhilfe einerseits, andererseits aber auch Einblick in die und Erfahrung mit den konkreten Strukturen der Jugendhilfe im sozialräumlichen Umfeld voraus, die sich vor allem in der Zusammenarbeit entwickeln.“

Als das Konzept geschrieben wurde, entstanden in Nordrhein-Westfalen Familienzentren in Kindertageseinrichtungen. Inzwischen gibt es nicht zuletzt dank des Engagements der Wübben-Stiftung Familienzentren auch in einigen Grundschulen, die mit Landesmitteln unterstützt werden. Hinzu kommt, dass die jüngste SGB-VIII-Reform aus dem Jahr 2021 den anlasslosen Beratungsanspruch der Kinder stärkte, sodass sich der Gedanke der Unterstützung von Eltern und Kindern in Kindertageseinrichtung und Schule erweitern ließe.

Es gibt alle Beratung, die Eltern für ihre Kinder beziehungsweise die Kinder selbst wünschen und brauchen, aus einer Hand. In Nordrhein-Westfalen gibt es in den Familienzentren der Kindertageseinrichtungen und der Grundschulen die Modelle „Lotse“ und „Galerie“. Das Bildungshaus Bad Aibling bietet das aufgrund der erforderlichen Vielfalt nicht einfach zu realisierende Modell „Galerie“. Im Haus verfügbar sind beispielsweise Logopäd*innen, Ergotherapeut’innen, aber auch Musiklehrkräfte der Bad Aiblinger Musikschule.

Ein Nachteil ist manchmal ein Vorteil. Das Gelände verfügt über keine Verkehrsanbindung, sodass die Eltern ihre Kinder bringen müssen. Das, was in manchen Städten Schulleitungen und Ordnungsämter zur Verzweiflung bringt, weil Eltern die Straßen vor den Schulen jeden Tag mit ihren Autos zustauen, ist hier ein Vorteil. Durch die großzügige Anlage entstehen mit der Präsenz der Eltern Gesprächsanlässe und Austausch.

Jedes Kind hat sein eigenes Tempo

Die Schule ist keine staatlich anerkannte Schule. Dies mag als Nachteil empfunden werden, weil die Schüler*innen der vierten Klassen vor Aufnahme in Gymnasium oder Realschule einen Probeunterricht absolvieren müssen. Bis auf zwei Kinder haben jedoch bisher alle von der Schule für die jeweilige Schulform empfohlenen Kinder diesen Unterricht bestanden, die beiden gescheiterten Kinder besuchen in einem Fall an Stelle des gewünschten Gymnasiums die Realschule, im anderen Fall die Mittelschule wie die Hauptschule in Bayern euphemistisch genannt wird. Die aufnehmenden Schulen loben die Selbstständigkeit der Kinder des Bildungshauses, die Fähigkeit zum eigenständigen Lernen, den hohen Grad an Selbstreflektion, die Kinder fragten nach, wenn sie etwas nicht verstanden hätten. Dies war für manche Lehrer*innen durchaus eine Herausforderung, aber letztlich für den weiteren Bildungserfolg eine grundlegende Voraussetzung.

Interessant ist vielleicht der Hinweis, dass die Schule, wenn sie eine staatliche Anerkennung betriebe, viel Flexibilität verlöre, beispielsweise die Flexibilität der Stundentafeln, die Möglichkeit des gemeinsamen Lernens in der letzten Vorschulklasse und in der ersten Klasse. Die zuständige Schulrätin, die den Weg des Bildungshauses sehr wohlwollend unterstützte, riet selbst dazu, auf die Anerkennung zu verzichten, weil die Nachteile die Vorteile überwögen. Das Ergebnis des Probeunterrichts bestätigt den Kurs der Schule, die Kinder haben Erfolg.

Kinder haben unterschiedliche Geschwindigkeiten beim Lernen, dies sogar nach Lerngegenstand oder Fächern unterschieden. Im Bildungshaus gibt es Lerntheken mit Fächern. Beispielsweise gibt es für die Kinder der C-Stufe, die die Vorschulgruppe und die Klassenstufe 1 zusammenfasst, im Lernbereich Mathematik 26 Lernfächer in neun Einzelfächern, die die Kinder der Reihe nach selbstständig in ihrem jeweils eigenen Tempo bearbeiten. Dabei unterstützen sie die Lehrkräfte und die sozialpädagogischen Fachkräfte als Lernbegleiter*innen. Nach jedem Fach gibt es einen kleinen Test, der von Kindern und Lernbegleiter*innen individuell reflektiert und besprochen wird.

Auf diese Weise wissen die Kinder immer, was sie können, was sie geleistet haben, nicht zuletzt wissen es dann auch ihre Eltern, denn alles, was die Kinder lernen und leisten, wird in einer Art Portfolio festgehalten, einem Lerntagebuch, das in Kompetenzordnern aufbewahrt wird, die jederzeit von Kindern und Eltern eingesehen werden können. Zeugnisse werden individualisiert gestaltet, Leistung und Arbeitshaltung werden im Kontext bewertet, darüber hinaus erhalten die Eltern ein Zeugnis, aus dem hervorgeht, wie sich die Entwicklung ihrer Kinder im Vergleich zur Regelbewertung einer staatlichen Schule verhält. Die Schule ist somit nicht komplett notenfrei, aber die Noten spielen eher eine orientierende Rolle und selektieren nicht. Im Konzept lesen wir: „Die Leistungen der Schüler werden einerseits durch qualitative Aussagen über Kompetenzen abgebildet, andererseits durch eine individualisierte Benotung des Lernfortschritts. Diese zweidimensionale Form der Leistungsbewertung ist auch Grundlage für individuelle Lernplanungen.“

Zusätzlich zu den Lerntheken gibt es Projekttheken. Ich habe mir die Projekttheke zum „Geld“ angeschaut. Die Kinder konnten „Geld“ nicht nur theoretisch erfahren, sondern auch Wege suchen, mit denen sie Geld verdienten, sodass zur Belohnung am Schluss beispielsweise ein gemeinsamer Kinotag möglich wurde.

Entscheidend für die weitere Zukunft der Kinder ist das Ergebnis nach der vierten Klasse. Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Kinder dieses Ziel nicht im Gleichschritt erreichen werden, sondern eben in manchen Bereichen schneller, in manchen eher langsamer. Auf das Ergebnis kommt es an, sodass sich auch die Frage stellt, ob es nicht einfacher wäre, für staatliche Schulen abschlussbezogene Lehrpläne, und die dann nach Möglichkeit bundesweit einheitlich schreiben zu lassen anstatt detailversessen vorzugeben, in welcher Klasse was bis zu welchem Zeitpunkt in welcher Schulform erreicht werden sollte. Das Konzept der Schule erinnert an die Dalton-Pädagogik. Mit der gängigen dogmatisch gepflegten Gleichschrittigkeit kann man eigentlich nur scheitern. Auch die Einbeziehung der Vorschulkinder lohnt sich. Zwei Drittel der Vorschulkinder konnten schon lesen als sie in die erste Klasse eingeschult wurden.

Perspektiven

Claudia Kohnle berichtete, dass es nicht einfach war, die Eltern von der Arbeitsweise des Bildungshauses zu überzeugen. Das war ein „harter Kampf“, aber er lohnte sich. Eltern wurden zu Partner*innen, die mit ihren Kindern lernten, dass Kinder mehr brauchen als nur die Erfüllung eines Lehrplans und vor allem, dass dieser Lehrplan in unterschiedlichen Zeiträumen erfüllt werden kann. Dies wurde gerade in der Corona-Zeit deutlich. Hier zahlte allerdings auch das Bildungshaus Bad Aibling „Lehrgeld“. Kinder kamen nach der Schließungszeit zurück und hatten alle einen anderen Rhythmus gelebt. Dies galt emotional, sozial, fachlich. Gerade emotional und sozial musste viel aufgearbeitet werden, so gab es beispielsweise Kinder, die noch nie ohne Maske Kindertageseinrichtung oder Schule besucht hatten, zumal auch die Eltern ganz unterschiedlich mit der latenten Ansteckungsgefahr umgingen. Es gab eher sorglose, es gab eher ängstliche Kinder, und auch Lehrkräfte und sozialpädagogische Fachkräfte können sich von der allgemeinen Verunsicherung dieser Zeit nicht freisprechen. Ein weiterer kritischer Punkt in der Corona-Zeit war die nach den Hygienevorgaben erforderliche Umgestaltung der Räume. Der Begriff des „Aufholprogramms“, den Bundes- und Landesministerien im Herbst 2021 einführten, hat somit noch ganz andere Dimensionen. Es geht eben nicht nur um traditionelle Schulleistungen in einigen wenigen sogenannten „Kernfächern“, oder anders gesagt: ohne emotionale und soziale Stabilität sind auch gute Schulleistungen nicht erreichbar.

Eigentlich hat das Bildungshaus nur einen einzigen, allerdings nicht zu unterschätzenden Nachteil. Dies ist der Status der Lehrkräfte, die nicht verbeamtet werden können. Der Angestelltenstatus erschwert die Suche nach geeignetem Personal, das ohnehin auf dem Arbeitsmarkt für Lehrkräfte ausgesprochen knapp ist, nicht nur in Bayern. Aber warum sollte das Land die in der Schule arbeitenden Lehrkräfte nicht verbeamten? Einen triftigen inhaltlichen Grund gibt es nicht. Und vielleicht wäre es so auch möglich, dass Lehrkräfte im Staatsdienst sich für einen begrenzten Zeitraum in das Bildungshaus abordnen ließen, um nachher mit dem Erfahrenen, Erlebten, Erlernten staatliche Schulen zu bereichern. Es wäre für beide Seiten ein Gewinn.

Vielleicht sollten sich die für Kinder, Jugend, Schule zuständigen Verwaltungen und ihre Minister*innen einfach fragen, was sie vom Bildungshaus Bad Aibling lernen könnten. Ganz zentral sind die Individualisierung, die Vielfalt der Kompetenzen, das individualisierende Lernen, alles Ansätze, die die Unternehmen und Wirtschaftsministerien interessieren, auch die Sozialministerien, aber leider eher selten die Schulministerien. In den Schulgesetzen der Länder ist zwar inzwischen fast überall von „individueller Förderung“ die Rede, doch nicht davon, dass diese im Grunde eine individualisierende Förderung, möglichst sogar in dem Sinne der von Hans-Uwe Otto und Thomas Coelen beschriebenen „Ganztagsbildung“ sein sollte. Ebenso zentral ist die enge Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule. Und last not least: warum sollte es nicht mehr Schulen in Trägerschaft eines Jugendhilfeträgers geben?

Im Grunde verwirklicht die Schule den umfassenden Gesundheitsbegriff der World Health Organisation (WHO), der leider gerade in der Zeit der Pandemie kaum beachtet wurde, sofern er überhaupt den politisch verantwortlichen Akteur*innen bekannt war: „Gesundheit ist ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen.“ („Health is a state of complete physical, mental and social wellbeing and not merely the absence of disease or infirmity.”)

Eben dies wird im Konzeptentwurf ausgeführt und mit einem ebenso umfassenden Bildungsbegriff verbunden. „Gesundheit im Sinne wie sie auch die WHO definiert, ist nicht zuletzt Ergebnis gelingender Bildung und umfasst physische, psychische, soziale und materielle Faktoren. Kinder werden neben der Wissensvermittlung auch durch eine gesunde, autonome Lebensbewältigung und Lebensgestaltung gefördert, sich zu teamfähigen, empathischen, konfliktfähigen und kommunikativen Menschen zu entwickeln. Eine Schule, die Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht, trägt damit zur Prävention vor physischer und psychischer Verwahrlosung, mangelnder Selbststeuerung und selbstzerstörerischem Gesundheitsverhalten bei.“

Diese Gedanken ließen sich meines Erachtens auch für die Gesundheit der Lehrkräfte und der sozialpädagogischen Fachkräfte nutzen. Bei meinem Besuch hatte ich den Eindruck, dass die entspannte Atmosphäre in den Lerngruppen alle betraf, die Kinder ebenso wie die Erwachsenen. Das kann sicherlich nicht jede Schule und auch nicht jede Kindertageseinrichtung von sich sagen. Das Bildungshaus Bad Aibling zeigt jedoch, wie Erwachsene und Kinder gleichermaßen Selbstwirksamkeit erleben.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im September 2022, alle Internetzugriffe zuletzt am 21. Juli 2022. Die Bilder im Text wurden mir freundlicherweise von Claudia Kohnle zur Verfügung gestellt.)