Cluster des Ressentiments

Intersektionale Aspekte des Antisemitismus

„Heute, wo Opferrivalitäten grassieren, wo zahllose Individuen oder Gemeinschaften ihre Identität aus vergangenem Leid ableiten, müssen wir besonders sensibel auf das Amalek-Syndrom reagieren, das Individuen, Gruppen oder Nationen bedroht Amalek erwacht, immer wenn der Groll der Vergangenheit herausgeschrien wird und uns weismachen will, dass die Erinnerung uns mehr Rechte als Pflichten einräumt.“ (Delphine Horvilleur, Überlegungen zur Frage des Antisemitismus, Berlin, Hanser, 2020, französischer Originaltitel „Réflexions sur la question antisémite, 2019 in Paris bei Grasset erschienen)

Delphine Horvilleur leitet den „Hass des Antisemiten (… aus einer Geschichte von Neid, Eifersucht und Verdrängung“ ab. Es ist vielleicht der „Groll des Außenseiters auf ein Volk, das ostentativ sein Zugehörigkeitsgefühl betont. (…) So wird Amalek geboren, dessen Name auf Hebräisch wörtlich ‚derjenige, der kein Volk hat‘ bedeutet.“ Haben Jüdinnen*Juden also etwas Begehrenswertes, das sie anderen verweigern? Ist Antisemitismus nicht mehr und nicht weniger als die Rebellion gegen diese Verweigerung? Wer ist Opfer, wer ist Täter*in?

Wohlfeile Sonntagssolidarität

Delphine Horvilleur dekonstruiert die im Antisemitismus immer wieder sich verdrehenden und verkehrenden Rollen von Opfern und Täter*innen und leitet daraus den Auftrag ab, sich nicht von „Amalek“ bestimmen zu lassen. Nur dann entstehe Resilienz: „Vielleicht beruht die psychische Widerstandsfähigkeit des Menschen ja genau auf diesem subtilen Gebot: Denk daran, was dir widerfahren ist, sichere dir die Erinnerung an die Vergangenheit, aber lass diese Vergangenheit nicht mit Amaleks Stimme in dir brüllen. Lass den Hass, der dich getroffen oder sich deiner bemächtigt hat, nicht dein zukünftiges Wesen bestimmen. Die Stimme unseres Erbes und vergangenen Leids darf nie zum Schweigen gebracht werden, aber sie soll auch nicht allen Raum in uns beanspruchen, als wäre sie der einzige Ausdruck unseres Seins.“

Andererseits: „Der Antisemitismus versucht, sich über die Ausgrenzung zu konstruieren oder zu retten.“ Delphine Horvilleur zitiert Jean-Paul Sartres „Überlegungen zur Judenfrage“ (Reinbek, Rowohlt, 1994, erschienen 1946 beziehungsweise mit dem ersten Kapitel bereits 1944, Originaltitel: Réflexions sur la question juive). Sartre begreift den Antisemiten als einen Menschen, „der Angst hat“. Und diese Angst lässt Aggression entstehen. Das Gefühl der Bedrohung wird in die Bedrohung des schlechthin Anderen umgeleitet, des „Juden“ als Figur und Urheber allen Übels.

Doch wie lässt sich diese Verdrehung wieder auf ihre Ausgangskonstellation zurückführen? Und warum wirken Politiker*innen oft so hilflos bemüht, wenn es um Antisemitismus geht? Mitunter lässt sich kaum nachvollzuziehen, warum das Thema Antisemitismus zwar in vielen gut gemeinten Reden deutscher Politiker*innen engagiert und sicherlich auch aufrichtig gedacht angesprochen wird, doch eine konkrete Unterstützung jüdischer Gemeinden entweder auf sich warten lässt oder dann, wenn sie tatsächlich erfolgt, mehr als halbherzig geschieht. Die Gedenkreden zu diversen Feierstunden, die markigen Reaktionen in Politik und Medien auf Übergriffe, Attentate und Morde bleiben wohlfeil.

Christine Brinck schreibt in ihrer Rezension zu Ronen Steinkes Buch „Terror gegen Juden- Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt – Eine Anklage“ (Berlin Verlag 2020): „Steinkes Anklage gegen Staat und Gerichtsbarkeit ist ein erschütterndes Dokument der Gleichgültigkeit – auch wenn die Regierung mit ihrem Antisemitismus-Beauftragtem Felix Klein und mahnenden Reden ihr Bestes tut.“ Der Titel des Essays von Christine Brinck: „Edle Gründe – finstere Niedertracht“. Tun Bundesregierung, Landesregierungen und Zivilgesellschaft wirklich „ihr Bestes“? Ich bezweifele dies und die Dokumentation von Ronen Steinke unterstützt meine Skepsis. So wirkt die Antwort, die die Vorsitzende der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover, Rebecca Seidler, vom niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) erhielt, wie der sprichwörtliche Schlag vor den Kopf. Die Süddeutsche Zeitung berichtete am 28. September 2020: „Der Innenminister Pistorius empfahl Seidler, sie solle das normale Budget hernehmen, das der Staat ihr ohnehin zugesprochen hat. So erklärt er es auch der SZ. Im Vertrag mit dem Land Niedersachsen steht aber, dass dieses Geld für den ‚Aufbau jüdischen Lebens gedacht ist. ‚Soll das heißen, ich muss der Rabbinerin, die wir gerade eingestellt haben, wieder kündigen?‘, fragt Seidler. ‚Oder soll ich lieber andere Sachen streichen? Die Selbsthilfegruppe für Holocaustüberlebende? Das Mittagessen in der Kita?‘ Pistorius‘ Staatssekretär hat ihr kurz zuvor, am 20. August, noch geschrieben, dass ‚Haushaltsmittel zur Sicherung jüdischer Gemeinden‘ leider ‚nicht veranschlagt‘ seien. Er verkniff es sich in seinem Brief auch nicht, die Gemeindevorsitzende zu ermahnen, sie solle mal nicht undankbar sein für all die Tipps in Sicherheitsfragen, die man ihr gegeben habe: ‚Insgesamt handelt es sich um eine unentgeltliche Serviceleistung der Polizei.‘“ 

Schlüsseljahre

Die Jahre 1967/1968 waren Schlüsseljahre für die in den folgenden Jahren begangenen Wege und Irrwege nicht nur im Hinblick auf die studentisch geprägten Rebellionen der (West-)1968er und die Niederschlagung des Prager Frühlings, das entscheidende Ereignis des (Ost-)1968, sondern auch für die israelische Politik und nicht zuletzt für die Einschätzung dieser Politik durch Bündnispartner*innen der einen oder anderen Seite in den „westlichen“ wie in den „östlichen“ Staaten, in Demokratien wie in Diktaturen. Tom Segevs Buch über diese Zeit der israelischen Politik trägt den Titel „1967 – Israels zweite Geburt“ (München, Siedler Verlag, 2007). Die internationale Ausgabe, die bei Metropolitan Books in New York erschien, ist deutlicher: „1967: Israel, the War and the Year that Transformed the Middle East“. Diese „Transformation“ betraf nicht nur den Mittleren Osten, sie vollzog sich in den Zentren der (damals vielleicht noch nicht ganz so) liberalen Demokratien, in Berlin, in London, in Paris, in New York City und dort auch in den Sitzungssälen der Vereinten Nationen.

Einen Blick in die Vergangenheit der 1960er Jahre bietet Gerd Koenen in seinem Beitrag zum Sammelband „Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte“ (hg. von Doron Rabinovici, Ulrich Speck und Natan Sznaider, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M. 2004). Gerd Koenen beschreibt, wie in den 1960er Jahren Intellektuelle, die von ihren Anhänger*innen gerne zur neuen deutschen Linken gezählt wurden – er nennt beispielhaft Martin Walser und Hans-Magnus Enzensberger – die Debatte um Auschwitz aneigneten und die Einzigartigkeit der Shoah relativierten, um zu der Frage überzuleiten, ob nicht der Staat an sich gewalttätig wäre, wie es beispielsweise dessen Verfügbarkeit über Atomwaffen belege. Binnen kurzer Zeit wurden der sogenannte „US-Imperialismus“ und der Vietnam-Krieg sowie die israelische Besatzung im Westjordanland, im Gaza-Streifen und auf dem Golan die Hauptfeinde der deutschen Linken.

Gerd Koenen widerspricht dieser Auffassung mit einem Verweis auf Hannah Arendt. Sie „verwahrte sich in einer öffentlichen Replik im Merkur heftig gegen diese Gleichsetzung eines hypothetischen atomaren ‚Megatods‘ mit der höchst realen ‚Endlösung der Judenfrage‘. In einem Brief an den Herausgeber Hans Paeschke spitzte sie ihre Kritik noch weiter zu. Sie hätte, schrieb sie, Enzensberger sagen müssen: ‚Ich habe Ihnen ja nicht vorgeworfen, dass Sie leugnen, dass die Deutschen an Auschwitz schuld sind, sondern dass Sie sich dafür noch eine Feder an den Hut stecken.‘ Um mit spitzer Intuition hinzuzufügen: ‚Oh, Felix Culpa!‘“

Allianzen im Geiste: Tupamaros West-Berlin und Wehrsportgruppe Hoffmann

Dieter Kunzelmann (1939 – 2018), einer der Köpfe der Rebellion der Studierenden in Berlin und eine der führenden Figuren des frühen deutschen Links-Terrorismus, war vielleicht einer der ersten, der antijudaistische Stereotype mit antizionistischen Vokabeln verband, die den heutigen Antisemitismus charakterisieren. Ronen Steinke verweist darauf, dass Kunzelmann gerne das Wort „Judensau“ verwendete. Jürgen Trittin erinnerte sich in seinem Nachruf auf Dieter Kunzelmann nicht daran oder wollte sich vielleicht auch nicht erinnern und twitterte: „Ein großer Sponti ist tot. R.I.P.“ (zitiert nach Christine Brinck).

Auf den Seiten 149 bis 238 – das sind 89 Seiten – seines Buches präsentiert Ronen Steinke eine Chronik der antisemitischen Übergriffe und Gewalttaten in der Bundesrepublik Deutschland. Diese Chronik ist nicht vollständig, aber wie sollte sie auch! In Ronen Steinkes Chronik enthalten ist der 9. November 1969, als die Tupamaros West-Berlin, die Dieter Kunzelmann mitgegründet hatte, im Jüdischen Gemeindehaus in Berlin eine Bombe mit Zeitzünder platzierten. Die Bombe explodierte nicht. An der Gedenkveranstaltung nahmen 250 Gäste teil. Sie überlebten wie die Besucher*innen der Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019. In beiden Fällen wurde gezielt ein jüdischer Gedenk- und Feiertag als Tag des Attentats gewählt. Ronen Steinke: „Während ein schockierter Heinz Galinski am 25. November 1969 nach Bonn fährt und im Bundesinnenministerium nach verstärkten Sicherheitsmaßnahmen für seine Gemeinde fragt, feiert die Kunzelmann-Gruppe ihre Tat, allein schon weil sie so viel Aufregung aufgelöst hat.“ In einem Flugblatt vom 14. Dezember 1969 verbindet sie „die Geschichte des Kampfes der Palästinenser gegen den Imperialismus“ mit dem Kampf gegen „die Römer, die Kreuzritter, Kalifen und Osmanen, dann die Engländer. Heute sind es die Zionisten und die Amis.“ (zitiert nach Ronen Steinke). Der Weg zu einer in sich kohärenten Verschwörungstheorie ist nicht weit: Zionismus, Israel, Judentum, das sind die Gegner dieser Variante des linken Antisemitismus, der – wie der Nachruf von Jürgen Trittin zeigt – offenbar immer noch in Ausblendung ihrer terroristischen Komponente nostalgische Gefühle bei einigen Zeitgenoss*innen hervorruft.

1972 folgte der Terroranschlag auf die israelische Nationalmannschaft während der Olympischen Spiele in München, 1980 wurde das Verlegerehepaar Shlomo Lewin und Frida Poeschke ermordet, ein Mord, der bis heute nicht aufgeklärt wurde, auch wenn es belastbare Hinweise gibt, dass die sogenannte „Wehrsportgruppe Hoffmann“ verantwortlich war. Rechtsextreme und linksextreme Erklärungen und Taten trafen sich in den 1970er Jahren und treffen sich nach wie vor. Der aktuelle Antisemitismus in seiner Verbindung von Antijudaismus und Antizionismus wurde hoffähig, bis hin zur sich in der Regel links inszenierenden BDS-Bewegung.

Deutsche Behörden: blind für antisemitische Netzwerke

Ronen Steinke dokumentiert, wie in den 1970er Jahren der Terrorismus gegen Jüdinnen*Juden ignoriert und verharmlost wurde: „Keine andere rechtsextreme Gruppe in der bundesdeutschen Geschichte hat so schwere Anschläge hervorgebracht wie die Wehrsportgruppe Hoffmann mit ihren zeitweise 400 Anhängern: Als terroristische Vereinigung nach dem 1976 geschaffenen Strafrechtsparagrafen 129a ist sie jedoch nie eingestuft worden, ihre Mitglieder hat man allenfalls als Einzeltäter verfolgt. / Die bayerische Regierung machte sich schon darüber lustig, dass der Bundesinnenminister Gerhart Baum von der FDP die Gruppe im Januar 1980 überhaupt mit einem Vereinsverbot belegt hatte. Man solle deren Pfadfinderspiele im Wald mal nicht zu ernst nehmen, ätzte Franz Josef Strauß, der im Bundestagswahlkampf 1980 vor allem für eine härtere Linie gegen Linke eintrat.“

Die RAF und andere terroristische Gruppen der 1970er Jahre wurden konsequent verfolgt, ihre Mitglieder wurden zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Auf der rechtsextremistischen Seite fand diese Konsequenz – dies dokumentiert Ronen Steinke – nicht statt. Allerdings spielten antisemitische Motive der sich links inszenierenden terroristischen Gruppen bei der Strafverfolgung keine Rolle, allenfalls erfolgte der Hinweis, dass diese sich in palästinensischen Lagern hatten ausbilden lassen. Opfer, die nicht zur politischen und wirtschaftlichen Elite gehörten, verdienten offenbar nicht denselben Einsatz wie diejenigen, die dieser Elite angehörten. Bei den Morden an Schlomo Lewin und Frida Poeschke wurde zunächst hartnäckig im unmittelbaren Umfeld des Ehepaars ermittelt, die Verdächtigungen gingen bis hin zum Mossad. Ronen Steinke: „Damit der Staat richtig Alarm schlug, mussten sich die Attacken, wenn schon nicht gegen ihn selbst, so zumindest gegen das politische System im weiteren Sinne richten, wie die RAF-Attentate gegen den Vorstandssprecher der Deutschen Bank oder den Treuhand-Chef.“ Diese Einstellung wiederholte sich bei den Ermittlungen gegen den sogenannten „NSU“.

Rechtsextremismus und Antisemitismus darf es nicht geben, also gibt es das auch nicht. Ein solches Verhalten ließe sich durchweg auf die Zeit vor dem 2. Juni 2019 beziehen. Der Mord an Walter Lübcke war das „Alarmzeichen“, das die Bundesregierung bewegte, erstmals unisono und offen von einer rechtsextremistischen Bedrohungslage zu sprechen. Seit diesem Mord wird die Einzeltäter-These in Frage gestellt. Gleichwohl erfolgen nach wie vor regelmäßige Rückbesinnungen auf die sicherlich bequeme These, dass es keine rechtsextremen Netzwerke gebe. Ronen Steinke gibt einem Kapitel die Überschrift „Einzelfälle, überall Einzelfälle!“ Er zitiert den damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog, der die Sprengung der Grabplatte von Heinz Galinski am 19. Dezember 1998 in einem Telegramm an die Witwe als „Werk wirrer Einzelgänger“ bezeichnete. Die Zeitschrift „Mittelweg 36“ hat im Herbst 2020 ein Themenheft zur Debatte um Einzeltäter und Netzwerke in der rechtsextremen Szene veröffentlicht, Titel: „Von einsamen Wölfen und ihren Rudeln“. Die mutmaßlichen Einzeltäter sind keine Psychopathen und sie sind gut vernetzt. Sie erfüllen einen Auftrag, für den sie in ihren Netzwerken Vorbilder, Anleitungen und Bundesgenoss*innen gefunden haben. Vielleicht könnte man*frau ihr Vorgehen mit der Struktur von Franchise-Betrieben vergleichen, ein Vergleich, der auch bereits anlässlich der Anschläge von Al-Kaida diskutiert wurde.

Ronen Steinke referiert die Ereignisse um den Anschlag auf die Synagoge in Wuppertal vom 29. Juli 2014. „Antisemitismus? Nein, für Judenfeindlichkeit gebe es hier ‚keine Anhaltspunkte‘, findet Richter Jörg Sturm, der Vorsitzende des Jugendschöffenberichts IV in Wuppertal.“ Die drei Täter, Palästinenser, erhielten – so Ronen Steinke einen „Kulturrabatt“, der aber offenbar nur gelten dürfte, wenn die Opfer Jüdinnen*Juden sind. Ronen Steinke: „Wer eine Moschee attackieren und behaupten würde, er protestiere damit bloß gegen die Politik des türkischen Präsidenten Erdoğan, der könnte hierzulande kaum mit einem Richter rechnen, der dies als ‚Türkeikritik‘ entschuldigt. Wer einen hinduistischen Tempel angreift, der dürfte kaum einen Richter finden, der dies als ‚Indienkritik‘ abtut.“ Wer sich die sogenannte „Israelkritik“ zu eigen macht, darf auf Verständnis hoffen? Noch Fragen?

Wie die Katze um den heißen Brei: der 16. Kinder- und Jugendbericht

Die Banalisierung, Bagatellisierung und Verharmlosung von Antisemitismus äußert sich nicht nur in Fehlleistungen von Polizei, Justiz und Politik. Sie lässt sich immer dann feststellen, wenn zwar offen und engagiert gegen die sogenannte „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) angeschrieben wird, die Spezifika der verschiedenen Elemente dieses Phänomens, von Antisemitismus, Rassismus, Sexismus – um nur diese drei beispielhaft zu nennen – jedoch nicht spezifiziert und nicht konkretisiert werden. Der 16. Kinder- und Jugendbericht (Deutscher Bundestag, Drucksache 19/24200 vom 11.11.2020, erhältlich über das Bundesjugendministerium) schleicht wie die Katze um den heißen Brei um den Antisemitismus herum. In einer Anmerkung werden in Anlehnung u.a. an Andreas Zick 13 Ausprägungen der sogenannten „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ genannt, darunter der Antisemitismus, spezifiziert werden sie in ihren jeweiligen Ausprägungen jedoch nicht. Es hätten weitere Ausprägungen genannt werden können, so wird beispielsweise „Klassismus“ nicht erwähnt.

Der 16. Kinder- und Jugendbericht verwendet allerdings auch ein Alternativkonzept, das Kurt Müller, eines der Mitglieder der Kommission, die den Bericht erstellte, entwickelt hat, die „Pauschalisierte Ablehnungskonstruktion“. Diese ist ebenso wie die „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ ein Wortmonstrum, das vielleicht in wissenschaftlichen Kreisen die Systematisierung gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen erleichtert, aber in der öffentlichen Kommunikation kaum Nachhall finden dürfte. Entsprechend verquast formuliert lesen wir: „Politische Vertrauensverluste und Empfindungen der Entkoppelung von politisch relevanten Entscheidungen, d.h. der Eindruck, politische Lebensgestaltungsoptionen zu bekommen, sowie eine (für viele durchaus nachvollziehbare) Skepsis hinsichtlich der Funktionalität der repräsentativen Demokratie in Deutschland begünstigen die Abwertung gesellschaftlicher Gruppierungen, die als ‚Andere‘ betrachtet werden.“ Anders formuliert: nicht soziale Verwerfungen bedingen Exklusion, sondern die Performanz der für politische Entscheidungen verantwortlichen Personen und Institutionen. Diese werden als Dienstleister*innen verstanden, die – bei Nicht-Lieferung – in Verruf geraten. Gebrandmarkt werden von ihren Wähler*innen jedoch nicht die verantwortlichen Personen und Institutionen, sondern Dritte, von denen behauptet wird, dass sie für alles Unheil dieser Welt verantwortlich sind.

Damit wären wir auch wieder beim Antisemitismus als Welterklärungsmuster, aber diese Schlüsse zieht der 16. Kinder- und Jugendbericht nicht, sondern setzt ausschließlich auf mehr Teilhabe und Partizipation als Medizin, wohlgemerkt nicht für die Opfer, sondern für die potenziellen Täter*innen. Partizipation ist sicherlich politisch erstrebenswert und sollte mehr gefördert werden als dies zurzeit der Fall ist, aber das hilft gegen den Antisemitismus aus meiner Sicht ebenso wenig wie viele Bildungsprozesse. Bildungsprozesse werden vom 16. Kinder- und Jugendbericht in ihrer Wirkung gegen „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und „Pauschalisierte Ablehnungskonstruktion“ mit Recht in Frage gestellt, „allein Wissensvermittlung und kognitivistisch verengte Versuche, eine Einstellungsänderung zu erziehen“ könnten „derart tief verankerte antidemokratische Orientierungen nicht erfolgreich bearbeiten“.

Wer über die Opfer spricht, muss auch über die Täter*innen sprechen, wer über die Täter*innen spricht, auch über die Opfer. Im 16. Kinder- und Jugendbericht spielen die Opfer der verschiedenen Ausprägungen von „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ beziehungsweise „Pauschalisierter Ablehnungskonstruktion“ keine maßgebliche Rolle. Als Opfer wird nur eine Gruppe angesprochen, in deren Kreis Täter*innen antisemitischer Gewalttaten zu finden sind. Bei dieser Gruppe spielt die Teilgruppe der Täter*innen, islamistisch gesinnte Jugendliche, keine Rolle, sie wird ausschließlich als Opfergruppe benannt: „Migrantische und muslimische Vereinsstrukturen stehen beispielsweise oftmals unter einem besonderen Rechtfertigungsdruck, sich von Radikalität, Antisemitismus, Homophobie oder Frauenfeindlichkeit abzugrenzen.“

Dieser Druck ist in der Tat vorhanden, problematisch ist jedoch, wenn der tatsächlich vorhandene muslimische beziehungsweise migrantische Antisemitismus, der sich in seinem Auftreten mit der rechts- und linksextremistisch belegten Verknüpfung von Antijudaismus und Antizionismus gut verträgt, auf diese Weise banalisiert und geradezu entschuldigt wird. Eine differenzierte Sicht migrantischer und muslimischer Strukturen, die man*frau unabhängig vom Thema dieses Essay auch nicht fahrlässig in einem Atemzug nennen sollte, fehlt. Stattdessen findet sich eine Form von Empathie mit migrantischen beziehungsweise muslimischen Communities, die die vielfältigen Auffassungen und Ausformungen, Gedanken und Einstellungen in diesen Communities ignoriert und diese ausschließlich in einer Opferrolle bestätigt, die sie als Minderheit in der Gesellschaft einnähmen.

„Gruppenleidenschaften“ und „Ressentimentgrollen“

Möglicherweise lässt sich – immerhin enthält der 16. Kinder- und Jugendbericht einen entsprechenden Hinweis – das Problem über die Rezeption und Anwendung von Ergebnissen der Emotionsforschung, für die beispielhaft Texte von Ute Frevert und Anja Besand zitiert werden, lösen. Stefanie Schüler Springorum und Jan Süselbeck haben ein Buch mit dem Titel „Emotionen und Antisemitismus – Geschichte – Literatur – Theorie“ herausgegeben (Göttingen, Wallstein Verlag, 2021). Hans-Joachim Hahn verweist in seinem Beitrag auf einen Text von Arnold Zweig aus dem Jahr 1926 mit dem Titel „Caliban oder Politik und Leidenschaft – Versuch über die menschlichen Gruppenleidenschaften dargetan am Antisemitismus“.

Vielleicht lässt sich über den Begriff der „Gruppenleidenschaften“ leichter erfassen, worum es beim Antisemitismus geht, als mit den Wortungetümen „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und Pauschalisierte Ablehnungskonstruktion“. Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck zitieren in ihrer Einleitung auch Hermann Bahrs Schrift „Der Antisemitismus – ein internationales Interview“, erschienen im Jahr 1894. Hermann Bahr verwendet für die Emotionen, die Antisemitismus bediene, den Begriff „Rausch“. Möglicherweise konzentrieren wir uns bei der Analyse der Motive der Täter*innen zu sehr auf ihre „Funktion“ im Getriebe der Macht.

Die Autor*innen von „Emotionen und Antisemitismus“ plädieren dafür, „dass Emotion und Kognition im Antisemitismus nicht einfach additiv, sondern integrativ verstanden werden müssen.“ So ließe sich erklären, warum brave Familienväter, reflektierte Bildungsbürger*innen, Menschen mit Vermögen und hohem gesellschaftlichem Status ebenso wie Menschen der sogenannten Unterschicht an dem Staatsverbrechen der Shoah mitwirken konnten. Welchen Nutzen, welchen Profit hatten und haben sie vom Antisemitismus?

Sie eint das „Ressentiment“. Uffa Jensen schreibt in seinem Beitrag mit dem Titel „Häme als Ressentimentverbindung“: „Doch wie geht Ressentimentgrollen in ein vollgültiges Gefühl über? Eine besonders wichtige Rolle spielen hier Gruppen, die ich als ‚moralisch Andere‘ bezeichnen würde und in die Debatte über negative Gefühle einführen möchte. Solche moralisch Andere können verschiedene Personengruppen sein: in unserer Gesellschaft oft Ausländer, Flüchtlinge, Asylbewerber, Dunkelhäutige, Juden, Muslime, Sinti und Roma, Homosexuelle, Trans- und Intersexuelle, gelegentlich auch Frauen. Die Liste ließe sich verlängern bzw. der jeweiligen Gesellschaft und historischen Situation anpassen. Was alle diese Gruppen eint, existiert nur aus der Perspektive der ressentimentgeladenen Menschen (…).“

Samuel Salzborn geht noch einen Schritt weiter. Er zitiert aus der „Dialektik der Aufklärung“ von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno (Erstausgabe Amsterdam 1947), die den Antisemitismus als „eine Art dynamischer Idealismus, der die organisierten Raubmörder beseelt“ bezeichnen. Der Antisemitismus ist der große Gleichmacher der „Volksbewegung“, er ist „stets, was seine Anstifter den Sozialdemokraten vorzuwerfen liebten: Gleichmacherei.“ Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck: „Es besteht kein Zweifel daran, dass der Judenhass auf dem dringenden Wunsch nach starken, als befreiend empfundenen Emotionen beruht und dass er in Gemeinschaft genossen und geteilt werden will.“

Julijana Ranc spricht vom „Sucht- und Lustcharakter“ des Antisemitismus. In einer empirischen Studie verglich sie Menschen mit ausdrücklichen Ressentiments mit anderen, bei denen diese nicht feststellbar waren, sowie mit denjenigen, die sie als „Gelegenheits-Antisemiten“ bezeichnet. „Was die Ressentiment-Getrieben und die (etwas weniger forsch interagierenden) Gelegenheits-Antisemiten angeht, die ich im Folgenden als ‚Ressentimentgeleitete‘ zusammenfasse, so war es wenig überraschend, dass sie sich als sachlich-leidenschaftslose ‚Kritiker‘ der Juden oder als ‚Israelkritiker‘ verstanden wissen wollten, obwohl ihr Argumentations- und Interaktionsverhalten anderes offenbarte.“ Gefährlich sind diese „Ressentiment-Getriebenen“, weil es ihnen leichter fällt, „Ambivalente“ von ihrem Welterklärungsmodell zu überzeugen, als ihren Gegner*innen. Dies liegt – so Julijana Ranc – „vor allem an den Schnittmengen zwischen Ressentimentgeleiteten und Ambivalenten“, ein Ergebnis, das auch den Ergebnissen der Bielefelder Mitte-Studien beziehungsweise der Leipziger Autoritarismus-Studien entspricht.

Latent antisemitisch – Ergebnisse der Leipziger „Autoritarismusstudie“

Die Nebenrolle, die Antisemitismus im 16. Kinder- und Jugendbericht spielt, verwundert. In der im November 2020 veröffentlichten und von Oliver Decker und Elmar Brähler herausgegebenen „Autoritarismusstudie“ (Autoritäre Dynamiken – Alte Ressentiments – neue Radikalität, Gießen, Psychosozial-Verlag, 2020), die jetzt zum zweiten Mal unter dieser Bezeichnung und nicht mehr als „Mitte-Studie“ erscheint, sieht dies anders aus. Dort wird bereits in der Einleitung von den Herausgebern darauf verwiesen, dass es „immer neue Ausdrucksmöglichkeiten“ von beispielsweise „Antisemitismus“ und „Muslimfeindlichkeit“ gebe, sodass eine „breite Solidarisierung und Allianzen“ erforderlich seien. Damit nähern sich die Autor*innen der Studie einem intersektionalen Ansatz, der die Besonderheiten der jeweiligen Ausprägungen der – ich benutze den Begriff hier heuristisch – „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ benennt, aber gleichzeitig darauf verweist, dass die betroffenen Gruppen die Gemeinsamkeit erlittener Abwertung und Diskriminierung nicht zur Selbst-Isolation, sondern zur Bildung von Allianzen für die Demokratie nutzen sollten und könnten.

Die Studie enthält ein eigenes Kapitel zum Antisemitismus, sie stellt fest: „Um den Antisemitismus gruppieren sich demnach auch andere anti-emanzipatorische Einstellungen“, aus deren Verknüpfung sich „Verschwörungsmentalität“ ergebe. Antisemitismus beschreiben die Autor*innen ausgehend von Fritz Stern und Shulamit Volkov als „Kernproblematik“, die paradigmatisch oder – in den Worten von Shulamit Volkov – als „kultureller Code“ verstanden werden müsse. Der Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle sei auch nicht das „Alarmzeichen“ gewesen, als das er in den verschiedenen Reaktionen von Politik und Medien bezeichnet worden ist, sondern „der Ernstfall“, der „seit nunmehr 30 Jahren anhält“. Problematisch in diesem Zusammenhang ist allerdings der Begriff der „Mitte“, den die Studie als Gegenbild zum „Volksbegriff“ verwendet. „Mitte und Mäßigung“ stünden gegen „Ressentiment“. Es geht um den völkischen Kern des Antisemitismus, der ihn so gefährlich macht, weil die Begriffe „Volk“ und „Mitte“ oft als Synonyme verwendet werden. Eben dies macht die „autoritäre Dynamik“ aus, die der Titel der Studie benennt.

In ihren statistischen Passagen unterscheidet die Studie zwischen „latenten“ und „manifesten“ Einstellungen. Beispielsweise äußern 10,2 % der Befragten „manifest“, dass der „jüdische Einfluss zu groß“ wäre, 24,6 % jedoch „latent“. Ich habe in meinen Texten mehrfach von dem „schleichenden Gift“ antidemokratischer Einstellungen geschrieben. Die „latenten“ Einstellungen entsprechen in etwa denen der „Ambivalenten“ aus der Studie von Julijana Ranc. Im Gesamtbild ergibt sich jeweils ein grobes Verhältnis von einem Drittel mit „manifesten“ und zwei Dritteln mit „latenten“ Einstellungen. Die Studie differenziert auch west- und ostdeutsche Zustimmungsraten. Ich nenne einige Beispiele: die Zustimmung zu einem „Germany First“ liegt in der Summe zwischen 50 und 60 %, der Glaube an „Überfremdung“ bei 50 – 65 %, bei dem Glauben an eine Überlegenheit der Deutschen gegenüber anderen Nationen bei 23 %, allerdings bei 45 % im Osten. Einer Unterscheidung von „wertem und unwertem Leben“ (sic!) stimmen in Gesamtdeutschland 19 %, in Ostdeutschland 25 % zu.

Die Daten der Autoritarismusstudie ergeben noch kein weit verbreitetes „geschlossenes rechtsextremes Weltbild“. Ein solches sieht die Studie bei 3 % der Befragten in Westdeutschland, bei 9,5 % in Ostdeutschland. Die Vergleichszahlen von 2012 lagen höher, bei 7,2 % beziehungsweise 15,8 %. Die Studie stellt ferner fest, dass der „Effekt von Bildung womöglich überschätzt“ wird, dass es bei Gewerkschaftsmitgliedern keinen nennenswerten Unterschied zur Gesamtbevölkerung gibt. Die Zustimmungsraten bei negativen Aussagen über Sinti und Roma beziehungsweise über Muslime – hier gibt es Verschiebungen, Sinti und Roma werden etwas weniger abgelehnt als in früheren Studien, während Muslime etwas mehr abgelehnt werden – liegen jeweils knapp unter beziehungsweise knapp über 50 %. Das Problem liegt letztlich nicht bei der Verbreitung eines geschlossenen rechtsextremen Weltbildes, sondern bei der Anschlussfähigkeit der einzelnen Aussagen, dem vorhandenen „Resonanzboden“ und der ansteigenden „Polarisierung“ in der Gesellschaft, deren Bedrohung für die Demokratie nicht unterschätzt werden darf.

Intersektional verknüpft: Antisemitismus, Rassismus und Sexismus

Kathrin Ganz und Jette Hausotter stellen in ihrem Buch „Intersektionale Sozialforschung“ (Bielefeld, transcript, 2020) die Frage, wer von Exklusion, Rassismus, Klassismus profitiert. Es geht um „Verbindung von Vorurteilen und Macht“. Dies gilt ebenso für den Antisemitismus. Im achten Kapitel der Autoritarismusstudie 2020, das sich mit Antifeminismus und Sexismus befasst, schreiben die Autor*innen: „Antifeminismus kann nicht ohne seine Verschränkungen mit Antisemitismus und Rassismus verstanden werden.“ In einer solchen intersektionalen Verknüpfung entsteht die Sehnsucht nach der alles lösenden Weltformel, der großen Erzählung, der alles umfassenden Erklärung, wie sie esoterische Theorien bieten: „Esoterik und Aberglaube lassen sich daher auch als Suche nach etwas anderem verstehen, das die Lücke füllt, die unsere auf Marktrationalität reduzierte Gesellschaft hinterlässt, die Suche nach Sinn und Wahrheit.“

Stefanie Schüler-Springorum schreibt in ihrem Beitrag zu dem von ihr mit Jan Süselbeck herausgegebenen Band zur Bedeutung und Wirkung von Emotionen im Antisemitismus über „Geschlecht und Gewalt“. Sie sieht intersektional wirkende Verknüpfungen bereits vor über 100 Jahren: „Um 1900, so lässt sich festhalten, waren Antisemitismus und Misogynie eng miteinander verzahnte Ausdrucksformen der antimodernen Vision einer nach außen klar begrenzten und nach innen hierarchisch strukturierten Klassengesellschaft, denn wenngleich es in den Texten zunächst um innerbürgerliche Differenzierung ging, lief das Proletariat stets Gefahr, der Seite der Devianz zugeschlagen zu werden. Dabei standen die polaren Konstrukte von Männlichkeit und Weiblichkeit eben nicht neben antisemitischen Vorstellungen, sondern sind vielmehr engmaschig mit ihnen verwoben; antisemitische Körperbilder sind demnach nicht lediglich als Ausdruck einer bestimmten Ideologe zu verstehen, sondern als inhärenter Teil ihrer selbst, als Teil ihrer Herstellung – in Theorie und Praxis.“

Augenfällig wird diese Verzahnung bei der Verfolgung von Menschen, die sich ihre Liebes- und Sexualpartner*innen in einer anderen Gruppe suchen, beispielsweise weiße Menschen, die sich in Schwarze Menschen verlieben, und umgekehrt: 1967 hieß das in Stanley Kramer‘s Film: „Rat mal, wer zum Essen kommt“ („Guess Who’s Coming to Dinner“), 2017 bei Jordan Peele „Get out“. Was 1967 komödiantisch daherkommt, wandelt sich 2017 in eine subtile Form der Versklavung Schwarzer Menschen, die auf ihre Körper reduziert werden, die weißen Menschen das Überleben sichern sollen. Das Thema einer überlegen und kraftvoll gelesenen Körperlichkeit Schwarzer Menschen belegt ebenso wie das Thema feminin gelesener Körperlichkeit jüdischer Menschen die Verknüpfung antisemitischer, rassistischer und sexistischer Exklusion. Stefanie Schüler-Springorum will „eine Richtung des Nachdenkens vorschlagen, die zum einen Antisemitismus, Emotion und Geschlecht zusammenliest und gleichzeitig die Dynamisierung dieses Verhältnisses durch die Verschränkungen zu anderen Ressentimentformen wie Homophobie, Antibolschewismus und Rassismus aufzeigt.“

Der Antisemitismus der Nationalsozialist*innen enthielt all diese „Ressentimentformen“. Jede*r konnte sich sozusagen etwas aussuchen, denn zumindest eine der Erscheinungsformen des Antisemitismus verachtete und hasste jede*r Einzelne. Mit der Zeit wurde dies dann zu einem Gesamtbild der Anderen, die kollektiven Hass verdienten. Dies bewirkten NSDAP und SA, indem sie alle zu Mitwirkenden machten. Immer dann, wenn jüdische Geschäfte geplündert, Synagogen angezündet wurden, war die gängige Begründung: „Volkszorn“. Sexualisierter Hass eignete sich dabei in besonderem Maße. Am Beispiel der „Pranger-Rituale“, mit denen Paare durch die Straßen geführt wurden, die sich der sogenannten „Rassenschande“ schuldig gemacht hatten, schufen NSDAP und SA „Konformitätsdruck auf die Zuschauer. Auf jeden Fall, dies lässt sich konstatieren, sahen diese nicht weg, sie blieben nicht zu Hause, sondern waren durch ihre schiere Präsenz Teil der öffentlichen Inszenierung.“

Offenbar lässt sich die sexistische, sexuell konnotierte Seite des Antisemitismus und des Rassismus sogar so leicht popularisieren, dass – wie Stefanie Schüler-Springorum berichtet – selbst die Gestapo an manchen Anzeigen aus der Bevölkerung zweifelte. „Dennoch wurden zwischen 1935 und 1943 2.211 Männer wegen ‚Rassenschande‘ verurteilt.“ Die Diskreditierung von jungen deutschen Frauen, die sich nach 1945 in einen amerikanischen GI verliebten, als „Ami-Liebchen“ folgte demselben Muster. Die damalige nordrhein-westfälische Kultusministerin Christine Teusch (CDU) sah sich veranlasst, in einem Erlass die Schulen anzuweisen, „N****kinder“ nicht zu verunglimpfen, sondern wie die weißen Kinder zu behandeln.

Die Struktur der Beschuldigung zugewanderter Männer aus dem Mittleren und Nahen Osten als „Vergewaltiger“ und „Messermänner“ durch Angehörige rechtsextremer Parteien in Deutschland und anderswo entspricht diesem Denkmuster der nationalsozialistisch angeprangerten „Rassenschande“, auch bei der Begründung des Sklaverei in den USA und anderswo war es nicht anders: „Am Beispiel der Sklaverei hat Abdul JanMohamed darauf hingewiesen, dass Sex über ‚Rassengrenzen’ hinweg immer auch die Anerkennung der Menschlichkeit, des Mensch-Seins des anderen impliziert, und dass es im Rassismus – und einmal mehr im Antisemitismus, wäre hinzuzufügen – letztlich genau darum ging: um die Negation, um die Aberkennung dieses Menschseins.“

Der qualitative Sprung und die Dialektik der Aufklärung

Die entscheidende Frage ist meines Erachtens die Frage, ob es bei einer entsprechenden Quantität und Häufung antisemitischer „Ressentiments“ zu einem qualitativen Sprung kommen könnte, der antidemokratische Einstellungen – auch bei Wahlen – mehrheitsfähig macht. Dies könnte der Fall sein, wenn Mehrheiten davon überzeugt sind, dass die tatkräftige und gewalttätige Exklusion bestimmter Gruppen dem Wohlergehen der Mehrheitsgesellschaft mehr nützt als schadet. Motor einer solchen Verschiebung wäre – so die Leipziger Autoritarismusstudie – ein steigendes Gefühl für ein „Missverhältnis zwischen dem eigenen Begehren – der inneren Welt – und seiner gesellschaftlichen Zurichtung – der äußeren Welt“. Auf eine solche mögliche Verschiebung deutet die hohe Zustimmung zu ethnozentrischen Aussagen hin, aber auch, dass die Befürwortung rechtsautoritärer Diktaturen die höchsten Werte bei 14-30jährigen Ostdeutschen hat, die – so könnte man*frau sie nennen – als die vierte Generation der DDR bezeichnet werden könnten, die die DDR selbst nicht mehr erlebt haben. „Mehr als die Hälfte der Bundesdeutschen offenbart autoritäre Aggressionen, gut jede bzw. Jeder Fünfte seht sich nach einer starken Autorität, die Sicherheit und Stabilität bietet.“ Im Anschluss an Uffa Jensen sprechen die Herausgeber der Leipziger Autoritarismusstudie von „Zornpolitik“ (Uffa Jensen, Zornpolitik, Berlin, Suhrkamp, 2017).

Theodor W. Adorno und Max Horkheimer verweisen in dem Kapitel „Elemente des Antisemitismus“ ihrer „Dialektik der Aufklärung“ auf die Austauschbarkeit der Erscheinungsformen der mit „Zorn“ und „Hass“ bedachten Menschen. Es ist ihre Schutzlosigkeit, die den gesellschaftlichen Konsens zur Gewalt ermöglicht. Die Machtlosen werden die geeigneten Opfer. Ihnen wird Geschäftsfähigkeit abgesprochen, sie werden aus mit Macht konnotierten gesellschaftlichen Positionen, aus Ministerien und Universitäten entfernt, werden auf offener Straße angepöbelt und dürfen sich schließlich nicht einmal mehr auf Parkbänke setzen, müssen ihre Haustiere abgeben. „Die Wut entlädt sich auf den der, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Juden, Protestanten, Katholiken, kann jedes von ihnen anstelle der Mörder treten, in derselben blinden Lust des Totschlags, sobald es als die Norm sich mächtig fühlt.“

All das, was in einer bürgerlichen Gesellschaft zählte, zählt nicht mehr. Es bleibt ein einziges Merkmal der Identität: „Jude“. Und der „Jude“ hat offenbar etwas, das man*frau selbst nicht hat. Also muss man*frau es ihm wegnehmen, auch wenn man*frau es selbst niemals bekommen wird. „Das Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, steht als Zeichen eingeborener Ohnmacht, das gute Leben als Zeichen von Glück. Dazu gesellt sich das Bild des Intellektuellen; er scheint zu denken, was die anderen sich nicht gönnen, und vergießt nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft. Der Bankier wie der Intellektuelle, Geld und Geist, die Exponenten der Zirkulation, sind das verleugnete Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten, dessen die Herrschaft sich zu ihrer eigenen Verewigung bedient.“ Dies ist das Ressentiment der Ohnmächtigen, die jemanden drangsalieren dürfen, der noch ohnmächtiger gemacht werden kann als sie es jemals waren und auch weiterhin sein werden. Der Hass auf Juden*Jüdinnen funktioniert als Kompensation. Es reicht das Gefühl der Überlegenheit, und je gewalttätiger es ausgelebt wird, umso stärker wird dieses Gefühl. Mit der Gewalttat rechtfertigt es sich selbst.

Zurück zur Leipziger Autoritarismusstudie: „Um die Kategorie Nation zu etablieren, wird aber ein Gegenbegriff benötigt, eine ‚nicht-nationale Nation‘. Wenn Juden und Jüdinnen die Infragestellung der Ordnung der Welt personifizieren, wird ihre Bekämpfung zum probaten Mittel gegen die eigene Unsicherheit.“ 30 % der Befragten – so die Studie – äußern eine „manifeste“ Zustimmung zur Gleichsetzung israelischer Besatzungspolitik mit dem Nationalsozialismus, fast 40 % „latent“. Die „israelischen Versprechen“ liegen für 11.9 % manifest, für 34,2 % latent „am schwersten“. Der traditionelle „Schuldabwehrantisemitismus“ und „israelbezogener Antisemitismus“ lassen sich in Ostdeutschland nicht voneinander trennen. Insgesamt hat „Schulabwehrantisemitismus“ vergleichbare Werte wie im Jahr 2012. All diese Ergebnisse bestätigen die zitierte Wechselwirkung des Gefühls der eigenen Bedrohtheit und dem Wunsch, jemanden dafür verantwortlich machen und aus der Gesellschaft ausschließen zu können. Dies ist der Kern des Antisemitismus als „kultureller Code für eine umfassende Weltanschauung“ (Shulamit Volkov).

Antisemitismus lässt sich nicht durch wirtschaftliche und soziale Programme, durch Bildungsprogramme, wirksam bekämpfen, weil die Ursache tiefer liegt: wer eine ernsthafte Analyse antisemitischer Einstellungen anstrebt, muss sich mit den Mustern und Clustern beschäftigen, in denen Antisemitismus als „das Virus das mutiert“ (Theodor W. Adorno) auftritt. Wirtschaftliche, soziale und andere Varianten des Gefühls von Depravation oder Benachteiligung sind nur die Oberfläche, auf der die tiefer liegenden autoritären Anwandlungen erscheinen und Antisemitismus als Rechtfertigungsideologie wirkt. Der Stolz auf das „Wirtschaftswunder“ hatte nach 1945 die „rassistische Überlegenheitsideologie“ der NS-Zeit abgelöst: „Seitdem treten autoritäre Reaktionen immer besonders bei denen auf, die das idealisierte Objekt einer starken nationalen Wirtschaft bedroht fühlen“ (formuliert im Anschluss an eine frühere Studie von Oliver Decker aus dem Jahr 2015).

Samuel Salzborn weist in „Emotionen und Antisemitismus“ im Anschluss an Horkheimer und Adorno darauf hin: „Bemerkenswert an diesen Ausführungen ist zweierlei. Erstens die Betonung, dass der Antisemitismus nicht den ökonomischen Nutzen im Blick habe, sondern dass es vielmehr um psychische, also emotionale und affektive Dispositionen gehe, wobei der Antisemitismus nur vordergründig intentionslos sei: Die Intention bilde allerdings der (unbewusste) Affekt, der entladen werden solle – womit Horkheimer und Adorno den entscheidenden theoretischen Schritt über Sartre hinausgehen, der noch einem rational-ökonomischen Interessenbegriff befangen blieb und nicht sah, dass das menschliche Interesse auch triebbedingt, als unbewusst, dominiert sein kann, wie es beim Antisemitismus der Fall ist.“ Amalek hat eben viele Gesichter, er schafft sich den „Juden“ nach seinem Bilde und lebt sein „Ressentiment“ – ganz im Sinne von Hermann Bahr – aus: als „Rausch“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im April 2021, alle Internetlinks wurden am 15. September 2022 auf Ihre Richtigkeit überprüft.)