Das Leben rückwärts

Über Menschenwürde und Kinderrechte in der Pandemie

‚Nun, ich will dich gerne anstellen‘, sagte die Königin. ‚Zwei Groschen die Woche und anderntags Marmelade.‘ / Darüber musste Alice nun doch lachen, und sie sagte: ‚Ich will doch nicht, dass Ihr mich anstellt – und außerdem mag ich Marmelade nicht.‘ / ‚Es ist sehr gute Marmelade‘, sagte die Königin. ‚Nun, heute habe ich jedenfalls gar keine Lust darauf.‘ / ‚Heute bekämst du auch keine, selbst wenn du Lust hättest, sagte die Königin, ‚denn die Regel heißt: gestern Marmelade und morgen Marmelade – aber niemals heute Marmelade.‘ / Aber manchmal muss es dann auch ‚heute Marmelade‘ sein‘, wandte Alice ein. – ‚Das kann es gar nicht‘, sagte die Königin, ‚weil es nämlich heißt: anderntags Marmelade; und heute ist ja dieser Tag und kein anderer Tag, nicht wahr?‘“ / ‚Das verstehe ich nicht‘, sagte Alice. ‚Es ist schrecklich verwirrend‘. / ‚Das kommt davon, wenn man rückwärts in der Zeit lebt‘, sagte die Königin freundlich; ‚anfangs wird man davon leicht ein wenig schwindlig.‘“ (Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, zitiert nach der Übersetzung von Christian Enzensberger, Insel Verlag 1963)

Texte zur Pandemie leiden darunter, dass sie zur Zeit des Schreibens aktuell sind, zur Zeit der Lektüre jedoch überholt. Ich wünsche mir, dass es diesem Text so ergeht und dass alle düsteren Analysen und Prognosen hinfällig sind. Dann schriebe ich einen historisch interessanten Text, eine Momentaufnahme. Wir werden sehen, ob es so kommt. Bisher war dies mit vergleichbaren Texten jedoch leider nicht der Fall.

Lasset uns testen

Marie Schmidt variierte „Alice hinter den Spiegeln“ und nannte ihren Essay „Alice hinter den Masken“ (erschienen am 12. Mai 2020 in der Süddeutschen Zeitung). Wir erinnern uns: die erste „Welle“ der Pandemie flaute ab, von einer zweiten, dritten oder vierten „Welle“, von möglichen Mutanten, die mit Buchstaben des griechischen Alphabets bezeichnet werden sollten, wollte niemand etwas hören. Die Rückkehr zum gewohnten Alltag, zur „Normalität“ – das versprachen die meisten Politiker*innen. Nur einige Virolog*innen und Karl Lauterbach warnten. Mit der „Normalität“ ist es – wenn wir Marie Schmidt glauben wollen – wie mit Alices „Marmelade“: „Normalität war vor der Krise und wird nach der Krise sein, aber heute gibt es niemals Normalität.“ Und viele Kinder dürften den Eindruck gewinnen, sie lebten in einer Endlosschleife, „rückwärts in der Zeit“, eine Art Murmeltier-Gefühl, nur eines scheint gewiss, der nächste „Lockdown“.

Heute – im Spätsommer 2021 – wissen wir mehr als im Mai 2020. Es gab eine Fußballeuropameisterschaft mit Zuschauer*innen in den Stadien und beim Public Viewing, es gibt Urlaubsflüge in alle Welt – aber wie schaut es aus für Kinder und Jugendliche? Gilt für sie die UN-Kinderrechtskonvention? Der Vorrang des Kindeswohls vor allen anderen Anliegen? Zumindest verkünden viele Politiker*innen immer wieder, dass sie Schulen und Kindertageseinrichtungen als letzte schließen und als erste wieder öffnen wollten, „möglichst“, wie es der nach den Umfragen Ende Juni (noch) aussichtsreichste Kandidat auf das Bundeskanzleramt in seiner bewährt vorsichtigen Art verkündete.

Seit Anfang des Jahres 2021 verkünden die Landesregierungen einmütig für Schulen und Kita das Mantra: „Lasset uns testen“. Immerhin erinnert eines der Testformate ein wenig an Marmelade, der Lolly-Test. Es klingt ein wenig nach „Newspeak“, aber die Kinder, die Erzieher*innen, die Lehrer*innen, die Eltern, sie alle fügen sich, sie grummeln, aber es wird fleißig getestet.

Andererseits: Nichts Genaues weiß man nicht. Ob und wann Kinder unter 12 Jahren geimpft werden können? Ungewiss. Ob es normalen Schulbetrieb, Regelbetrieb in Kindertageseinrichtungen geben wird, und wenn ja, ab wann? Ebenso ungewiss. Long-COVID? Erstrecken sich Langzeitfolgen über einige Monate, über Jahre oder vielleicht auf Dauer? Ungeklärt. Und was ist mit all den Kollateralschäden des Lockdowns, der Maskenpflicht, des Abstandsgebots? All das, was der Bekämpfung der Pandemie dient, hat Nebenwirkungen, vor allem psychische, die sogar zur Hauptwirkung werden können. Über solche Folgewirkungen lesen wir zurzeit – im Sommer 2021 – fast täglich. Was ließe sich tun? Nichts Genaues weiß man nicht, teste sich wer kann.

Democracy First?

Vielleicht lohnt ein Blick ins Grundgesetz. Andreas Voßkuhle, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, sprach in der Frankfurter Paulskirche über dessen „Bildungsauftrag“ (nachlesbar in „Aus Politik und Zeitgeschichte“ vom 15. April 2019): „Ein Schlüssel zum status activus des Staatsbürgers ist Bildung. Bildung nicht im klassischen, die Ungebildeten ausschließenden Sinne, sondern Bildung verstanden als „Empowerment“ Das Grundgesetz will den kritischen und informierten, vor allem aber neugierigen Bürger.“

Das Schlüsselwort ist „Empowerment“. Der „Bildungsauftrag des Grundgesetzes“ ist Befähigung und Ermutigung zur Wahrnehmung eigener Verantwortung, zu Partizipation und Engagement in der Demokratie, unabhängig davon, ob in einer formalen Bildungsinstitution, auf dem informellen Weg über Medien, welcher Art auch immer, oder dem nicht-formalen Weg außerschulischer Bildung, in Jugend- und Erwachsenenbildung, in Volkshochschulen, Familienbildungsstätten oder Einrichtungen der offenen Jugendarbeit. „Die Mütter und Väter des Grundgesetzes vermieden es, der jungen Bundesrepublik einen paternalistischen Erziehungsauftrag zu verordnen; der Staat sollte nicht besserwisserisch belehren, von oben herab elitär bevormunden.“

Die Kultusministerkonferenz (KMK) beschloss 2018 Empfehlungen zur Demokratie und zu den Menschenrechten. Diese geben der „Partizipation“ und – auch wenn der Begriff selbst nicht verwendet wird – dem „Empowerment“ einen großen Stellenwert. Historische und politische Bildung sollen einander kongenial ergänzen. Der Beutelsbacher Konsens fordert mitnichten Neutralität, sondern klare Kante. KMK 2018: „Werden in der Schule kontroverse Thematiken behandelt, haben Lehrkräfte die anspruchsvolle Aufgabe, den Unterrichtsgegenstand multiperspektivisch zu beleuchten, zu moderieren, bei Bedarf gegenzusteuern, sowie Grenzen aufzuzeigen, wenn diese überschritten werden. Voraussetzung für die Umsetzung des Beutelsbacher Konsenses ist somit eine Grundrechtsklarheit und ein entsprechendes Selbstbewusstsein der Lehrkräfte.“

Die KMK ist mit ihren Empfehlungen fortschrittlicher als ihr allgemein nachgesagt. Aber sie ist auch verantwortlich für die schon lange wirkende schleichende Entpolitisierung von Bildungspolitik, nicht zuletzt eine Folge der sogenannten „empirischen Wende“ nach Erscheinen der ersten PISA-Studie. Was Bildung leistet, dokumentieren PISA, VERA, IGLU? Doch was wissen wir über Demokratie, „Empowerment“? Die Chance zur Beteiligung an einer neuen Runde der International Civic and Citizen Educationship Study (ICCS) hat die KMK leider verpasst.

Verfassungsauftrag ist nicht die Vermittlung sogenannter Kulturtechniken, so wichtig das sein mag. Das Grundgesetz schreibt nicht vor, wie viele Fremdsprachen jemand beherrschen, über welche naturwissenschaftlichen Kenntnisse jemand verfügen oder wie sich das Gymnasium von anderen Schulformen unterscheiden solle. Verfassungsauftrag ist Persönlichkeitsbildung. Bildung muss endlich wieder politisch verstanden werden. Was beschloss die KMK? Eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie musste und muss immer wieder erlernt, erkämpft, gelebt und verteidigt werden.“

Pandemische Bildungspolitik

Nur schade, dass die 16 Bildungsminister*innen der 16 Länder mehr oder weniger im Einklang die von ihnen beschlossenen Grundsätze ignorieren. Es war nicht wichtig, ob sich Kinder und Jugendliche in der Schule wohl fühlten, ob sie gerne lernten und in der Schule gemeinsam aufwachsen konnten, Hauptsache, es wurde geprüft. Und so trafen sich junge Menschen in Messehallen, um an weit voneinander entfernten Tischen das, was sie sich – oft nur mit Hilfe der Eltern und boomender Online-Nachhilfeinstitute – selbst haben beibringen müssen, prüfungsordnungsgemäß abzuliefern. Wie gesagt: „Lasset uns testen“.

In den Jugendministerien sah es nicht anders aus. Es wurde in einem Bundesland als großer Erfolg verkauft, dass alle Kinder bis zur Sommerpause 2020 zwei Tage – nicht zwei Tage in der Woche, sondern zwei Tage in sechs Wochen – ihre Kindertageseinrichtung besuchen durften und dass den Eltern erlaubt wurde, die Kinderbetreuung gemeinsam mit Nachbar*innen selbst zu organisieren. Der Besuch der KiTa wurde für viele so etwas wie ein Zoobesuch. Zur Erinnerung: der Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung für Kinder über 3 Jahren wurde 1996 eingeführt, der Rechtsanspruch für Kinder unter 3 Jahren 2013, der Rechtsanspruch für Grundschulkinder ist für das Jahr 2026 geplant.

Manche Politiker*innen sagten sehr deutlich, dass es bei der Sicherung des Präsenzunterrichts in den Schulen darum gehe, dass Eltern ungestört von betreuungs- und beschulungsbedürftigen Kindern ihren Beruf ausüben könnten, im Betrieb, im sogenannten Home-Office. Hauptsache, die Wirtschaft läuft, einschließlich der Rüstungsbetriebe, nach deren Berechtigung im Vergleich zu Schulen ein Journalist im Herbst 2020 den Pressesprecher der Bundesregierung fragte. Der wich aus, aber das ist letztlich Inhalt seiner Jobbeschreibung.

Karl Lauterbach behielt recht: „Als ich zu Beginn der Pandemie davor gewarnt habe, dass wir anderthalb Jahre keinen regulären Unterricht werden haben können, bin ich ausgelacht worden. Monatelang habe ich darauf gedrängt, in Luftfilter, Digitalunterricht, zusätzliches Lehrpersonal und gute Konzepte für Wechselunterricht zu investieren. So etwas hätte aber eben Geld gekostet. Das war es der Gesellschaft offenbar einfach nicht wert.“ (Karl Lauterbach, zitiert nach: Ulrich Bahnsen: Zu Unrecht verdächtigt, in: Die ZEIT 2.6.2021)

Karl Lauterbach wird oft mit Kassandra verglichen. Ich vergleiche ihn lieber mit dem von Jeff Goldblum verkörperten Chaostheoretiker Dr. Ian Malcom in „Jurassic Parc“, der vor sich hin seufzt: „I hate being right all the time.“ Der wirtschaftliche Erfolg eines Themenparks ist eben wichtiger, und mit den spektakulären Nachzüchtungen finden sich Kriminelle ein, die die Echsen – so im fünften Film – als Waffe einsetzen möchten und sie daher – je gefährlicher, desto teurer – an diverse Warlords dieser Welt versteigern. Das Ergebnis: am Ende des fünften Films sind die Saurier, auch die gefährlichen, frei, denn sie haben ja auch ein Recht auf Leben, befindet ein junges Mädchen, das wie die Saurier auf dem Wege des Klonens auf diese Welt gekommen ist. Der sechste Film, der für 2022 angekündigt ist, wird daran anknüpfen. Meine Frage: was geschieht nach der Delta-Variante? Das griechische Alphabet hat viele Buchstaben.

Kollateralschäden

Die Kollateralschäden für junge Menschen sind erheblich. Viele liegen verletzt am Rande der Strecke, die der Drache „Pandemie“ bereits zurückgelegt hat. Diese sich in Deutschland abzeichnenden Kollateralschäden sind noch die harmlose Variante der sozialen Folgen der Pandemie. Wir sind auf dem Weg zu einem Bildungsproletariat, weltweit, auch in Deutschland, in Europa. Weltweit haben bereits etwa 33 Millionen Kinder, Jugendliche, Studierende ihren Bildungsweg abgebrochen. Armut steigt, Reichtum wächst, so Ergebnisse der von OXFAM am 25. Januar 2021 vorgestellten Studie „Das Ungleichheitsvirus“.

Inzwischen gibt es weitere Studien, denen wir entnehmen, dass jedes vierte Kind unter Depressionen leidet. Die Akutstationen der Psychiatrie sind überfüllt, Wartezeiten für eine psychotherapeutische Behandlung werden immer länger, all dies ein Ergebnis der Politik der Krankenkassen. Jahrzehntelang wurde die Zahl der Kassensitze für Psychotherapeut*innen knappgehalten und es sieht nicht so aus, als wären Politik und Krankenkassen geneigt, dies zu ändern. Offenbar kennen sie den umfassenden Gesundheitsbegriff der WHO nicht, der physische und psychische Gesundheit benennt.

Ich wage nicht vorherzusagen, ob wir tatsächlich die von manchen beschworene „Generation Corona“ – so auch der Titel eines 2021 bei Beltz / Juventa erschienen Sammelbandes, herausgegeben von Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann) bekommen, aber ich wage zu sagen, dass wir dringend eine Bestandsaufnahme brauchen, die deutlich über Infektionszahlen und Impfstofflieferungen hinausgeht. Wir müssen über den Anstieg von Hartz-IV-Empfänger*innen unter den Kulturschaffenden und den Soloselbstständigen sprechen, über Insolvenzen in der Gastronomie, von Textilgeschäften. Und „Education First“! Es geht um verhinderte Bildungschancen. Ich benutze bewusst den Begriff „verhindert“ und nicht den in der Regel verwendeten Begriff „verpasst“. Die Kinder, die Jugendlichen, deren Eltern trifft keine Schuld. Solche Schuldzuweisungen, wie wir sie aus Vergangenheit und Gegenwart kennen, sind nicht mehr und nicht weniger als das Eingeständnis eigener Inkompetenz.

Erstaunlich mag sein, dass zunächst nur vier Dinge in der Bildungspolitik eine Rolle spielen:

  • Die Frage nach einem flächendeckenden Einsatz von Luftfiltern, der vor allem von Eltern gefordert wird: ob Luftfilter helfen, ist umstritten. Immerhin machen sie Lärm.
  • Die digitale Ausstattung der Schulen: die Frage ist berechtigt, warum die KMK zwar 2016 eine Strategie mit dem anspruchsvollen Titel „Bildung in der digitalen Welt“ beschlossen hat, die Länder seitdem jedoch kaum an deren Umsetzung gearbeitet haben.
  • Die Bürokratie: die Bundeskanzlerin machte am 26. Januar 2021 in Davos die Bürokratie für alles, was im Jahr 1 der Pandemie nicht geschah, verantwortlich. Es ist allerdings schon bemerkenswert, wenn Politiker*innen sich über eine Bürokratie beklagen, die sie geschaffen haben. Bürokratie bietet viele Instrumente, mit denen Probleme angegangen werden können, aber ohne Vorgaben und Spielräume – beide Begriffe gehören zusammen – geht es nicht. Bürokratie baut niemand ab, indem Personal abgebaut wird, sondern indem Vorgaben und Spielräume klar definiert werden. Auskömmliche Personalausstattung kommt hinzu, doch fehlt diese in vielen Kommunen.
  • Der vierte Punkt klingt pädagogisch, ist es aber nicht: die sogenannten „Aufholprogramme“, die Bund und Länder inzwischen kurz vor der Sommerpause 2021 auf den Weg brachten, betreffen fast ausschließlich sogenannte Kernfächer, Deutsch, Mathematik, Fremdsprache. Alles andere ist wohl Nebensache. Abgesehen davon: es geht nur um die Klassen, in denen Prüfungen anstehen.

Der Schlaf der Ahnungslosen

Das Jahr 2020 wurde verschlafen, vorsorgende Politik Fehlanzeige. Und so gibt es immer wieder denkwürdige Nachrichten, beispielsweise die, dass drei Kinder auf dem Sofa sitzen und gemeinsam Papas Smartphone nutzen, weil es kein anderes Gerät gibt, dass ein Kind in der Woche eine digitale Unterrichtsstunde hatte (die Sportstunde?). Das sind keine polemisch genutzten Einzelfälle, das sind reale Begebenheiten, die sich endlos fortsetzen ließen. Der eigentliche Skandal liegt jedoch darin, dass Schulen, die in der Lage sind, ein differenziertes Hybridkonzept durchzuführen, von der Schulaufsicht daran gehindert wurden.

Schule ist offenbar in den Köpfen mancher Politiker*innen zu einer Qualifikationsmaschine verkommen, Kindertageseinrichtungen und außerunterrichtlichen Ganztagsangebote zu einer bloßen Betreuungsmaschine. Aber vielleicht ist das nur ein Trend, den es ohnehin schon gab und den die Pandemie nun sichtbar macht. Hannes Soltau war nicht der einzige, der „Kreativität, Neugierde und Fantasie“ vermisste. Sein Fazit in einem am 10. Januar 2021 im Tagesspiegel veröffentlichten Artikel: „In effizienz-, kompetenz- und outputorientierten Schulen ächzen Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren unter einem enormen Druck durch Evaluationsmethoden, Digitalisierungsvorhaben, Vergleichbarkeitswahn und latenter PISA-Fixiertheit.“

Vielleicht hätten die für Bildung verantwortlichen Minister*innen auf einen ihrer großen Vorgänger hören sollen, der am 18. Juni seinen 90. Geburtstag feierte, den ehemaligen bayerischen Kultus- und Wissenschaftsminister Hans Maier: „Ich habe da immer die Ursprungsbedeutung von ‚schola‘ im Kopf behalten: Muße. Die große Expansion der Bildungszugänge und -abschlüsse hat neben viel Gutem auch Negatives mit sich gebracht: Man hat die Schule fast nur noch als Hinführung zu einem größeren Lebenszeiteinkommen betrachtet. Aber das ist falsch: Schule muss auch in sich einen Wert haben.“

Eine vorläufige Bestandsaufnahme

  • Wir erleben – zu Beginn des Schuljahres 2021/2022 – Kinder, die in der Kindertagesstätte zwei Jahre lang weder kontinuierlich sprachlich gefördert wurden noch grundlegende Regeln des alltäglichen Lebens erlernten. Zu diesen Alltäglichkeiten gehört nicht nur regelmäßige Hygiene (Stichwort Händewaschen), sondern auch vieles andere, von der Verkehrserziehung bis zu ordentlichen Tischsitten, die ein beträchtlicher Anteil von Kindern nicht mehr zu Hause lernt, dazu gehört friedlicher und konstruktiver Streit, auch die Erfahrung einer Streitschlichtung.
  • Wir erleben Kinder, die zwei Jahre lang weder flüssig lesen noch schreiben gelernt haben. Vor allem diejenigen, die dringend Förderung in der Schule bräuchten, haben den Anschluss verloren und werden ihn wahrscheinlich nie wiedererlangen. Kinder, die nicht genug Deutsch haben lernen können, um dem Unterricht folgen zu können, haben in den beiden Jahren Vieles wieder verlernt. Gelegenheit, das Gelernte zu erproben, hatten sie nicht.
  • Es gibt Kinder und Jugendliche, die 20 bis 30 Kilo zugenommen haben, weil sie sich kaum bewegt und dank fehlender Verpflegung in der Schule fehlernährt haben. Abgesehen davon bieten das gemeinsame Mittagessen, vielleicht auch das gemeinsame Frühstück, sowie die gemeinsamen Aktivitäten im unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Schulsport Gelegenheit zur Entwicklung grundlegender sozialer Fertigkeiten und Verhaltensmuster, die in der Einsamkeit des sogenannten „Homeschooling“ nicht entwickelt und nicht gepflegt werden können.
  • Der rudimentäre Sportunterricht, der, vor allem in den Grundschulen, ohnehin schon durch viele fachfremde Lehrkräfte leidet, lässt sich nicht per Videokonferenz mit Yoga-Matte kompensieren. Bewegung, Spiel und Sport im Ganztag, Schwimmunterricht fielen aus, Bäder und Sportanlagen blieben gesperrt. Die Zahl der Kinder, die mit Eintritt in die weiterführende Schule nicht sicher schwimmen gelernt haben, dürfte sich deutlich erhöht haben. Die eine Stunde Bewegung, die jeder Mensch nach den Erkenntnissen der Sport- und Gesundheitswissenschaft täglich haben sollte? Undenkbar.
  • Das Klassenorchester, der Besuch des Jugendtheaters, einer Gedenkstätte, der Weg in die Natur, das Praktikum im Betrieb, im Krankenhaus oder Altenheim – all dies fand nicht statt und so verschwindet ein wesentlicher Teil von Schule. Schule als Lebensraum scheint der Vergangenheit anzugehören. Ganztagsangebote fanden nur sporadisch statt, sodass wir uns von dem Ziel einer kohärenten Ganztagsbildung weit entfernt haben.
  • Wenn ich berichte, das Abholen eines Zeugnisses würde zum Wandertag erklärt, könnte der Eindruck entstehen, ich verfasse eine Satire. Ist es nicht. Wandertage, Ausflüge, Klassenfahrten gehören zum Bildungsangebot jeder guten Schule, sollten sie zumindest. Es müssen ja nicht gleich Skifreizeit oder Klassenfahrt in eine europäische Hauptstadt sein, in der Umgebung jeder Schule gibt es viel zu entdecken, doch nicht einmal das haben Kinder und Jugendliche kennenlernen dürfen. Nur am Rande: es gab schon immer in Hamburg-Wilhelmsburg oder in Köln-Chorweiler Kinder, die nicht wussten, dass es in ihrer Stadt einen Zoo gibt.
  • Es gibt Kinder, die ihre Lehrer*innen kaum, einige die sie nie gesehen haben, sie nicht einmal mehr mit Namen kennen, aber sämtliche Figuren ihres Lieblingscomputerspiels voneinander unterscheiden können. Ein gutes Gedächtnis haben diese Kinder – das wäre doch ein Potenzial – aber wie holen sie auf, was sie nicht haben lernen können? Wie gewinnen sie Vertrauen zu Lehrer*innen, die sich im sogenannten „Lockdown“ nicht um sie gekümmert haben. Boris Hermann schreib darüber in einem Text mit dem sarkastischen Titel: „Große Pause“.
  • Schule ist für die Schüler*innen auch ein Diskursraum, ein Reflexionsraum, in dem sie über Dinge nachdenken und diskutieren können, von denen sie zu Hause nie erführen und die im Alltag vielleicht keine so große Rolle spielen. Dieser Diskursraum ist für die Schüler*innen weitgehend verschwunden. Das gilt nicht nur für besonders begabte Schüler*innen, sondern für alle.
  • Last not least: in Kindertageseinrichtungen und Ganztagsschulen schwindet jeder Bildungsanspruch. Es bleibt bei Betreuung, korrekt formuliert im Jargon der Ministerien „Notbetreuung“, zu der nur Zugang hat, wer in für „systemrelevant“ erachteten Berufen tätig ist. In Berlin gibt es immerhin eine 28seitige Liste, wer dazugehört. Nur so viel: Künstler*innen und Kulturschaffende gehören nicht dazu.

Die Unsichtbaren

Die MaLisa-Stiftung veröffentlichte im Mai 2020 Ergebnisse der Studie „Wer wird gefragt? Geschlechterverteilung in der Corona-Berichterstattung“. Auftragnehmerinnen war das Institut für Medienforschung der Universität Rostock. Die Autorinnen haben 174 abendliche TV-Informationssendungen der zweiten Aprilhälfte 2020 in ARD, ZDF, RTL und Sat 1 analysiert. Ein Daten-Forscher hat für denselben Zeitraum insgesamt 79.807 Artikel mit Corona-Bezug in den Online-Ausgaben von 13 Printmedien analysiert. In den TV-Formaten war nur eine von fünf Expert*innen weiblich (22%). Die Ergebnisse: In der Online-Berichterstattung wurden Frauen nur zu rund 7 Prozent als Expertinnen erwähnt. Als Mediziner*innen kamen vor allem Männer zu Wort, obwohl die Hälfte aller Ärzt*innen in Deutschland weiblich ist. Selbst von den im TV befragten Ärzt*innen ohne Leitungsfunktion war nur eine von fünf weiblich.

Jutta Allmendinger hat schon im Mai 2020 über „Retraditionalisierung“ gesprochen. Sie wies darauf hin, dass Frauen ihre Arbeitszeit reduzierten, viele ihren Beruf bereits aufgegeben haben, damit sie die Betreuung und Beschulung ihrer Kinder und mitunter auch ihrer Eltern überhaupt leisten konnten: „Retraditionalisierung ist daher ein fast noch verharmlosendes Wort. Es ist zu schmusig, zu nett. Es geht um den Verlust der Würde von Frauen, von Respekt, von Rechten.“ Und die Rechte der Kinder?

Es häufen sich die Berichte über Benachteiligungen von Kindern aus Familien, die nicht über die Ressourcen verfügen, das sogenannte „Home-Schooling“ zu praktizieren, in denen die erforderlichen Geräte nicht bereitstehen, über junge Menschen, die keinen Ausbildungsplatz mehr finden, auch nicht über die Finanzmittel verfügen, um sich ein Zimmer an einem anderen Ort, beispielsweise in einer deutschen Großstadt leisten zu können. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit dokumentierte solche Entwicklungen in ihrem Monitor Jugendarmut 2020.

Kai von Klitzing schreibt in dem vom Bielefelder transcript-Verlag 2020 herausgegebenen Sammelband „Jenseits von Corona“ über „Kindheit in Zeiten von Corona“. Er beginnt mit zwei Szenen aus unterschiedlichen Milieus. Die erste Szene endet mit dem Satz: „Trotz allen (sic!) Luxus hat Anna die Abgeschiedenheit im von den Eltern bereitgestellten Familienluxus als Gefängnis erlebt.“ Die zweite Szene: „Seine Sprache hat sich verschlechtert, und er ist schwer zu verstehen. Von den in der ersten Schulklasse erworbenen lexikalischen Fähigkeiten ist nichts mehr übriggeblieben.“

Kai von Klitzing fragt mit Recht nach der Umsetzung der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen vom November 1989, die verlangt, dass „das Wohl des Kindes (…) vorrangig zu berücksichtigen ist.“ Sein Fazit: „Insbesondere junge Kinder trugen und tragen die höchste Last im Rahmen der gesellschaftlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. (…) Die Einsamkeit, der viele Menschen unterworfen sind, stellt ein wesentliches Risiko für frühe Eltern-Kind-Beziehungen dar. (…) Die Situation von Kindern in westlichen industrialisierten Ländern mag noch erträglich sein im Vergleich zur Situation von Kleinkindern und Eltern aus Regionen der Welt, in welchen Armut, Hunger, Krieg und Migration vorherrschen.“ Zu ähnlichen Ergebnissen kommen die JuCo und die KiCo-Studien der Universitäten Hildesheim, Frankfurt am Main und Bielefeld, die im Forschungsverbund „Kindheit – Jugend – Familie in der Corona-Zeit“ entstanden.

Eine weitere Schwachstelle hat die Fachstelle für internationale Jugendarbeit mit einer Befragung unter Einrichtungen der Internationalen Jugendarbeit dokumentiert. Jugendreisen, Freiwilligendienste und auf einzelne Menschen bezogene sogenannte Individualmaßnahmen sind durch die Corona-Krise hochgradig bedroht. Dies kann dazu führen, dass Kinder und Jugendliche keine Möglichkeiten mehr finden, Altersgefährt*innen aus anderen Ländern, Orte des Gedenkens oder des Engagements kennenzulernen oder sich selbst zu engagieren. Wer eine besondere individuelle Unterstützung braucht, ist voraussichtlich auf sich allein gestellt, auch weil das zuständige Personal entlassen werden musste. Absehbar ist eine schleichende Nationalisierung und Regionalisierung des Blicks junger Menschen auf die zukünftige Entwicklung Europas und der Welt. Die konkrete Begegnung von Mensch zu Mensch lässt sich eben nicht digitalisieren.

Menschenwürde im Container

Physische Distanz bringt psychische Distanz mit sich. Elisabeth von Thadden veröffentlichte ihr Buch „Die berührungslose Gesellschaft“ (München, C.H. Beck, 2018) vor der Pandemie. In Texten zur Pandemie finden wir Begriffe wie „Kasernierung“ und „Verschlusssache“, so bei Frank Schulz-Nieswandt in dem 2020 vom Bielefelder transcript-Verlag herausgegebenen Sammelband „Die Corona-Gesellschaft“ in Bezug auf ältere Menschen. Kindern und Jugendlichen erging es nicht besser, aber dafür mussten sich vor allem Jugendliche immer wieder anhören, sie handelten unverantwortlich, wenn sie sich dann einmal doch zu einer Party verabredeten. Fußballfans mussten sich das während der Europameisterschaft nicht anhören.

Als Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen, in seiner bekannt provokanten Art darauf verwies, dass Menschen geschützt würden, die ohnehin wenige Monate später gestorben wären, gab es – angesichts seiner Formulierungen auch mit Recht – einen gewaltigen „Shitstorm“. Als Wolfgang Schäuble etwa zur selben Zeit darüber sprach, dass das Leben nicht der höchste Wert wäre, erging es ihm nicht besser. Kaum jemand sprach in dieser Debatte darüber, dass Boris Palmer in Tübingen dafür sorgte, dass Menschen über 60 zum Preis einer Busfahrkarte mit dem Taxi fahren durften, damit sie vor einer Ansteckung in einem öffentlichen Verkehrsmittel geschützt würden, Mitarbeiter*innen der Altenpflege regelmäßig testen ließ und das Gesundheitsamt aus anderen Behörden systematisch verstärkte, all dies erfuhren außerhalb Tübingens nur diejenigen, die seinen am 12. August 2020 in der ZEIT erschienenen Artikel lasen.

Wer Boris Palmer und Wolfgang Schäuble in gelassener Stimmung zugehört hätte, wäre zu einem anderen Ergebnis gekommen als die lautstarken Kritiker*innen. Beide setzten zwei Werte miteinander in Beziehung. Der Blick in das Grundgesetz lohnt sich immer, in Artikel 1, Absatz 1 lesen wir: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Artikel 2 Absatz 2 lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“ Es geht eben nicht nur um das physische Überleben, sondern auch um ein Leben in Würde. Eine Hierarchie der Grundrechte gibt es nicht. Nur am Rande: das entspricht dem Gesundheitsbegriff der WHO.

Und damit sind wir wieder bei Andreas Voßkuhle. Warum werden Kinder und Jugendliche nicht gefragt, wenn es darum geht, wie sie lernen möchten, auch in schwierigen Bedingungen wie sie eine Pandemie nun einmal mit sich bringt? Warum sprechen wir nur über die Ansteckungsgefahr durch das Virus, nicht aber über die psychischen und letztlich auch physisch bemerkbaren Kollateralschäden? Warum fehlt uns die Fantasie, von der Loris Malaguzzi, der Vater der Reggio-Pädagogik sprach: „Nur wenn Gefühl und Fantasie erwachen, blüht die Intelligenz.“

Aber vielleicht bietet die Pandemie doch eine Chance. Es wäre die Chance für eine Debatte über Schule ohne lästige und nervige Debatten über Schulstrukturen. Im Vordergrund sollten Inhalte stehen, nicht nur Deutsch, Mathematik, Englisch, auch Demokratie und historisch-politische Bildung, Bildung für nachhaltige Entwicklung, Mehrsprachigkeit, kulturelle Vielfalt und soziale Gerechtigkeit, Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Sexismus – all dies sind die Themen, die unsere Gesellschaft im Kern betreffen, all dies ist Thema vieler Fächer, sollte es zumindest sein.

Die Empfehlungen der KMK bieten ausgezeichnete Grundlagen, hier hat die KMK Gutes aufgeschrieben. Es wäre schön, wenn Bund und Länder Taten folgen ließen. Es gäbe eine große Chance für eine Bildungsreform, die den Namen verdient. Wenn wir diese Chance jetzt verpassen, wird es böse enden. Es ist im Grunde wie mit der Klimakrise. Das Verfassungsgericht hat gesprochen: Kinderrechte zuerst, nicht nur damit es täglich Marmelade gibt! Aber vielleicht alles nur Konjunktive, denn in jeder Welle grüßt das Murmeltier und wir alle leben „rückwärts“.

Norbert Reichel, Bonn

(Anmerkungen: Der Essay wurde im Juli und August 2021 geschrieben und im Dezember 2021 auch als Beitrag zum Jahrbuch des Instituts für soziale Arbeit e.V. vom Waxmann-Verlag veröffentlicht, das Sie im Buchhandel oder über die Internetseite des Verlages erhalten können. Erstveröffentlichung im Demokratischen Salon im September 2021. Für alle zitierten Internetseiten gilt: Zugriff am 28. Juli 2021.)