Coronismus
Carl Schmitt, die Körperfresser und die Skipisten
„Das Virus könnte immer und überall sein, und wir müssen immer damit rechnen, uns schon angesteckt zu haben. Die Community-Masken, wie sie sinnigerweise heißen, tragen wir zum Zeichen, dass wir das wissen. Deshalb macht es nichts, dass wir außerdem wissen, wie wenig sie vor akuter Ansteckung schützen. Symbolisch wirkt die Maske ambivalent. Sie schirmt uns ab und zugleich bindet sie uns an eine neuerdings spürbare, etwas unheimliche Gemeinschaft: Nie war einem so bewusst wie jetzt im eigenen feuchtwarmen Dunst hinter der Maske, dass man eigentlich immer schon in der Atemluft der anderen gelebt hat. (Marie Schmidt, Alice hinter den Masken, Süddeutsche Zeitung, 12. Mai 2020)
Es ist schwierig, sich dem Thema zu nähern. Was ist die geeignete Textform: der wissenschaftliche Aufsatz, der feuilletonistische Essay, das politische Statement, die Satire? Vielleicht von allem ein bisschen, ohne dass es gleich sarkastisch werden muss. Auch ein Hauch von Science-Fiction könnte nicht schaden. Vielleicht erleben wir im Frühjahr 2020 ein Lehrstück, über das wir in zehn Jahren historische Abhandlungen schreiben, die in der Ausbildung von Studierenden der Politikwissenschaften eine wichtige Rolle spielen. Aber vielleicht ist auch manches, was sich abzeichnet, schon übermorgen nicht mehr rückholbar. Dramatisch ist vor allem die Lage von Frauen, Kindern und älteren Menschen.
„Systemrelevant“
Wenn das Wort oder Unwort des Jahres 2020 verkündet wird, hat ein Wort in beiden Kategorien gute Chancen: „Systemrelevant“. Systemrelevant waren im Frühjahr 2020 nicht die von neoliberaler Seite so gerne zitierten „Leistungsträger“, sprich diejenigen, die es verstanden, mit möglichst hohen Sonderzahlungen, „Boni“, ihr eigenes Geld zu vermehren und keine Steuern zu zahlen, sondern diejenigen, die nicht über die für ein auskömmliches und sorgenfreies Leben erforderlichen Finanzressourcen verfügten, die Kassiererinnen im Supermarkt, die Pflegerinnen in der Altenpflege, die Erzieherinnen in Kindertageseinrichtungen und Ganztagsschulen, die Krankenschwestern in den Krankenhäusern.
Es waren in erster Linie Frauenberufe, die für „systemrelevant“ erklärt wurden. Die Frauen erhielten Beifall von vielen Balkonen. Ihr Arbeitsplatz wurde zum Theater, die Balkone zur exklusiven Loge und der Applaus war das „Brot des Künstlers“. Die „systemrelevanten“ Frauen wurden gelobt, erhielten Versprechen von „Boni“ im drei- oder niedrigen vierstelligen Bereich, nicht mehr und nicht weniger. Ihr Risiko bei der Arbeit wurde mit Plexiglasscheiben, Mund-Nasen-Schutz, vulgo Masken, oder auch mit Schutzkleidung gemindert. Sehr viel zu kaufen gab und gibt es für diesen Applaus nicht, denn von einer dauerhaft der „Systemrelevanz“ angemessenen Bezahlung war und ist nicht die Rede.
Systemrelevant in einem ganz anderen Sinne wurde eine gewisse Inkohärenz politischer Ankündigungen. Dies hängt sicherlich auch damit zusammen, dass Politik es gerne immer eindeutig hätte, während Wissenschaft eine solche Eindeutigkeit nicht garantieren kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind immer vorläufig, was selbst Ministerpräsident*innen nicht unbedingt verstehen. Es ist aber nun einmal das Wesen der Politik, dass sie oft mit Plausibilität argumentieren und dabei auch einige Risiken wagen muss.
Risiken widersprechen jedoch dem von Politiker*innen in der Regel angenommenen Sicherheitsbedürfnis der Bürger*innen, ihrer Wähler*innen. Und es gibt kaum Bereiche, in denen dieses Bedürfnis von Politiker*innen ernster genommen wird als bei Kriminalitätsbekämpfung und Gesundheitsvorsorge. Andere Politikbereiche landen erst einmal auf den hinteren Rängen. Die Bundesregierung hat es beispielsweise bisher nicht geschafft, Berufe der Kinder- und Jugendhilfe im Infektionsschutzgesetz für „systemrelevant“ zu erklären.
„Ein Triumph an Führung“
Je näher uns drohendes Unheil auf den Leib rückt – durchaus wörtlich zu nehmen – umso größer das Bedürfnis nach Sicherheit und Eindeutigkeit. Politiker*innen riskieren jedoch ihre Wiederwahl, wenn sie allzu oft ihre Meinung ändern. Genau dies geschah. Galten Schutzmasken in Deutschland zunächst als unangebracht und wirkungslos, wird dann doch eine Maskenpflicht eingeführt. Ebenso widersprüchlich ist die in einigen Bundesländern bestehende Regelung, dass Kinder in den Kindertageseinrichtungen Kinder anderer Gruppen gar nicht oder nur durch Glasscheiben sehen dürfen, sich aber am Nachmittag mit ihnen auf den Spielplätzen treffen dürfen.
Bei der Debatte um die sogenannten „Lockerungen“ entstand erst einmal Verwirrung, zumal diese „Lockerungen“ in allen Staaten und für alle Regionen mehr oder weniger gleichzeitig erlassen und diskutiert werden, für die eine Region oder Personengruppe gelten sollen, für die anderen aber nicht, zum Teil auch unabhängig davon, ob die Infektionsraten steigen oder sinken. Wer blickt da noch durch?
Marlene Steeruwitz, Autorin des ersten COVID-19-Serienromans, vergleicht aus ihren österreichischen Erfahrungen die derzeitig diskutierten Maßnahmen mit früheren Maßnahmen, die gegen die zur „Invasion“ erklärte Ein- und Zuwanderung ungeliebter Gäste erlassen wurden: „Der Kanzler Kurz hatte bei der Verkündigung der Maskenpflicht so zur Seite geschaut, dass Betty dachte, er müsse ein Grinsen verbergen. Es musste total befriedigend sein, einer Nation das Tragen von Masken zu verbieten, 200 Euro für das Tragen einer Niqab zu kassieren, Vermummungsverbote zu erlassen und dann alle in die Vermummung zu zwingen. Das war ein Triumph an Führung.“
Es gab Zeiten, in denen es bei Demonstrationen verboten war, das Gesicht zu bedecken. Heute gilt die mediale Kritik den Demonstrant*innen, die dies nicht tun. Ob Niqab, Burka, Motoradhelme und Sturmhauben als Erfüllung der Maskenpflicht anerkannt werden, wäre interessant zu diskutieren.
Nehmen Sie’s sportlich
Es wäre sicherlich denkbar, sich – wie in einer Demokratie eigentlich üblich – einfach offen und öffentlich zu streiten. Das machen Politiker*innen jedoch weniger gerne als ihnen im Allgemeinen unterstellt. Sie leiden sogar am demokratischen Streit, denn sie glauben – siehe oben – dass ihre Wähler*innen entschiedene Eindeutigkeit verlangen.
Andererseits zeigen die vielen Sportmetaphern in politischen Reden, dass es denkbar wäre, die gesamte politische Debatte zum sportlichen Wettbewerb zu erklären. In der Sportart „Kampf gegen Corona“ wurden eben zwischen erster und zweiter Phase die Regeln geändert. Aber vielleicht ist es sogar eine andere Sportart. Dann wäre erklärbar, dass die plötzliche Wende zur ab dem 27. April 2020 auch in Deutschland geltenden „Maskenpflicht“ daher rührt, dass der Wettbewerb der ersten Corona-Wochen um die härtesten „Maßnahmen“ sich mit der Zeit in einen zweiten Wettbewerb um die schnellsten und besten „Lockerungen“ verwandelte und angesichts der angestrebten Wiedereröffnungen von Baumärkten, Freizeitparks und Shoppingmalls etwas gebraucht wurde, das zumindest ein Gefühl von Sicherheit gäbe. Ähnlich ist es mit dem Fiebermessen bei der Einreise, das ein Anzeichen für eine Corona-Infektion sein kann, aber nicht muss. Corona geht auch ohne Fieber. Es gibt auch andere Anzeichen, die vielleicht einer Untersuchung wert wären.
Der deutsche Chef-Propagandist der ersten Phase war Markus Söder. Marlene Steeruwitz kurz und bündig über Sebastian Kurz: „Ihr Kanzler machte gerade das, was die Madame Mao sich gewünscht hätte. Jede Person in ihrer eigenen Wabe, und der Staat ein Bienenstaat.“
Sebastian Kurz war vielleicht Vorbild für Markus Söder, den neuen Superstar der politischen Welt in Deutschland. Ich persönlich hätte zwar den Stephan Zinner, sein Double vom Nockherberg, als bayerischen Ministerpräsidenten vorgezogen, aber Markus Söder hat das, was professionelle Politiker*innen auszeichnet: ein sportliches Gespür für Stimmungen. Ob dieses Gespür in der Phase der „Lockerungen“ anhalten wird, bleibt abzuwarten, denn nach der einmütigen Repression folgt die gar nicht mehr einmütige Demokratie.
Sebastian Kurz verfolgte eine restriktive Politik, inszenierte sie aber – so Josef Hader am 8. Mai 2020 – wie ein Skirennen, in dem „vier Österreicher auf den ersten drei Plätzen sind“, hatte aber gleichzeitig mit Horrorszenarien die Österreicher*innen „wie ungezogene Kinder behandelt, oder vielmehr, wie man ungezogene Kinder heute nicht mehr behandeln sollte.“ So ließen sich dann die Eindeutigkeit der „Maßnahmen“ der ersten Phase mit den „Lockerungen“ der zweiten Phase argumentativ verbinden. Im deutschen Skirennen war dann ein Rheinländer der Kombattant eines Franken. Ausgewiesene Skigebiete sind Aachen und Nürnberg nicht.
Körperfresser
Ist die Welt uneindeutig, entstehen Ängste. Und diese Ängste regieren umso heftiger, wenn sich Menschen unmittelbar körperlich, in ihrer Identität und Integrität, bedroht und fühlen, vornehmlich durch Kriminalität und Krankheit. Das Wort „unmittelbar“ ist wichtig, denn in den diversen Bedrohungsszenarien solcher Zeiten voller Angst entstehen Hierarchien der Bedrohung. Eine unheilbare Krankheit bedroht eben „unmittelbar“, während der Klimawandel erst in den Vorstellungshorizont und die Lebensspanne vieler Menschen übersteigenden Zeiträumen droht. Das Virus ist im wörtlichen Sinne „invasiv“, keine Metapher. Es dringt in den Menschen ein. Es tut all das, was 2015 manche Politiker*innen angesichts der aus dem Nahen Osten flüchtenden Menschen befürchteten. Nicht ohne Grund war eine der ersten repressiven Maßnahmen die Schließung der Grenzen. Das Virus hat allerdings einen Nachteil: niemand kann es abschieben. Wenn es eindringt, bleibt es da, es taucht ein und unter. Es ist unsichtbar.
Es ist natürlich möglich, auch in der Ferne liegende Bedrohungen in eine unmittelbare körperliche Bedrohung zu übersetzen. Diese Disziplin pflegen vorwiegend Esoteriker*innen, die sich vom Elektrosmog der Sendemasten oder vom Infraschall der Windräder bedroht fühlen und sich auch von keiner Wissenschaft überzeugen lassen, dass ihre Befürchtungen keine naturwissenschaftlich nachweisbare Grundlage haben. Sie befinden sich in einem permanenten Ausnahmezustand und haben daher nie Probleme damit, eine eindeutige Erklärung für die ihnen drohende Gefahr zu finden. Manche von ihnen finden dann auch noch jemand, der die Bedrohung bewusst geschaffen hat. Sie werden dann zu Verschwörungstheoretiker*innen, auch praktisch und behaupten dann, im Internet wäre doch ganz anderes zu lesen als was sie in der Tagesschau sähen. Im Glauben fest – darauf lässt sich bauen.
Jürgen Habermas schrieb 1985 in einem Essay für die Zeitschrift MERKUR über „Die Neue Unübersichtlichkeit“ (das Wort „Neue“ tatsächlich beginnend mit Großbuchstaben!): „Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert. Die Zukunft ist negativ besetzt; an der Schwelle zum 21. Jahrhundert zeichnet sich das Schreckenspanorama der weltweiten Gefährdung allgemeiner Lebensinteressen ab: die Spirale des Wettrüstens, die unkontrollierte Verbreitung von Kernwaffen, die strukturelle Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeitslosigkeit und wachsende soziale Ungleichgewichte in den entwickelten Ländern, Probleme der Umweltbelastung, katastrophennah operierende Großtechnologien geben die Stichworte, die über Massenmedien ins öffentliche Bewusstsein eingedrungen sind. Die Antworten der Intellektuellen spiegeln nicht weniger als die der Politiker Ratlosigkeit.“
Dieses Weltuntergangsszenario ließe sich für das Jahr 2020 leicht ergänzen. Klima- und Artenschutz, Energiewende, Antisemitismus und Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, vor allem in jetzt für „systemrelevant“ erklärten Berufen, und dann Corona – das sind nur einige der aktuell relevanten Ergänzungen. Ob in diesen Gefahren auch frei nach Hölderlin etwas Rettendes wächst, wissen wir nicht. Jürgen Habermas vertritt eine Art Prinzip Hoffnung und fährt in dem zitierten Text wie folgt fort: „Es ist keineswegs nur Realismus, wenn eine forsch akzeptierte Ratlosigkeit mehr und mehr an die Stelle von zukunftsgerichteten Orientierungsversuchen tritt. Die Lage mag objektiv unübersichtlich sein. Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst.“
Grüße von Carl Schmitt
Jan Heidtmann sprach für die Süddeutsche Zeitung mit Juli Zeh, deren Roman „Corpus Delicti“ aus meiner Sicht zu den Top 5 der Dystopien der vergangenen 100 Jahre gehört. Jan Heidtmann erinnerte die erste Phase der Corona-Pandemie an das von Carl Schmitt vertretene Politikverständnis: „Einige Politiker überbieten sich geradezu in Restriktionen – fast so, als gelte das Motto des Verfassungsrechtlers Carl Schmitt: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.‘“
Juli Zeh führte diesen Gedanken am 5. April 2020 in der Süddeutschen Zeitung aus: „Vor allem die Bestrafungstaktik ist bedenklich. Im Grunde schüchtert man die Bevölkerung ein, in der Hoffnung, sie auf diese Weise zum Einhalten der Notstandsregeln zu bringen. Die Ansage lautet sinngemäß: Wenn ihr nicht tut, was wir von euch verlangen, seid ihr schuld an einer weiteren Ausbreitung des Virus und an vielen Toten in den Risikogruppen! Bei einigen Menschen führt das zu Trotz und Widerstand, bei anderen zu Verängstigung und regressivem Verhalten. Beides vergiftet die gesellschaftliche Stimmung. Aus meiner Sicht stellt es immer eine Form von Politikversagen dar, wenn versucht wird, die Bürger mit Schuldgefühlen unter Druck zu setzen.“
Einschüchterung ist die eine Seite der Medaille, Angst die andere. Juli Zeh: „Wir wissen aus Erfahrung, wie gefährlich Angstmechanismen sind. Deshalb würde ich von verantwortlicher Politik und auch von verantwortlichen Medien verlangen, dass sie niemals Angst zu ihrem Werkzeug machen. Leider passiert seit Jahrzehnten das Gegenteil, nicht erst seit Corona. Anstatt uns hoffnungsfroh Ziele für die Zukunft zu setzen, ist es seit der Jahrtausendwende quasi zur Tradition geworden, ein apokalyptisches Szenario nach dem anderen auszurufen und damit die Aufmerksamkeitsökonomie zu bedienen oder sich machtpolitische Vorteile zu sichern. Jede politische Richtung hat ihr eigenes Untergangsszenario, mit dem sie Werbung macht.“ Wie wir bei Jürgen Habermas nachlesen können, nicht erst seit der Jahrtausendwende.
Welche Ängste wen wirklich umtreiben, ist eine berechtigte Frage. Wieder etwas Satire gefällig? Oder Sarkasmus? Dietmar Bartsch bezeichnete die um die Kanzlerinnennachfolge streitenden Ministerpräsidenten aus Bayern und Nordrhein-Westfalen im Bundestagsplenum als „verhaltensauffällig“ und die Bundeskanzlerin kicherte sichtbar. Dazu passt die Verkehrung der politischen Hierarchien, die der nordrhein-westfälische Ministerpräsident am 10. Mai 2020 formulierte, als er den bisherigen Beitrag der Bundeskanzlerin als „Koordinierung“ bezeichnete, die jetzt nicht mehr nötig wäre. Und die vielen schon 2015 „besorgten Bürger“ (die erstaunlicherweise immer nur in der männlichen Form zitiert werden, vielleicht auch so etwas wie eine konkrete Dystopie) hatten ihr Feindbild zurück: die Bundeskanzlerin.
Der erste COVID-19-Roman – als Serie
Wer es literarisch mag, dem empfehle ich – wie schon angedeutet – Marlene Steeruwitz, die auf ihrer Internetseite einen Fortsetzungsroman schreibt, mit dem Titel „So ist die Welt geworden“. Lohnenswert auch das auf der Internetseite zu sehende Interview mit dem Westdeutschen Rundfunk. Hautperson des Romans ist Betty Andover, eine Schriftstellerin, die ein Corona-Tagebuch schreiben soll. Alles im Leben dreht sich nur noch um das Thema „Hygiene“. ‚„Hygiene.‘ würde Fiorentina sagen. ‚Hygiene ist doch auch beruhigend. Das ist doch ein guter Grund.‘ Noch vor dem Duschen würde sie dann den Küchenboden aufgewaschen haben. Noch im Liegen fühlte Betty die Befriedigung, die das einbringen würde. Sie würde sich richtig gut fühlen dann. Sie musste das erst lernen. Sie hatte nie richtig gelernt, sich über den Haushalt zu freuen. Sie hatte nur kleine Fetischismen entwickelt. Bisher. Schön gestapeltes Bettzeug. Aber das war nie wichtig genug gewesen. Nie Zeit. Die Kinder. Dann die Arbeit wichtiger. Das Leben. Andere Personen. Nur für sich?“
Eine weitere Leseprobe zeigt, wie Hygiene zur wahren Religion werden kann. Nicht umsonst spielen Waschungen in vielen Religionen eine wichtige Rolle, und der Kanzler ist ihr Prophet und Messias zugleich. „Wer sich schmutzig macht und nicht oft genug die Hände wäscht, sündigt, vielleicht der Anfang einer Renaissance einer religiösen Praxis, die abweichendes Verhalten mit Höllenstrafen bedroht: Sie sah sich vor dem Kindergarten. In der Mariengasse. Die riesige Sandkiste und die Aushilfskindergärtnerin, die sie aus der Sandkiste holte, weil sie sich schmutzig gemacht hatte. Ja, sagte sie zu sich. Das ist schon die richtige Assoziation. Insgesamt war das die richtige Assoziation. Heute. Sie war zur schmutzigen Person erklärt worden, weil man nicht messen konnte, ob sie infektiös, immunisiert oder gar nicht berührt von diesem Virus war. Das war wie die Situation vor der Ersten Heiligen Kommunion. War sie sündig, unschuldig oder irgendwie dazwischen von der Sünde nur angekränkelt. Damals. Sie war von einer Hilfskraft gerügt worden. Die Klosterschwestern hatten das Abführen in den Waschraum an die Hilfskraft abgegeben. Jetzt. Der Kanzler handelte ja auch als Hilfskraft eines Metaphysischen, das die katholische Kirche nicht mehr durchsetzen konnte. Und war nun zu erwarten, dass es wie damals in einer ersten Beichte zur Klärung kommen würde. Ob sie sündig war. Oder rein. Es war immer um Schmutz gegangen. Beschmutzungen. Sich beschmutzen.“
Das Rettende, auch das
Da müssen wir nun alle durch, frei nach Biggi Wanninger und der Kölner Band Köbes Underground: „Der Coronismus, der hätt ene Rhythmus, einer fängt ze schunkele aan datt jeder mit muss.“
Aber es könnte ja noch viel schlimmer kommen, wie Science-Fiction-Fans wissen. Aus dem Missy Magazine erfahren wir, dass uns das Allerschlimmste erspart bleiben wird. Die Borg werden im Jahr 2063 die Erde nicht bedrohen, sie werden die Invasion wegen Corona absagen. Vielleicht werden William Riker und Jordi La Forge das bedauern. Sie dürfen dann nicht mit Zephram Cochrane den ersten Warp-Flug erleben, aber da die Borg absagten, erfahren sie auch nie, was sie verpasst haben. Andererseits: wer weiß, die Corona-App und dann all die Leute, die schon ihr „communication device“ ständig im Ohr tragen – vielleicht ist das schon mal ein Schritt zur Kybernetisierung des Menschen? „Resistance is futile.“
Norbert Reichel, Bonn
(Anmerkungen: Erstveröffentlichung im Mai 2020, alle Zugriffe auf Internetadressen wurden am 18. September 2022 auf Richtigkeit überprüft.).