Das Virus

Prolegomena für einen dystopischen Roman

„Ich lebe nicht. Zumindest sagen das die Expert*innen, die versuchen, meine Logik zu verstehen. Virolog*innen nennen sie sich. Ich lebe. Denn ich wirke. Ich wirke, also bin ich. So sollten sie es vielleicht formulieren. Der letzte Mensch, der mich freundlicherweise beherbergte, war ein Philosoph.

Er schickte mich nach zehn Tagen, die ich ihm lauschen durfte, zu einer jungen Frau, die ihn besucht hatte. Er sprach oft von Mythen der Völker, in denen unsichtbare Wesen die Geschicke der Menschheit lenkten. Offenbar war ich selbst ein solches unsichtbares Wesen. Und ich war nicht allein. Ich konnte mich vermehren. Ich hatte viele Gleichartige. Ich kannte niemanden meiner Gleichartigen. Wir kommunizierten nicht miteinander. Aber ich wirkte, so wie alle anderen auch. Ich war, ich bin, ich werde sein. Das ist mein Wir.

Ich schwebe.“

Vielleicht könnte ein dystopischer Roman über das Virus mit diesen Sätzen beginnen. Mich erinnert manches, was zurzeit geschieht, an dystopische Romane, Filme oder Serien, in denen eine nahende oder reale Katastrophe die gesamte Menschheit so sehr bedroht, dass es einiger Superheld*innen bedürfte, um wieder zur Normalität zurückzukehren. Ein Virus lässt die gesamte Welt als eine Art virologisches Gotham City erscheinen, das dringend eines Retters, meistens, wie bei der Justice League oder den Avengers, männlichen Geschlechts, nur wenige davon weiblich, vielleicht auch eines Bruce Willis, bedarf.

Für einen dystopischen Roman, Film oder besser wahrscheinlich eine Netflix-Serie könnte ich mir durchaus den Plot einer Gesellschaft vorstellen, in der das, was das öffentliche Leben im Frühjahr 2020 lahmlegt, zu einer ständigen Herausforderung wird oder zumindest, auch nach Herstellung von Impfstoffen und wirkenden Medikamenten, als eine solche dargestellt werden könnte, eine Gesellschaft, die sich selbst aus dem Spiel nahm, in einer Art sozialem Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

Damit die Serie weitergedreht, Buch oder Film ihr Sequel bekommen können, darf das Problem nie völlig aus der Welt geschafft werden. Zuspitzungen der Katastrophe, Cliffhanger, das Scheitern von Sympathieträger*innen, der Rückzug von an einer grundlegenden Lösung interessierten Menschen, die Hartnäckigkeit der Bösen, oft in einer besonders bösen Gestalt personifiziert – all das gehört zum Inventar einer fiktiven „Achse des Bösen“, und natürlich eine strahlende Heldin. Meine Favoritin für diesen Job wäre eine Frau, Buffy, diesmal als Virenjägerin.

Wie könnte ein Science-Fiction-Roman, der vielleicht im Jahr 2280 spielt, nach dem Einstieg mit der Selbstvorstellung des Virus fortgesetzt werden? Mein Vorschlag: Eine Historikerin wertet Daten und Dokumente aus. Ihre Berichte sind der rote Faden des Romans. Natürlich gibt es auch Widerständler*innen, Wissenschaftler*innen und natürlich viele viele Konflikte. Auch Held*innen? Mal sehen.

Die Historikerin

Die Menschen des Landes U. blieben gelassen. Die Nachricht, dass ein neues Virus in einer fern gelegenen Region dieses Planeten auch sie bedrohe, bewegte zunächst nur wenige, und die, die sie bewegte, machen den Eindruck, als wären sie gewöhnt, solche Nachrichten – anders kann man es nicht nennen – zu verarbeiten. Verarbeiten durfte dabei durchaus als Chiffe für Ignorieren verwendet werden.

Doch dann war das Virus auch bei den Menschen in U. zu Hause. Überall konnte es vermutet werden und die Menschen bildeten jeweils ihre eigene Paranoia aus, sodass letztlich schwer unterscheidbar wurde, welche Ängste berechtigt waren und welche nicht. Menschen änderten ihr Verhalten, hielten Abstand zu ihren Mitmenschen, verlegten viele Aktivitäten in ihre Wohnung. Sie bestellten Fitnessgeräte, wenn sie es sich leisten konnten, und schwitzten auf ihren neu erworbenen Hometrainern. Manche ernährten sich nur noch vegan, andere beteten.

Manche erwiesen sich solidarisch mit den Menschen, die sich infiziert hatten. Nur einer verschwand mit der Zeit aus dem Alltag: der Tod. Dort, wo er stattfand, galt strengstes Betretungsverbot. Dort, wo die Verstorbenen, die niemand mehr die Toten nennen wollte, als wäre der Tod nur ein Übergang zu einer neuen Form der Existenz und als gäbe es doch noch eine Hoffnung auf Wiederbelebung, in welcher Welt auch immer, eigentlich ihre letzte Ruhe finden sollten, die eine ewige Ruhe wurde, waren nur wenige Menschen zugegen, die sich an sie erinnern wollten. Alle anderen gingen zur Tagesordnung über.

Der Tod wurde zur Zahl. Selbst die Orte, in die Menschen verbracht wurden, denen keine längere Lebenszeit mehr zugestanden wurde, verschwanden aus dem öffentlichen Bewusstsein. Niemand durfte sie betreten, nicht einmal sich ihnen nähern. Ein Text vom 11. April 2020 – erstaunlich, dass wir das Datum noch kennen – geschrieben von Manfred Rebhandl, einem Schriftsteller, den heute, im Jahr 2280 niemand mehr kennt: „Den Tod haben wir ‚ausgelagert‘, wie das Meiste in unserem Leben: ins Heim, ins Krankenhaus, auf die Intensivstation. Heute interessiert er uns als allabendlich verkündete Zahl in den Nachrichten: ‚Seit gestern 179 neue Tote.‘ Wenn es morgen weniger sind, hoffen viele, können wir endlich wieder so weiterleben wie bisher.“

Der Revolutionär

Revolutionen beginnen mit dem Engagement des einzelnen. Kleine Gruppen, die sich verstecken. Sie sind die Gerechten, die sich in einer Zelle zusammenschließen. Zelle, das ist wörtlich zu nehmen, denn alle Menschen leben in Zellen, nicht in Waben, in realen Zellen, viereckig, quadratisch, bemessen nach Kubikmetern, ohne jede Rundung der Wände, alle mit einem einzigen Fenster ausgestattet, das gleichzeitig als Tür in die Außenwelt diente.

Aus dem Fenster konnten alle, die die Zelle bewohnten, die sich selbst euphemistisch ‚Die Insassen‘ nannten, einen Bildschirm sehen, über den jede Stunde die neuesten Verlautbarungen der Weltregierung zu sehen waren. Es sprach immer der Vorsitzende der Weltregierung, der sich den Titel eines Legaten gegeben hatte. Der Widerstand verfolgte aufmerksam, was er zu sagen hatte.

Die Historikerin

Erstaunlich war die Gelassenheit, mit der „Maßnahmen umgesetzt“ werden konnten, wie die Beamt*innen der Regierung das nannten, was noch wenige Wochen zuvor heftig bekämpft worden wäre. Im Grunde wurde in kürzester Zeit der gesamte Forderungskatalog der öffentlichen Sicherheit verpflichteter Politiker*innen, denen das Wort „Freiheit“ in ihrem Wortschatz nie von besonderer Wichtigkeit gewesen war, Wirklichkeit. Sie verkündeten selbstbewusst und siegesgewiss die Maßnahmen, die sie schon immer in regelmäßigen Abständen als die geeigneten Maßnahmen gegen Extremismus, Terror, ungebremster Zuwanderung oder welchen fiktiven oder realen Bedrohungen auch immer gefordert hatten.

Grenzen wurden geschlossen, Ausgehsperren und Quarantäne verhängt, jede Art von Versammlung verboten oder mit Polizeigewalt aufgelöst, Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Bibliotheken und Buchhandlungen geschlossen, Mobilfunkdaten zur Überwachung der Wege aller Staatsbürger*innen vom zentralen Geheimdienst gespeichert. Alles im Dienste der Sicherheit, die diesmal mit der Parole „Krankheit ist Verbrechen, Gesundheit ist Menschenrecht“ begründet wurde. Sicherheit versprach ein sorgenfreies Leben, das nur möglich werden sollte, wenn alle sich nur genug und vor allem dieselben Sorgen über die Tragweite der aktuellen Bedrohung machten.

Gefordert wurde die „Herde“. Eines der Zauberworte hieß „Herdenimmunität“. Darauf setzten einige Politiker*innen. Sie nahmen zur Kenntnis, dass eine Infektion fast aller Menschen in ihrem Verantwortungsbereich über 25 Jahre dauern dürfte, fanden aber ein anderes Drohpotenzial, um ihre Zurückhaltung zu begründen. Während die einen in ihrem Land besagte Maßnahmen durchsetzten, beließen die anderen in ihrem Land alles wie es war, denn gefährlicher als das Virus war für sie etwas anderes: Massenarbeitslosigkeit. Damit konnten sie sich durchsetzen, auch wenn nach einiger Zeit deutlich wurde, dass sie nicht die Arbeitsplätze von Menschen meinten, sondern ihre eigenen finanziellen Verdienste, ihre „Boni“.

Weder die „Maßnahmen“ noch ein Laisser-Faire wirkten. Statt dessen geschah etwas anderes: Für etwa acht Jahre mussten Schulen und Kindergärten, Hochschulen, Theater, Opernhäuser und viele andere Kultur- und Bildungseinrichtungen geschlossen bleiben, sei es, weil die jeweilige Regierung dies zur Sicherheit ihrer Bürger*innen so verfügte, sei es, weil die dort arbeitenden Menschen in so großer Zahl erkrankten, dass einfach niemand mehr zur Verfügung stand, der Theater, Kultur, Bildung sicherstellen konnte.

Aus dem Tagebuch eines Naturforschers, geschrieben in den 2160er Jahren

Die Landschaft war wüst und leer. Es war heiß, oft über 50 Grad Celsius. Steine, Sand, mal grob gemahlen, mal zu feinem Strand an einer Rinne gelegen, die einem ausgetrockneten Fluss glich. Flechten, Krüppelhölzer, dazwischen die Skelette der Technik, große Bagger, Motorsägen, Räumfahrzeuge, Anlegestellen für Schiffe, die die geschlagenen Hölzer forttransportierten. So sehen post-apokalyptische Landschaften aus. Diesen Satz habe nicht ich geschrieben. Er ist nachzulesen in einem Szenario der Vereinten Nationen aus der zehnten Klimakonferenz im Jahr 2032. Damals glaubte man noch, …. (der Text bricht hier ab, offenbar hatte jemand mehrere Seiten vernichtet)

Die Historikerin

Gut war es, dass es auch in den 2020er Jahren Menschen gab, die einsprangen und dafür Beifall ernteten. Bezahlt wurden sie nicht, aber das „Brot des Künstlers“ war ihnen gewiss. Frauen engagierten sich zu Hause im auf einmal wieder populären Homeschooling, lasen ihren Kindern vor, spielten mit ihnen, kochten und räumten das auf, was Kinder eben nun einmal noch nie gerne aufgeräumt hatten. Sie hatten auch genügend Platz zu Hause, denn ihre Männer waren entweder auf ihren Arbeitsplätzen außer Haus oder konnten sich in einem der Zimmer der Wohnung einschließen, um ihr Homeoffice zu bedienen. Im Jahr 2040 wurde diese Arbeitsteilung in fast allen Verfassungen der damals noch vorhandenen Nationalstaaten aufgenommen.

Frauen wurden in den Medien gefeiert. Allerdings gaben sie ihren Beruf weitgehend auf. Frauen wurden auch nicht mehr außer Haus eingestellt. Ihnen wurde mit sanften Worten und erhobenem Zeigefinger bedeutet, dass sie ihre wahre Aufgabe in der Betreuung von Kindern, von Kranken, von alten Menschen, von Sterbenden fänden. Sie ergaben sich in ihr Schicksal. Muttertag und Internationaler Frauentag wurden zu einem Festtag zusammengelegt, an dem alle Frauen Blumen erhielten. Kinder lernten in den Schulen Gedichte, die sie ihren Müttern vortrugen.

Aus dem Manifest einer Tierschutzorganisation im Jahr 2090

Alle Menschen leben vegan. Dafür haben unsere Vorfahren gekämpft. Im Jahr 2044 wurde weltweit jede tierische Nahrung verboten, im Jahr 2070 auch tierische Produkte. Die ehemaligen Nutztiere wurden ausgewildert. Viele überlebten dies nicht, aber in einigen Regionen des Planeten fanden die Überlebenden Nahrung.

Es hatte sich im Jahr 2025 bereits herausgestellt, dass Zoonosen die Hauptursache zur Verbreitung des Virus waren. Alle Märkte, auf denen Tiere geschlachtet und verkauft wurden, wurden geschlossen. Der Tierhandel wurde mit drakonischen Strafen belegt, in der Regel lebenslange Verbannung in eine Wüstensiedlung ohne Kontakt zur Außenwelt.

Dennoch gibt es einzelne Gruppen sogenannter Maskulinisten, die sich nach wie vor von Fleisch ernähren und im Untergrund leben. Sie sind schwer bewaffnet. Oft findet man die Skelette eines dieser Maskulinisten, die dem Virus erlegen waren. Um die Menschen vor den Maskulinisten zu schützen, darf niemand mehr freie Natur betreten. Unter freiem Himmel gibt es keine Zusammenkünfte, nicht einmal Spaziergänge sind gestattet.

Die Historikerin

2020 gab es noch Demonstrationen. Diese wurden in den Jahren 2022 und 2023 geradezu zu Massenbewegungen, doch auch dazu gab es ein Gegenmittel. Die Regierungen verfolgten ebenso wie die meisten Medien eine vor allem an dem Motto ‚Die Ordnung: Sicherheit und Gesundheit sind Menschenrecht‘ orientierte Politik. Unter den Demonstrant*innen gab es immer wieder Menschen, die der bisherigen rechts- oder linksextremen Szene angehörten, Menschen, die sich gegen jede Art von Impfungen und Medikamenten engagierten, radikale Religiöse, Esoteriker*innen und Impfgegner*innen. Es gelang relativ schnell, deren Teilnahme als so bedeutend und gesellschaftsschädlich darzustellen, dass es für jemanden, der an den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat glaubte, nicht mehr möglich war, sich einer solchen Demonstration anzuschließen.

Mit den verbleibenden Demonstrant*innen wurde die Polizei schnell fertig. Im Jahr 2025 wurden Gesundheitsbehörden, Polizei und Armee in mehreren Staaten zusammengelegt. Sie traten in medizinisch sicheren dunklen Uniformen auf. Sie waren in allen Straßen präsent und konnten bereits in einem sehr frühen Stadium Menschen davon abhalten, sich zu einem der für die Demonstrationen angekündigten Versammlungsorte zu begeben. Wer in der noch verbliebenen Presse wagte, etwas gegen diese Praxis einzuwenden, wurde verhaftet und in einen Ort verbracht, an dem alle anderen Menschen vor seinen destruktiven Ansichten geschützt waren. 2040 wurden alle unabhängigen Medien verboten, es gab nur noch einen Fernsehsender, der Nachrichten übermitteln durfte. Alle anderen beschränkten sich auf ein unterhaltendes Show-Programm.

Nichts sollte die neue Harmonie der Welt stören.

Aus dem Tagebuch eines Naturforschers im Jahr 2115

Die Landschaft war üppig grün. Blüten in allen erdenklichen Farben leuchten in jeder erdenklichen Höhe. Am Boden war es schwer, sich durchzuschlagen, und das musste man wörtlich verstehen. Die Luftfeuchtigkeit lag bei 95 %. In den Bäumen hatten sich Vögel angesiedelt, die vor etwa 100 Jahren noch am Rand eines kalten Meeres darauf warteten, den nächsten Fischschwarm zu jagen.“

Und so könnte es weitergehen:

Hier die versprochenen Prolegomena der Dystopie, die ich natürlich nicht alle erfunden habe, sondern auch aus mir geläufigen Werken, zum Teil auch aus der Wirklichkeit, entnommen und sozusagen coronifiziert habe. Expert*innen unter meinen Leser*innen werde die ein oder andere Reminiszenz erkennen.

  • Niemand verlässt seine Wohnung. Menschen brauchen eine behördliche Genehmigung, mit welchen Menschen sie sich Angesicht zu Angesicht, in ihrer oder in einer anderen Wohnung, treffen dürfen. Der Ausweis, der dies dokumentiert, ist immer mitzuführen, und wird mit allen anderen persönlichen Daten vernetzt.
  • Wer mit jemandem erwischt wurde, der nicht auf der Liste stand, wird in eine ferne Provinz gebracht. In dieser Provinz gibt es Lager, in denen alle von vornherein infiziert wurden, sodass sich nicht nur ihre Zahl verminderte, sondern auch auf immer gesichert war, dass diese Personen ihre Untat nicht wiederholten. Eine Rückkehr ist ausgeschlossen.
  • Die Kommunikation zwischen den Menschen findet ausschließlich über ein System statt, das auf dem ehemaligen Skype beruht, auf großen Plasmabildschirmen in THD (Triple High Density), die die Illusion persönlicher Begegnung ermöglichen.
  • Die Digitalisierung erlebt einen ungeheuren Aufschwung. Schon im Jahr 2023 gibt es selbst in Deutschland in allen Regionen besten und schnellen Internetempfang über das Netz G 8. Es gibt zentrale Rechner, die alle Informationen sammeln, zunächst auf nationaler Ebene, perspektivisch europäisch und international. Die Firma Huawei liefert Hard- und Software. Verträge zwischen der Volksrepublik China und anderen Staaten werden im Zeichen der digitalen Seidenstraße gefeiert.
  • Alle Menschen haben eine Identitätskarte, die als Gesundheitskarte, Pass und Personalausweis sowie Bezahlinstrument dient und jeden persönlichen Konsum, von Lebensmitteln bis zum Fernsehkonsum, dokumentiert. Diese ID-Karte enthält auch sämtliche Daten für bestehende Versicherungen. Wer seine Karte verliert, muss sich für eine Woche – so lange dauert leider immer noch die Wiederherstellung, der Reset – in eine dezentral angelegte Quarantäne begeben und erhält für diese Zeit komplettes Kontakt- und Konsumverbot. Grundnahrungsmittel werden gestellt.
  • Kleine Geschäfte sind verschwunden, auch Super- und Großmärkte. Die frei gewordenen Flächen wurden seit dem Jahr 2028 in Wohnraum umgewandelt. Alles ist digital erhältlich. Um Rücksendungen zu vermeiden, gibt es seit 2040 die Möglichkeit, über Holotechnik die Nutzung des Kaufobjekts zu simulieren. Für diese Simulationen wurde die Holotechnik, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts verstorbene Künstler*innen wieder auferstehen ließ, weiterentwickelt. Jede Wohnung hat einen Holoraum.
  • Da aber die Menschen gerne einem Vergnügen namens „Shoppen“ nachgehen, gibt es riesige Malls, in denen man durch Hunderte von Kilometern vor Geschäften flânieren oder sich auch in Cafés aufhalten kann, ohne jemals gefährdet zu werden. Durch große Leitungen wird in die Malls ein seit 2035 erprobter Immunisierungsstoff geblasen, der jede Infektion für die Zeit des Aufenthalts verhindert. Ebenso wird in Großraumbüros, Produktionsstätten, Schulen und Kindertageseinrichtungen verfahren.
  • Alle Menschen leben vegan. Im Jahr 2034 wurde weltweit jede tierische Nahrung verboten. Es hatte sich herausgestellt, dass Zoonosen die Hauptursache zur Verbreitung des Virus waren. Alle Märkte, auf denen Tiere geschlachtet und verkauft wurden, wurden geschlossen. Der Tierhandel wurde mit drakonischen Strafen belegt, in der Regel lebenslange Verbannung in eine Wüstensiedlung ohne Kontakt zur Außenwelt. Dennoch gibt es einzelne Gruppen sogenannter Maskulinisten, die sich nach wie vor von Fleisch ernähren und im Untergrund leben. Sie sind schwer bewaffnet. Oft findet man die Skelette eines dieser Maskulinisten, die dem Virus erlegen waren.
  • Jeder Haushalt erhält seit 2026 eine komplette Ausstattung mit allen digitalen Werkzeugen, die für einen Zeitraum von zwei Jahren staatlich bezuschusst wurde und anschließend zur Standardausrüstung jeder Wohnung gehört. Die Ausstattung ermöglicht, dass im Prinzip niemand mehr seine Wohnung verlassen muss.
  • Der Holoraum der Wohnungen ermöglicht auch Sport und Bewegung. Auf engem Raum ist es möglich, jede beliebige Sportart auszuüben und dabei auch mit anderen in ihrem Holoraum aktiven Sportler*innen zu konkurrieren.
  • Öffentlicher Nahverkehr ist seit 2060 überflüssig geworden. Stattdessen gibt es klimaschonende Taxis, die zwei bis acht Personen befördern. Die Taxis sind eine Art Minibus, der an den bis zum Fußboden reichenden Fenstern der Wohnungen andocken kann. Die Fenster öffnen sich automatisch durch Vorhalten der Identitätskarte, sodass die Fahrgäste ohne Berührung irgendeines Schalters oder einer Tür einsteigen können. Die Taxis vermeiden Reifenabrieb, der bisher ein Hauptgrund für die Ansammlung von Mikroplastik in den Ozeanen wahr, da sie fliegen. Taxis verkehren in sämtlichen Etagenhöhen. Es gibt eine Trennscheibe zum Schutz der Fahrer*in. Die Zugangsberechtigung wird über die ID-Karte kontrolliert.
  • Über die Taxis, die bis zu 400 km/h schnell fliegen können, werden sämtliche Distanzen auch innerhalb größerer Staaten und in Nachbarstaaten zurückgelegt. Für weitere Distanzen gibt es Jets an Flugzentren, die mit 2 Mach Geschwindigkeit verkehren. Auf jedem Kontinent gibt es seit 2120 Kontaktposten für Reisen auf andere Planeten, insbesondere den Mars sowie einige Monde des Jupiters. Es gibt insgesamt 42 Kontaktposten auf der Erde.
  • Slums, Favelas und andere Orte, in denen arme Menschen noch in den 2020er Jahren eng beieinander wohnen, gibt es nicht mehr. Seit 2034 gibt es die „Straßen der Harmonie“. Diese Orte werden abgesperrt. Niemand darf hinein, niemand darf hinaus. Lehrer*innen, Erzieher*innen müssen in diesen No-Go-Areas, die den schönen Namen „Straßen der Harmonie“ tragen, aus den Areas selbst kommen. Da es nicht genügend Qualifizierte gibt, werden die Standards heruntergesetzt.
  • Es reicht in den „Straßen der Harmonie“ aus, wenn sechs Klassen Grundschule absolviert werden, in denen die Grundrechenraten und grundlegende Schreib- und Lesekenntnisse unterrichtet werden. Fremdsprachen, höhere Mathematik und Naturwissenschaften gibt es nicht im Angebot, wohl aber hauswirtschaftliche Inhalte, auch Anleitungen zur Herstellung von Textilien und anderen Gebrauchsgegenständen. Aufstände wurden mehrfach, zuletzt im Jahr 2038 niedergeschlagen. Allerdings erinnern sich die Menschen in den „Straßen der Harmonie“ immer noch an einen der Führer eines dieser Aufstände, Gabriel Bell, dem nachgesagt wird, dass er eines Tages wiederkehre, um sie zu befreien.
  • Große Sportveranstaltungen gibt es in virtuellen Stadien. Bis 2054 wurden professionelle Sportler*innen kaserniert und durften mit niemandem außerhalb ihrer Kolleg*innen Kontakt pflegen. Die Teilnahme an diesen Veranstaltungen war nur über Großbildschirme in den Wohnungen oder in den Malls möglich. Nach Abschluss ihrer Sportkarriere durchliefen sie eine zweijährige Quarantäne, nach der sie in das bisherige Leben reintegriert wurden. Wer jedoch sich kritisch äußerte oder eine Krankheit, welcher Art auch immer, hatte, wurde in die „Straßen der Harmonie“ umgesiedelt.
  • 2054 war auch das Startdatum der Holotechnik für Großveranstaltungen. Dann war es möglich, dass die Sportarten auf einer fernen Station, seit 2120 in der Regel auf einem der Monde des Jupiter, durchgeführt wurden und die Zuschauer*innen in die Stadien der Erde nach dem Muster der Malls betreten durften, um die Wettkämpfe zu sehen. Sie hatten die Illusion, dass sie unmittelbare Zuschauer*innen waren.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkung: Erstveröffentlichung im Mai 2020.)