Biopolitik

Ines Geipel über die Vision eines Neuen Menschen in der DDR

„Niemand wusste genau, was im Werden war; niemand vermochte zu sagen, ob es eine neue Kunst, ein neuer Mensch, eine neue Moral oder vielleicht eine Umschichtung der Gesellschaft sein solle. (…) Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurden die Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit brustkranker Mädchen angebetet; man begeisterte sich für das Heldenglaubensbekenntnis und für das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schlossalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft.“ (Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)

Robert Musil beschreibt eine Zeit im Umbruch, von der sich im Sinne von Antonio Gramsci vielleicht hätte sagen lassen, dass das Neue, das das Alte ablösen werde, sich ankündigte, jedoch noch nicht zur Welt kommen könne. Es ist die Endphase der kakanischen Monarchie, in der die Herrschenden ebenso wenig wie die Beherrschten glaubten, dass etwas zu Ende gehe. An die bevorstehende Katastrophe glaubte kaum jemand. In dieser Atmosphäre entstand eine Fülle von Ideen und Ideologien – so lässt sich das durchaus nennen –, in denen „ein neuer Mensch, eine neue Moral“ versprochen wurde, Ideen, die bis in die heutige Zeit wirken, auch wenn die Akteur*innen, die sie versprechen, inzwischen andere sind. Staatliche Visionen wurden inzwischen nicht nur im sogenannten „Westen“ von Wirtschaftsunternehmen und Marktforschung abgelöst, doch die fatale Wirkung auf den einzelnen Menschen und seine Art, den eigenen Körper wahrzunehmen und zu verändern, bleibt.

Körperbilder

Bewegungen, die gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts für sich beanspruchten, ihre eigene Zukunft zu gestalten oder möglicherweise sogar die Zukunft aller Menschen zu dominieren, präsentierten gerne muskulöse Männer, deren Erscheinungsbild sie – in Großbuchstaben geschrieben – als „Neuen Menschen“ propagierten. Dies galt für Vertreter der rechten völkisch gesinnten Seite ebenso wie für die der linken sozialrevolutionär denkenden Seite im politischen beziehungsweise gesellschaftlichen Spektrum. Aber auch Minderheiten verwendeten solche Bilder, so beispielsweise Max Nordau mit seiner Vision des wehrhaften „Muskeljuden“. Die zionistische Bewegung verallgemeinerte ihre Vision nicht als Modell für alle Menschen, auch die, die keine Jüdinnen*Juden waren, sie bezog sich ausschließlich auf die Menschen, die sie für eine Ansiedlung in Erez Israel anwarb. Andere Bewegungen – völkische wie kommunistisch-sozialistische – präsentierten sich mit solchen Bildern als die die Zukunft dominierende und möglichst ausschließlich prägende Macht. Wer ihrem Bild nicht entsprach, wurden als schwächlich geschmäht, so eben nicht zuletzt und ganz besonders Juden als Gegenbild in einer verweichlichten Zeit.

Frauenbilder entsprachen diesen Bildern spiegelbildlich. Wer Liebesgedichte von Bertolt Brecht liest, findet dort immer wieder Beschreibungen der geliebten und begehrten Frauen, in denen ihre weiße Haut hervorgehoben wird, ein Widerschein der bürgerlichen Frau, die nicht körperlich arbeitete, nicht der Sonne ausgesetzt war, die selbst im Sommer Handschuhe trug und sich so von der Arbeiter- und Bauernfrau unterschied. Zunächst geht es jedoch in den diversen Ideengebäuden um den Körper der Männer, der eine neue Zeit signalisieren sollte, durchaus in Bezug auf den Mann als potenziellen Soldaten. Während Frauen eine passive Rolle zugeschrieben wurden, verkörperten Männer eine Art Vita Activa. Diese Diskrepanz finden wir eben auch in der eingangs zitierten Passage von „Der Mann ohne Eigenschaften“. Die Eigenschaften eines Menschen ergeben sich sozusagen erst aus dem Bild, das in einer Gesellschaft von ihm oder ihr vorherrscht.

Ines Geipel, die sich in ihren Büchern und Vorträgen mit der unterschwellig spürbaren, in offiziellen Verlautbarungen in Ost und West doch viel zu oft unterdrückten und immer wieder verdrängten Geschichte der DDR auseinandersetzt, hat diesen Kontext der Körperbilder in ihrem 2022 bei Klett-Cotta erschienenen Buch „Schöner Neuer Himmel – Aus dem Militärlabor des Ostens“ analysiert. Das Buch schließt durchaus an ihre „Umkämpfte Zone“ an (Untertitel: „Mein Bruder, der Osten und der Hass“, 2019 bei Klett-Cotta erschienen). In diesem Buch hatte sie mehrere Mythen dekonstruiert, darunter den Mythos der emanzipierten Ostfrau, den Mythos des überwundenen Faschismus, den Mythos des Kollektivs.

In „Schöner Neuer Himmel“ geht es um den Körperkult in der offiziellen und offiziösen DDR sowie die Gewalt, mit der ihn die DDR-Führung durchsetzte. Raumfahrt, Militär, Sport – das war die Trias der Zukunft des „Neuen Menschen“. Ines Geipel nähert sich dem Thema in zwölf Kapiteln. Zwischen die Kapitel platzierte sie Faksimiles aus Berichten und Analysen zum Thema, die die Intentionen der DDR-Führung dokumentieren. Ihr Buch beginnt mit Reflektionen nach einer Pressekonferenz vom 26. April 2021 zu „Missbrauch und Gewalt im Sport“ sowie einer sie bedrohenden Mail eines Menschen, der sich als „Unknown Soldier“ bezeichnet und sinnigerweise mit „U.S.“ unterzeichnet. Ines Geipel sammelt solche Mails in Ordnern, denn auch deren Autor*innen sind Zeitzeug*innen.

Es geht letztlich um die Hoheit über die Erinnerung, in all ihren Ambivalenzen und Widersprüchen. „Das Ding mit dem Osten. Es war mit den Jahren nicht einfacher geworden. Etwas war zurückgekommen, hatte sich verschoben, bewegte sich in Endlosschleife. So jedenfalls mein Eindruck. Was vor 20 Jahren noch gesichert schien, worüber es Dissertationen, viel Forschung und fundiertes Wissen gab, war mittlerweile unklarer denn je. Rutschig, vage, wie ohne Boden. Mehr und mehr schien der Osten weggefragt zu werden, zurückgeschrieben, ausgeblendet, umerzählt.“

Die zitierte Passage dokumentiert exemplarisch den Stil des Buches. Wir finden viele Gedanken-Kombinationen, in denen ein Begriff seziert wird, in kurzen polysyndetischen Reihungen, in Andeutungen, die sich mit der Zeit präzisieren, sodass die Leser*innen des Buches die Suche der Autorin nach den Hintergründen der von ihr beschriebenen Wahrheiten und Wirklichkeiten im besten Sinne des Wortes nachvollziehen. Und in der Tat ist das Buch – so sagte es mir Ines Geipel in einem Gespräch am 7. September 2022 – eine „Suche“, in der gelungenen metaphorischen Sprache des Buches: „Mit dem Hund der Geschichte, der die Spur aufnimmt und lostrottet, weil er muss, die Schnauze am Boden.“

Ines Geipel benennt die Akten, die ihr zur Verfügung standen, sie verweist auf die Akten, die ihr aus welchen Gründen auch immer nicht zugänglich waren. Sie illustriert das Entdeckte mit diversen Biographien, darunter Männer, die den mehr oder weniger nahtlosen Übergang von der NS-Zeit in die DDR-Zeit, mitunter auch in die Zeit des – wie man so sagt – „wiedervereinigten Deutschlands“ nach 1989 fanden, engen Kontakt mit der Sowjetunion, aber auch mit dem Westen pflegten, beispielsweise bei der Nutzung des Blutdopingverfahrens EPO. Frauen waren nicht darunter, denn Frauen tauchten erst in den 1980er Jahren als Autorinnen von Dissertationen oder Aufsätzen zum Thema auf.

Die Forschungen westdeutscher Konzerne fanden in den 1980er Jahren mühelos ihren Weg in die DDR-Krankenhäuser und in den DDR-Leistungssport. „Und die DDR? Sie musste gar nicht erst entwickeln. Der Westen samt neuester Forschung kam zu ihr. Sie brauchte nur hinschauen und nachentwickeln.“ Als ausgesprochen interessanten Zeitzeugen zitiert Ines Geipel Gerd Machalett, Jahrgang 1937, der u.a. in der Militärmedizinischen Akademie (MMA) in Bad Saarow einer nachgeordneten Behörde des DDR-Verteidigungsministeriums, wirkte und „als Gift- und Dopingspezialist zum inner circle der ostdeutschen Militärforschung gehörte“, aber noch kürzlich, am 19. Mai 2021 in Rubikon (laut NewsGuard, das Nachrichtenportale nach Desinformation und Vertrauenswürdigkeit bewertet, eine Webseite, die hauptsächlich über deutsche Politik berichtet, Narrative der russischen Regierung unterstützt und Verschwörungsmythen und andere falsche und irreführende Behauptungen veröffentlicht, beispielsweise auch über das Coronavirus) Gelegenheit hatte, sich über „Doping-Legende“ und „Opferlobby“ zu mokieren.

Kosmische Utopie

Es wäre sicherlich von Interesse, die Bilder eines gesunden und starken Körpers in den Zeiten des Nebeneinanders von BRD und DDR miteinander zu vergleichen. Jugendkult, gesunde – nicht mehr blass-weiße – Hautfarbe, gut ausgebildete Muskulatur, im Westen der sogenannte Waschbrettbauch, das Six-Pack, das Body-Forming von Männern wie von Frauen in der Zeit von Arnold Schwarzenegger bis Kim Kardashian – der Aufschwung der Body-Building-Zentren im Westen, die Einführung von Militärunterricht im Osten – all dies ergäbe genug Anlass zu zeigen, dass es geradezu frappierende Ähnlichkeiten gab und gibt, auch wenn die Begriffe und Ideologien sich unterscheiden. Es geht letztlich – meines Erachtens nicht nur in der DDR – um das Image des Sports und der als „sportlich“ markierten Körper: „Der Sport soll Siegmaschine, Weltgottesdienst ohne Gott oder was auch immer sein. Aber bitte nicht das Couchprogramm vermasseln. Sport ist schön, Sport ist gut, Sport ist für alle da. Und ansonsten? Schulterzucken, Pech gehabt, selber schuld. Dunkle Nachbilder sind uncharming. Am besten, sie kommen gar nicht erst vor.“

Diese Sätze beziehen sich auf „Jacob“, einen Radrennfahrer, der sich im Januar 2018 an Ines Geipel wandte. Es war das fünfte und letzte Jahr ihrer Zeit als Vorsitzende der Doping-Opfer-Hilfe. Jacob verbrachte „zehn Wochen in einem Zimmer neben Sigmund Jähn“. Beide waren Gegenstand der Forschungen zur Vervollkommnung des Menschen, der eine im Hinblick auf seine Einsätze im Weltraum, der andere im Hinblick auf den Sport. „Jacobs Augen, sein Körper, dünn wie eine Gurke. Er erzählte was von Nadeln, Drähten, Biopsien. Sind Sie sicher, dass da was mit Ihnen gemacht wurde? Eine Frage, die ich mir hätte sparen können. Deshalb war er ja da. Er schüttelte den Kopf: Es gibt nichts, keine Unterlagen, kann man komplett vergessen. Ich sah in sein Gesicht.“ Die Fragen, die sich jetzt stellen, lassen sich auch auf andere Kontexte beziehen: „Was ist mit Jürgen Fuchs in der Stasi-Haft geschehen?

Der Körper „ist der Ort einer Verzweckung, einer äußeren Markierung sowie der inneren Zeichnung.“ Das ist die neue Ära der „Biopolitik“, die nicht nur „die geheime Staatsforschung für den Kosmos“ betraf: „Dabei ist der Körper unter der Diktatur eine extreme Exposition. Eine Kampfstätte und ein Exerzierplatz. Er ist ein Raum der Macht und damit auch ihrer Visualisierung, Demonstration und Inszenierung.“ Ich erlaube mir den Hinweis, dass der Sportunterricht im Westen noch in den 1950er und 1960er Jahren seine Herkunft aus dem Militär nicht verleugnete. Sportunterricht hieß damals noch „Leibesübungen“, so wie auch in der NS-Zeit. Eine der ersten bildungspolitischen Maßnahmen der Nazis war es, den „Leibesübungen“ den ursprünglich der „Religion“ gebührenden ersten Platz auf den Schulzeugnissen zu geben. Die Praxis des Sportunterrichts in der westlichen Nachkriegszeit war durchaus nach wie vor militärisch geprägt, es galt nur Leistung im absoluten Maßstab unabhängig von den körperlichen Voraussetzungen des Einzelnen.

Im Sport begegnen sich Körperkult und Science Fiction, der Sport sorgt für die Normierung des Körpergeschmacks einer Gesellschaft und ihrer Zukunftsvision. Ines Geipel wendet die Analyse Gerd Koenens an, der die im Grunde teleologisch-eschatologisch gefasste „Dynamik der totalitären Bewegungen“ beschreibt (in: Utopie der Säuberung – Was war der Kommunismus? Berlin 1998). Sie bezieht sie auf Vertreter der „biopolitischen Utopien in Russland“ wie Nikolaj Fedorow (1829-1903) und Konstantin Ziolkowski (1857-1935), „der von Weltraumtürmen mit Fahrstühlen in den Himmel, von interstellaren Kolonien, von der Metamorphose aller Menschen zu einem gigantischen ‚Strahlenkörper‘ träumte“, an. Der Sport war im Grunde so etwas wie der irdische Teil einer kosmischen Utopie. „Die ‚proletarische Biologie‘ entwarf deshalb Züchtungsutopien, die das Leben unter die Generalorder der Großhirnrinde stellten. Eine Attacke vor allem auf alles Spontane, Offene, Kreative. Ein Programm mit Langzeitwirkung, das auch spukhafte Forschungsdeformationen ins Leben rief. Vieles davon dürfte nie an die Öffentlichkeit gelangen. Manches schon.“

Das war die stalinistische Utopie. „Stalin forderte dabei, dass nur erforscht wurde, was auch Praxisnähe ausweisen und der Neue Mensch wirklich brauchen konnte, der Selbstumbauer, Gesäuberter und Missionar in eigener Sache werden sollte.“ Mit der Zeit wurde „aus dem Neuen Menschen der Stalin-Mensch“, die Wissenschaften „Stalin-Wissenschaften“, der Mensch wurde zur Ikone seiner selbst, selbst Stalin. Es gibt die Geschichte, dass Stalin seinem Sohn erklärte, dass nicht er, sondern der Mann auf dem Bild an der Wand Stalin sei. Eine der Gesprächspartnerinnen von Swetlana Alexijewitsch in „Secondhand-Zeit“ (Erstveröffentlichung 2013 in Moskau) erwähnt diese Anekdote, die vielleicht auch nur ein gut erfundenes Gerücht ist.

Himmelsmänner – Himmelsfrauen

Bisher habe ich ausschließlich die im Buch von Ines Geipel beschriebenen Männer erwähnt, ungegendert. Und dies weitgehend mit Recht, denn Frauen spielten zunächst nur eine Nebenrolle. Der Frauenkörper – so Ines Geipel – „war insbesondere eine Konstruktion der männlichen Kriegskinder und changierte zwischen zwei Körpervisionen von Diktaturen. Der (…) Olympia-Film von Leni Riefenstahl ließ einen muskulösen, strahlenden Männerkörper aus mehreren dienenden Frauenkörpern entstehen. Die drei Frauen verbrennen gleichsam in den Flammen, bevor der initiierte Recke seine Augen öffnet und mit der Fackel in der Hand zum Siegen ins Helle, in die neu gebaute Ruhmes-Arena läuft. Diesem Programm der lebenspendenden, gebärenden Frau im Nationalsozialismus stand die arbeitende sowjetische Mutter gegenüber, bei der die Frau vor allem als Erbauer des Sozialismus gebraucht wurde. Über einen vielschichtigen, hochambivalenten Prozess wurde sie am Ende nicht nur geopfert, sondern vor allem auch virilisiert.“ Wie sich dies auf Psyche und Selbstbewusstsein der Frauen auswirkte, dokumentiert Swetlana Alexijewitsch in den in ihrem 2008 in Moskau erschienenen Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ aufgezeichneten Gesprächen mit allen Widersprüchen und Ambivalenzen.

In der DDR der 1980er Jahre gab es jedoch auch den „Forschungskomplex Frau“. Wer war die imaginierte „Neue Himmelsfrau“? Wie sollte sie aussehen, wie sich verhalten? Ines Geipel berichtet von einer Ende 1983 in Bad Saarow angenommenen Habil-Schrift mit dem Titel „Untersuchungen zur Leistungsfähigkeit von Frauen im Alter von 18 und 40 Jahren unter militärischen Bedingungen“. Die Annahme erfolgte wenige Wochen vor dem Start von „Biosputnik 1514“ mit den „beiden Affenkosmonauten Abrek und Bion“ und mehreren „trächtige(n) Ratten“ an Bord. Der Titel der Habil-Schrift wurde bis zu ihrer Verteidigung am 9. September 1988 in Bad Saarow verändert. Er lautete nun: „Die Leistungsfähigkeit der Frau und ihre Eignung für die militärische Verwendung“.

Vielleicht lohnt es sich, im Hinblick auf die eingangs von mir genannte Frage nach einem Vergleich der biopolitischen Entwicklungen in Ost und West zwischen 1949 und 1989 das Thema der Gender-Medizin anzusprechen? Dieses Thema ist in Forschung und Lehre bei Weitem noch nicht in dem Maße angekommen wie es sein sollte. Das männliche Körper-Modell dominiert nach wie vor. Die Frage ließe sich auch auf Kinder übertragen: „Für das Militär war das Kind ein Forschungsdauerthema.“ Aber in welcher Hinsicht? „Bereits 1975 fanden als Staatsplanthema 6.01.00 und unter dem Titel ‚Erhöhung von Lernleistung‘ Experimente mit Schulkindern statt.“ Ines Geipel zitiert weitere Studien dieser Art, darunter auch Ansätze kybernetischer Forschung, für die man sich in der DDR durchaus interessierte, die aber Kurt Hager höchstpersönlich nach dem Prager Frühling einstellen ließ, weil er sie als Konkurrenz zum marxistisch-leninistischen Menschen- und Weltbild verstand. Auch im Westen war die kybernetische Forschung Gegenstand pädagogischer Leitbilder, vor allem in den 1960er bis in die 1970er Jahre.

Ein Fazit? „Es ist Zeit, zu Jacob zu fahren. Was er wissen will, bleibt hinter Codes versteckt. Es gibt sie nicht, die eine Antwort und vor allem kein Happyend. Aber ich kann ihm sagen, was sein Ort war, worin er sich befunden hat.“ Ines Geipel schließt mit einem Ausblick auf die Marsplanungen von Elon Musk, ein weiteres neues weltumgreifendes und kosmisches „Willensprojekt“. Es sind heute eben nicht mehr Politiker, die Menschen- und Weltbilder verbreiten, sondern Wirtschaftsmenschen, Biopolitik heißt dann vielleicht verharmlosend einfach Biomedizin. Und nach wie vor: „Der Himmel als Willensformat, auch als Sehnsuchtsraum für Verwandlung.“

Gibt es Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen heutiger Demokratie und damaliger Diktatur? Letztlich vor allem einen: in einer Demokratie kann sich jede*r den Fantasien und Scheinvorgaben von Wirtschaft und Gesellschaft entziehen, sie kritisieren und reflektieren, eben diese Chance haben Menschen in einer Diktatur nicht. Mit ihrem Körperbild zerstörte die SED-Diktatur Menschen systematisch, denn wer einmal in die Fänge des Sports, des Militärs, der Weltraumfahrt, kurz: der Biopolitik geraten ist, hatte keine Chance, sich den sogenannten „unterstützenden Mitteln“, den Untersuchungen und Experimenten zu entziehen, es sei denn, er oder sie riskierte die ganze Existenz. Das war nicht nur Jacobs Schicksal.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im September 2022, Internetzugriffe zuletzt am 7. September 2022. Titelbild ist ein Ausschnitt von Sandra del Pilar, „Treat Me Like A Fool, Treat Me Like I’m Evil“. Ines Geipel danke ich für die ergänzenden Hinweise in unserem Gespräch vom 7. September 2022.)